9. Kapitel
Im nächsten Augenblick machte er mich los und ich streckte mich erst mal ausgiebig. Diese Zwangshaltung hatte zu lange angedauert. Alles tat weh und ein Blick auf meine Handgelenke war ebenfalls ernüchternd. Rot, blau, grün, Abschürfungen, teilweise ein wenig getrocknetes Blut.
Lance hatte das ebenfalls bemerkt, ging zu einem Schränkchen und warf mir eine Salbe zu. Gerade noch so hatte ich diese gefangen. Ich drehte sie in meinen Händen. Wundversorgung.
„Die sollte helfen. Nicht zu dick auftragen, die zieht nicht so gut ein", meinte er und beobachtete mich, während ich mich eincremte. Es war fast so, als konnte er seine Augen nicht von mir lösen.
„Also, ich möchte nochmal eines klarstellen: Wir sind sehr friedliebend. Auch wenn ich auf dich bedrohlich wirke, habe ich ein sanftes Gemüt. Solltest du es jedoch herausfordern, werde ich meine Familie verteidigen. Ich weiß nicht, was man dir beigebracht hat oder welche Gedanken sich in deinem Kopf gerade breit machen. Aber denk daran, dass wir nur unfreundlich werden, wenn du uns dazu zwingst."
Ich erwiderte seinen Blick und war überfordert. Es war so, als ob etwas in ihm kämpfen würde. Als hadere er mit sich selbst. Hielt er mich für einen dummen Befehle Befolger? Eiskalten Killer? Kleinen Jungen? Wenn ich so in mich hineinhorchte, wollte ich gerade nur schlafen. Mich irgendwo zusammenrollen und nie wieder aufstehen. Vielleicht etwas essen. Aber nicht hier sein, sondern frei. Und komischerweise wollte ich zu Lennox. Weiter mit ihm sprechen.
Beschwichtigend hob ich die Hände. „Keine Sorge, ich werde nichts versuchen. Wie hoch stehen die Chancen, dass du mich einfach gehen lässt?"
Er legte den Kopf schief. „Mit Kampf oder ohne?"
„Einfach so. Aus dem tiefsten Inneren deines Herzens", meinte ich und versuchte es weniger erbärmlich klingen zu lassen, als es sich in meinem Kopf anhörte.
Das brachte ihn zum Lachen. Ein lautes, dröhnendes Lachen. „Vorerst nicht, schätze ich. Ich muss erstmal schlau werden aus dir."
Darauf hob ich meine Schultern. „Wüsste nicht, was es da zum schlau werden gäbe."
„Wir werden sehen."
Im nächsten Moment ertönte ein lautes Räuspern aus der Küche. Gloria hatte ich absolut vergessen, Lance aber anscheinend auch.
„Kommen schon Schatz!", meinte er laut, wollte mich fast energisch in die Richtung schieben. Doch dann musste er meine Körpersprache gelesen haben und zeigte nur auf den Türrahmen. Niemals würde ich mir hier auch nur irgendeinen Fehltritt erlauben oder etwas mit mir machen lassen. Nie im Leben. Der Moment in den Duschen damals hatte mir gezeigt, dass man immer seine Deckung oben lassen musste.
Langsam setzte ich mich in Bewegung und ließ den Mann nicht aus den Augen. Nach wenigen Schritten hatte ich die Küche erreicht und trat ein. Es war ein länglicher Raum, der an der Wand die Küchenmöbel platziert hatte. Bis auf diese befand sich nichts hier, kein zusätzlicher Tisch oder Stühle. Und eine Frau, die gut zwei Köpfe kleiner sein musste als Lance. Sie war ein wenig kurvig, und hatte ihre braunen Haare wild in einen Zopf geflochten. Als sie uns bemerkte, wischte sie ihre Hände an ihrer Schürze ab und musterte mich.
„Das ist er also", meinte sie nur und stemmte die Hände in die Hüfte. Es wirkte wieder merkwürdig, für mich nicht einzuordnen. „Na gut, dann bitte einmal Tomaten waschen und dann den Salat."
Mit hochgezogener Augenbraue ging ich an ihr vorbei an das Waschbecken. Dort waren bereits die zu waschenden Sachen hineingelegt. Ich drehte den Wasserhahn auf und ließ kaltes Wasser über meine Hände laufen. Das tat gut und brachte mich ein wenig zurück ins hier und jetzt.
