12
Beat
Ich erwache von einem Albtraum. Diesmal ist es ein ganz schlimmer.
Meine Mutter war noch am Leben. Wie das in Träumen so üblich ist, habe ich diesen Umstand nicht hinterfragt. Für mich war das einfach die Realität.
Besonders viel ist nicht passiert. Ich saß neben ihr am Fenster und habe mit ihr einen Tee getrunken. Gesprochen wurde auch nicht viel. Draußen hat die Sonne geschienen und sie machte eine Bemerkung, wie schön das Licht durch die Bäume fiel.
Als ich aufwachte, ging es mir für den Bruchteil einer Sekunde wieder gut. Diese Last, die ich seit zwei Jahren auf meinem Herzen trage, war weg. Ich hatte eine vage Erinnerung daran, dass da doch irgendwas war...
Und dann fiel es mir ein: Mom ist tot. Das war nur ein Traum.
Ich sitze an meinem Schreibtisch im Wohnheim. Es ist Samstag, doch ich werde den Tag nicht fürs Ausruhen oder sonstige Freizeitaktivitäten nutzen können. Eigentlich sollte ich lernen, doch auch das werde ich ganz sicher nicht tun können. Nach diesem Traum bin ich nicht viel mehr als ein Nervenbündel mit etwas zu hohem Puls und angespannten Nackenmuskeln. Ich kann mich auf rein gar nichts konzentrieren, was bedeutet, dass ich mich auch leider nicht von meinen Empfindungen ablenken kann.
Es ist eine ganze Weile her, dass ich einen solchen Traum hatte, der mich auf diese Weise verstört hat. Ich dachte wirklich, ich kriege das in den Griff. Meine Vermutung ist, dass das Gespräch mit meinem Vater über die Therapie diesen Traum getriggert hat.
Mein Blick fällt auf mein Handy, welches etwas zu nahe an der Kante meines Tisches liegt. Kurz spiele ich mit dem Gedanken, in einen Zug zu steigen und Moms Grab zu besuchen. Doch dann verwerfe ich die Idee wieder, wie so oft.
Seit der Beerdigung war ich nicht ein einziges Mal dort. Dad geht jede Woche zu ihr. Ich kann es einfach nicht.
Wie sonst auch, frisst mich das schlechte Gewissen auf, knabbert langsam an meinen Rändern und arbeitet sich dann zielstrebig zu meinem Inneren vor, bis ich schließlich das Gefühl habe, keine Luft mehr zu kriegen. Ich fasse mir an den Hals und spüre bereits, wie meine Kehle sich immer stärker zusammenzieht. Ich schließe die Augen und merke, wie eine einzelne Träne meine Wange hinabrinnt. »Es tut mir leid, Mom«, flüstere ich und hoffe, dass sie mich hören kann, wo sich immer sie gerade ist.
Ein plötzliches Klopfen an der Tür lässt mich in meinem Stuhl hochfahren. Es ist, als wäre der Pause-Knopf gedrückt worden und meine Tränen versiegen. Auch meine Atmung verlangsamt sich zaghaft, als würde sie ausharren und darauf warten, was als nächstes passiert.
Ich wische mir schnell mit meinem Ärmel über das Gesicht und rufe: »Moment!« Vermutlich ist es Georgine. Ich nehme mir ein paar Sekunden um etwas zu mir zu kommen. Nachdem ich einige Male tief durchgeatmet habe, erhebe ich mich und öffne die Tür... welche ich um ein Haar wieder direkt zugeschlagen hätte.
»Warte! Bitte nicht zumachen!«, ruft Lillian peinlich berührt. Vermutlich sehe ich in diesem Moment so entgeistert aus, als stünde an ihrer Stelle Chucky die Mörderpuppe. Ich denke fast sogar, die Puppe wäre mir lieber als diese blöde Kuh.
»Ich... sorry. Ich will wirklich nur mit dir reden«, beteuert sie. Prüfend kneife ich die Augen zusammen. Ich kann mir keinen Reim auf ihr komisches Verhalten machen. Was soll das?
»Wir haben nichts zu bereden«, entgegne ich kalt, und mache bereits Anstalten, ihr diesmal wirklich die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Doch plötzlich ruft sie: »Ich will mich entschuldigen! Äh, bei dir.« Verdattert blinzele ich sie an. Damit habe ich nun wirklich nicht gerechnet.
