46
Beat
Sobald ich die Tür meines Zimmers hinter mir schließe, lasse ich mich mit in den Händen vergrabenem Gesicht zu Boden sinken. Ich bin schier überwältigt von diesem Tag, im Positiven, sowie leider auch im Negativen.
Für einen Moment spiele ich mit dem Gedanken an Georgines Tür zu klopfen um nachzusehen, ob sie gerade da ist. Doch so sehr ich sie auch lieb habe, muss ich gerade einfach ein wenig allein sein, um die Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden zu verarbeiten – denn es ist eine Menge passiert.
Ich erinnere mich an den riesigen Schreck den ich gekriegt habe, als es tatsächlich danach aussah, dass ich Lane nicht mehr sehen würde. Er klang so unheimlich ernst als er sagte, dass er es für das Beste halten würde, wenn wir beide keinen Kontakt mehr hätten. Dass er mir nicht sagen wollte, warum das alles, hat leider eine Menge Spielraum für Spekulationen offen gelassen. Ich bin mir immer noch nicht ganz sicher, was er damit bezwecken wollte, weiß jetzt wenigstens aber, dass es nicht daran lag, dass er mich nicht mehr mag – dass ich nichts falsch gemacht habe.
Und dann war da noch dieser Kuss.
Wenn ich gewusst hätte, wie absolut berauschend, wie richtig es sich anfühlen würde, Lane Rye zu küssen, hätte ich viel eher einen Weg gefunden, das zu tun. Seine Lippen haben nach einem Hauch Vanille Cola und Zukunft geschmeckt – perfekt also.
Dann kam Lillian und... hat den Moment zerstört? Nein, das hat sie nicht. Dazu war sie definitiv nicht in der Lage. Wenn Lane nicht bei mir gewesen wäre und ich in dem Moment nicht gewusst hätte, dass ich ihn gewonnen habe, hätte Lillians Verlust sehr viel mehr wehgetan. Ihr Verrat schmerzt trotzdem noch, was das betrifft habe ich nicht vor, mir etwas vorzumachen. Doch wenn ich so darüber nachdenke... es ist gar nicht sie, die ich verloren habe. Es ist viel mehr das Bild, das ich von ihr hatte, welches sich als falsch herausgestellt hat und ich doch so ins Herz geschlossen habe. Das ist es, was trotz allem irgendwie schmerzt. Auch, wenn ich realisiert habe, dass ich sie nicht auf die gleiche Weise mag wie Lane und mich wohl auf irgendeine Art die ganze Zeit über versucht habe, mit ihr von ihm abzulenken, ist es nicht leicht. Es fühlt sich an, als hätte ich eine gute Freundin verloren.
Und dann war da natürlich noch die Sache, die wir in der Bibliothek gehört haben. Ich muss ehrlich sagen, dass es mir noch immer reichlich surreal vorkommt, was passiert ist. Wenn ich das alles aus der Distanz betrachte, erinnert es mich an den Plottwist in einem Film – jedenfalls nichts, was in der Realität passiert. Doch scheinbar hat jede Fiktion eine gewisse Grundlage...
Es klopft an der Tür. Kurz spiele ich mit dem Gedanken so zu tun, als wäre ich nicht da. Doch dann kommt mir in den Sinn, dass Georgine sicherlich mitbekommen haben muss, dass ich in mein Zimmer gegangen wäre und ich will sie nicht vor den Kopf stoßen. Also rappele ich mich lautlos seufzend auf und drücke apathisch die Klinke runter.
Als jedoch eine Gestalt vor mir steht, die um einiges größer als Georgine ist, hebe ich den Blick. Meine Augen treffen auf die grünbraunen von Lane und ich erwache ein wenig aus meiner Starre. »Lang nicht gesehen«, grinst er und ich kann nicht umhin zu bemerken, dass mir dieser neue Aspekt von ihm gefällt und er tatsächlich hin und wieder sarkastische Bemerkungen vom Stapel lässt. Als wir uns kennengelernt haben, war das noch nicht wirklich denkbar.