„Wenn du die Tomaten gewaschen hast, kannst du sie in Hälften schneiden Hummelchen", meinte Lori beiläufig, während sie in einem Topf rührte.
Ich nickte nur kurz, legte die Tomaten auf ein Schneidbrett neben dem Becken. Moment mal. Wie hatte mich die Frau genannt? Hummelchen? Was zum Teufel? Sie konnte nicht ihren Mann gemeint haben, der war wieder ins Wohnzimmer gegangen. Und was tat ich hier überhaupt? Scheiß Gemüse waschen? In mir zog sich alles zusammen. Wie war ich hier gelandet, hatte ich etwas nicht mitbekommen? Wo war ich in meinem Leben falsch abgebogen? Ich war Soldat in der verdammten Armee. In welcher ich nicht sein wollte, aber trotzdem. Sollte es wirklich in meinem Sinne sein, mich hier für den Rest meiner oder ihrer Tage versklaven zu lassen? ‚Es würde mir hier schon gefallen.' Nein, würde es nicht. Dieses kleine Häuschen war überall verrammelt, wenn die beiden mich nicht nach draußen gehen ließen, war ich gefangen. Ein Gefangener. Das, was ich gefühlt mein ganzes Leben lang schon war. Auf die Barmherzigkeit und Weisungen anderer angewiesen. Nein, so konnte das nicht weiter gehen. Auch wenn die Erleuchtung jetzt erst kam, so wollte ich mich endlich von den Ketten und der Last befreien. Lance war bestimmt gar nicht so groß und stark wie er aussah. Irgendwie würde ich das schon auf die Reihe bekommen.
Ich ließ alles stehen und machte mich daran, die Küche zu verlassen.
„Wo willst du denn hingehen?", fragte Lori besorgt. Doch was machte ihr Sorgen? Meine Reaktion oder das, was ich vielleicht tun könnte?
„Nach Hause", antwortete ich, obwohl ich selbst nicht wusste, wo das war.
„Lance", rief sie irritiert.
Ich ging durch den Türrahmen und in Richtung Haustüre. Neben mir nahm ich wahr, dass sich Lance von der Couch erhob.
„Hey, was wird das, wenn es fertig ist?", fragte er aufmunternd. Doch ich ignorierte ihn.
„Ach Lance, ich habe etwas dummes gesagt. Er meinte, er will nach Hause", erklärte Lori hinter mir.
Mit zügigen Schritten war ich an der Haustüre, drückte die Klinke hinunter. Nichts, natürlich. Abgesperrt.
„Aufmachen, sofort", meinte ich, nachdem ich mich umgedreht hatte und beide bitterernst nieder starrte.
„Es ist alles gut, Felix. Du bist hier sicher. Beruhige dich", erwiderte Lance und hob beschwichtigend die Hände.
„Nichts ist gut und sag mir nicht, dass ich mich beruhigen soll!", schrie ich die beiden an. Der Damm war gebrochen. „Ich bin hier sicher? Falsch, ich bin hier gefangen. Niemand gibt euch das Recht, sowas mit einem Menschen zu machen. Stehen wir auf unterschiedlichen Seiten? Ja. Tobt da draußen ein Krieg? Ja. Hab ich damit zu tun? Nein! Ich habe nicht darum gebeten. Um nichts von alledem. Mein ganzes Leben ist versaut, von euch allen. Ob es euch passt oder nicht, aber ihr werdet jetzt diese verfluchte Türe öffnen und mich gehen lassen."
„Und was würdest du tun, wenn wir dich ziehen lassen? Zurück zur Armee?", fragte Lance mit verschränkten Armen.
Wütend funkelte ich ihn an. „Das kann dir scheißegal sein!" Ich hielt inne. „Wahrscheinlich zurück zu meinem Onkel und mich dort verstecken. So wie ich ihn kenne, läuft die Schrottkarre immer noch nicht. Die werde ich fertig zusammenschrauben. Alles ist besser als hier zu sein. Das ist Menschenhandel verdammt, egal ob Krieg oder nicht!"
Lori griff hinter sich, nahm eines der umgedrehten Fotos. Vorsichtig näherte sie sich und hielt es mir entgegen. Ich nahm den Rahmen und warf es sofort gegen die Wand neben mir, während ich die beiden nicht aus den Augen ließ.
Die Frau zuckte erschrocken zusammen, Lance bedachte mich mit einem traurigen Blick.
„Sieh dir wenigstens das Foto doch an", bat mich Lori und zeigte auf das Papier in den Scherben.
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