Mein Instinkt schlägt in diesem Augenblick zwar keinen Alarm, doch was ist, wenn sie nur unter dem Vorwand in mein Zimmer will, um – keine Ahnung – eine Stinkbombe vor mein Bett zu schmeißen, oder sowas? Mir ist klar, dass das reichlich paranoid klingt. Aber schließlich war sie diejenige, die mir vor noch nicht einmal einer Woche vor die Füße gespuckt und mich beleidigt hat. Außerdem habe ich gewiss schon verrücktere Dinge unter dem Dach der Ravensen University erlebt.
Lillian hebt beschwichtigend die Hände, als wäre ich ein wildes Tier, das sie nicht verschrecken will. »Ich sage, was ich dir zu sagen habe, dann bist du mich los. Ich werde mich kurz halten, versprochen.«
Einige Sekunden verstreichen, in denen ich ihre Worte abwäge. Resigniert seufzend bitte ich sie schließlich mit einem Kopfwink in mein Zimmer. Erleichterung zeichnet sich auf ihrer Miene ab, als sie sich an mir vorbeischiebt. Ich schließe die Tür hinter uns und lasse mich im Schneidersitz auf mein Bett sinken. Lillian bleibt etwas unschlüssig vor mir stehen und knetet sich dabei nervös die Hände.
In einer ironischen Geste bedeute ich ihr, zu reden. Sie räuspert sich und nickt, als hätte sie sich im Kopf eine Rede zurechtgelegt. Amüsiert spüre ich meine Mundwinkel zucken. »Also... es tut mit wirklich leid, was ich zu dir gesagt habe letztens. Und dass ich dich angespuckt habe, natürlich«, stammelt sie. Mit schief gelegtem Kopf betrachte ich sie prüfend, was ihr Unwohlsein zu bereiten scheint. Mit flatternden Lidern weicht sie meinem Blick aus.
»Warum?«, frage ich irgendwann. Ihr Kopf schnellt zu mir zurück und sie hebt die Brauen. »Was meinst du?«
»Warum entschuldigst du dich bei mir?«
»Weil es mir leid tut!«
»Aber warum? Versteh mich nicht falsch, ich weiß es zu schätzen, aber...«
»Du glaubst mir nicht. Schon gut«, murmelt sie resigniert. »Moment, das habe ich nicht gesagt!«, rufe ich entschieden. Ruhiger fahre ich fort: »Ich bin nur sehr verwundert, das ist alles. Du hast damals wirklich gewirkt, als würdest du auf mich herabblicken und mich bis auf den Tod nicht ausstehen können. Außerdem habe ich dir eine reingehauen. Das ist auch definitiv ein Grund dafür, dass ich deine Entschuldigung weiß Gott nicht habe kommen sehen.« Plötzlich kommt mir ein Gedanke und ich richte mich auf. »Hat dich Dekan Winters hierhergeschickt?«
Sie schüttelt entschieden den Kopf. »Nein! Ich bin aus freien Stücken hier. Und... jetzt, wo du es so sagst, verstehe ich, warum du etwas verwirrt bist. Ähm...« Sie kratzt sich am Kopf und scheint nach passenden Worten zu suchen. Geduldig warte ich ab, bis sie weiterspricht.
»Normalerweise bin ich nicht so... scheiße. Ich... okay, ich erzähle dir jetzt etwas, das du keinem weitersagen darfst. Es ist persönlich. Kannst du was für dich behalten?« Überrumpelt blinzele ich sie an. »Wow, jetzt mach mal langsam. Vor einigen Tagen habe ich noch meine Faust in dein Gesicht gerammt – sieht übrigens aus, als würde es immer noch wehtun – ... «, kurz zucken ihre Finger zu den blassen, gelbgrünen Flecken auf ihrem Wangenknochen, »... und du kommst jetzt an und willst mir irgendwas vertrauliches erzählen? Entweder bist du verdammt naiv oder du verarschst mich grad gewaltig.«
Etwas überrascht zuckt sie zurück. »Naja, keine Ahnung. Vielleicht bin ich tatsächlich etwas naiv. Aber um mein Verhalten letztens verstehen zu können, ist diese Info echt wichtig.« Ich seufze und nicke. »Gut, ich werde es für mich behalten. Schieß los.« Sie nickt knapp.