»Äh, hi«, sage ich und lache kurz nervös auf. Innerlich verpasse ich mir eine schallende Ohrfeige, da das wiederum ein neuer Aspekt meiner Persönlichkeit ist, der mir nicht gefällt und für den ich allein die Tatsache verantwortlich mache, dass Lane mir den verdammten Kopf verdreht hat. Aber sei's drum – das gehört wohl irgendwie dazu, wenn man jemanden... naja, mag. Da wird man eben ein bisschen zum Trottel und das ist wohl okay.
»Sorry, dass ich jetzt einfach so hier aufschlage, aber...« Seine Stimme verliert sich und er kratzt sich am Hinterkopf, als müsste er überlegen, wie er jetzt fortfährt. Mir gefällt, dass er offensichtlich auch ein bisschen zum Trottel wird, wenn er vor mir steht.
Als seine Augen meine wieder treffen, röten sich seine Wangen prompt und sofort passiert auch das gleiche in meinem Gesicht. Scheint, als wären wir beide Trottel.
»Also, ich wollte gerade zu meinen Eltern fahren... aber bevor ich zur Landstraße abgebogen bin, ist mir in den Sinn gekommen, dass... keine Ahnung. Hat sich einfach nicht richtig angefühlt, ohne dich zu fahren. Willst du... naja, mich begleiten?«
Das habe ich nicht kommen sehen. Etwas verdattert starre ich ihn an, was Lane jedoch unsicher macht. »Ich will nicht zu aufdringlich–«
»Nein! Ähm, ich meine ja, ich würde sehr gern mitkommen«, bringe ich hervor und nicke einmal knapp. Lanes Mund steht für eine Sekunde offen, dann zieht er überrascht die Brauen hoch. »Ich war mir fast sicher, du würdest Nein sagen.«
»Echt, warum?«
Er zuckt die Schultern. »Keine Ahnung, ich dachte mir, dass du vielleicht Zeit für dich brauchst.«
»Du hast nicht ganz unrecht, das dachte ich bis vor zwei Minuten ebenfalls. Aber jetzt wo du so vor mir stehst, fühlt es sich irgendwie richtig an, bei dir zu sein.« Um die Verlegenheit zu überspielen, die das Aussprechen dieser Tatsache in mir auslöst, schüttle ich mich gespielt angeekelt und mache ein Kotzgeräusch. »Ih, das war kitschig.«
Lane legt grinsend den Kopf schief. »Ich glaube, du und Drew werdet euch ganz wunderbar verstehen.«
...
Während der Fahrt reden wir kaum. Das bedeutet allerdings nicht, dass wir still sind, denn wir singen zu den Songs im Radio, die wir kennen. Dabei stelle ich fest, dass Lane eine erstaunlich angenehme Singstimme hat, was man von mir nicht unbedingt behaupten kann. Doch er beschwert sich nicht, im Gegenteil: Ich habe fast das Gefühl, dass es ihm gefällt, mit mir gemeinsam ›Eye Of The Tiger‹ zu grölen.
In dieser knappen Dreiviertelstunde im Auto fühlt es sich fast so an, als wären all diese verrückten Sachen nie passiert und wir beide nur ein stinknormales Paar auf einem kleinen Roadtrip. Als er in der mir bekannten Einfahrt vor seinem Elternhaus geparkt hat, schnallen wir uns noch nicht sofort ab. Die plötzliche Stille, die die Abwesenheit des Radiolärms hervorruft, ist auf den ersten Moment fast schon dröhnend.
»Wissen deine Eltern, dass ich hier bin?«, frage ich zaghaft. Lane lacht kurz auf. »Sie wissen nicht mal, dass ich hier bin. Also, kein Stress. Außerdem mögen sie dich sowieso.«
»Ich mag sie auch«, entgegne ich grinsend. Und als wir dann doch aussteigen und Lane klingelt, stelle ich überrascht fest, dass ich bei Weitem nicht so nervös bin, wie das letzte Mal als ich hier war. Woran genau das liegt, kann ich nicht ganz festmachen. Aber vielleicht hat es zumindest ein wenig damit zu tun, dass ich nun nicht mehr das Gefühl habe, jemandem etwas vorspielen zu müssen.
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