»Gut, okay. Also, es war so: Ein paar Stunden bevor wir uns im Gang begegnet sind habe ich erfahren, dass meine Ex-Freundin, die sich kürzlich von mir getrennt hat, mal mit dir zusammen war. Ich war verdammt verletzt, weil sie mich total aus dem Nichts fallen gelassen hat. Wirklich, ich habe das null kommen sehen. Auf dem Campus weiß keiner, dass ich lesbisch bin und das soll fürs Erste auch so bleiben. Es gibt hier ein paar echt homophobe Arschlöcher.« Kurz huscht ein Ausdruck des Bedauerns über Lillians Miene, dann spricht sie weiter.
»Einer aus meinem Kurs hat dann nebenbei erwähnt, dass du vor noch gar nicht so langer Zeit mit ihr zusammen warst. Keine Ahnung, wie das Thema aufkam, aber einige haben über dich getratscht, schätze, deshalb kamen sie irgendwie darauf. Ich war verletzt, eifersüchtig und durcheinander, als ich das gehört habe – mir sind die Sicherungen durchgebrannt. Noch am selben Tag habe ich es bereut, dich so hässlich behandelt zu haben. Ich habe meine negativen Gefühle an dir ausgelassen, obwohl du rein gar nichts für meine Situation konntest.«
Eine Weile lasse ich ihr Gesagtes sacken. Nun, da ich diese Informationen habe, scheint einiges etwas mehr Sinn zu ergeben. »Du meinst nicht zufällig Laura?«, hake ich nach. Sie nickt. »Genau. Sie hat vor eineinhalb Wochen Schluss gemacht mit der Begründung, dass sie doch hetero wäre.« Ich schnaube trocken. »Witzig, das hat sie bei mir auch gesagt.«
Lillians Augen werden groß wie Untertassen. »Was, echt jetzt?« Ich nicke. »Yes. Bin wirklich froh, dass sie ihren Abschluss gemacht hat. So muss ich ihr Gesicht nicht die ganze Zeit sehen. Aber wenn ich ehrlich sein soll, hat es mir nicht allzu sehr wehgetan.« Lillian verzieht den Mund. »Mir leider schon.«
Kurz verharren wir in Schweigen, welches überraschenderweise nicht einmal unangenehm ist. Dann hebt sie die Schultern und wendet sich mir nochmal zu. »Also gut, ich würde es dann mal packen. Und nochmal Entschuldigung. Ich hoffe, du weißt, dass es mir ehrlich leid tut.«
»Danke. Ich hoffe, du weißt, dass es auch mir jetzt leid tut, dir Angst eingejagt und ein Veilchen verpasst zu haben.« Sie hebt abermals die Schultern und streicht sich eine lose Strähne ihres hohen Pferdeschwanzes hinter das Ohr.
»Ich hab's verdient.«
»Schon irgendwie.«
Wir tauschen verschwörerische Blicke aus und lachen. Schließlich macht Lillian Anstalten zu gehen, nachdem sie sich kurz verabschiedet hat. »Warte mal«, halte ich sie noch auf. Mit fragend gehobenen Brauen dreht sie sich wieder zu mir um. »Woher hast du eigentlich meine Adresse?«, will ich wissen. Zerknirscht antwortet sie: »Winters hat sie mir gegeben, nachdem ich ihm erzählt hatte, dass ich mit dir reden und unseren Streit klären will. Auf dem Campus wusste sonst keiner, wo ich dich finden kann!«
»Eigentlich hätte er der Pisser dir diese Info nicht geben dürfen.«
»Sorry dafür! Ich weiß, es war nicht sonderlich elegant von mir. Aber ich wusste nicht, wie ich sonst zu dir gelangen könnte. Ich habe gestern endlich die Courage aufgebracht, mich zu der Entschuldigung zu entschließen und wollte damit nicht bis nach dem Wochenende warten.«
Ich winke ab. »Schon gut, ich verstehe das. Ich bin auch froh, dass du da warst.« Sie lächelt. »Ich bin auch froh. Und sorry nochmal, dass –«
»Wirst du wohl aufhören, dich dafür zu entschuldigen? Dass Winters dir die Adresse gegeben hat, ist vielleicht gar nicht so schlecht. Damit hat er eindeutig gegen die Vorschriften des Datenschutzes verstoßen. So habe ich ihn in der Hand, wenn er mir das nächste Mal krumm kommt.« Leider kann er es immer noch abstreiten. Ich denke, diese neue Regel mit der Freundlichkeit, die er mir auferlegt hat, werde ich so nicht umgehen können. Aber für kleinere zukünftige Vergehen meinerseits ist es dennoch ein ganz nettes Druckmittel.
Denn ich will mir keine Illusionen machen – irgendwas werde ich garantiert noch an dieser vermaledeiten Universität verbrechen.
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