Donnerstagmittag. Bin gleich wieder da.
Unbeachtet von den Kindern, die an der Bushaltestelle herumwuselten, balancierte Quinn am Bordstein entlang.
Natürlich. Wie auch.
Er wich der besonders schwungvollen Drehung einer Fünftklässlerin aus und ließ seinen Blick über den Busbahnhof schweifen.
Welcher der hier stehenden Metallraupen fuhr nach außerhalb?
Er hatte einen denkbar schlechten Zeitpunkt für so einen Ausflug gewählt, dessen war er sich bewusst.
Er mied öffentliche Verkehrsmittel, wie er alle großen Menschenansammlungen mied, aber heute war er spät dran.
Su würde warten.
Seuftzend fuhr er sich durch seine knotigen Haare. Das hatte er davon, seinen Aufbruch hinauszuzögern.
Eine halbe Stunde in irgendeiner Gasse auf und ab zu laufen, zählte vermutlich nicht als besonders gute Ausrede, aber etwas trieb ihn seit dem letzten Wochenende um.
Etwas, von dem er nicht wusste, wie er es am besten ansprechen sollte - und ob er das denn überhaupt wollte.
Vermutlich war es keine wirkliche Frage des Wollens.
Er biss sich auf seine Unterlippe.
Was machte er sich eigentlich vor?
Er hatte von den Gerüchten gehört, dass die Wesen der Schatten, Vampire, Unsichtbare und Nebelwesen, die Gegenwart eines anderen Wesens spüren konnten, aber er hatte es nie wirklich geglaubt.
Dieser eine, andere Vampir, denn er vor Jahren gesehen hatte, hatte ihm zwar einen gehörigen Schauer über den Rücken gejagt, aber mal im Ernst, das war eine normale Reaktion auf ein bleiches Arschloch mit Blutverschmiertem Mund.
Dessen Artgenosse am Wochenende hingegen... kein Zweifel, er hatte Quinn gewittert. Obwohl er keine Ahnung hatte, wie das überhaupt möglich war. Unsichtbare hatten keinen Eigengeruch.
Ein metallischer Geschmack breitete sich auf seiner Zunge aus.
Kein Vampir würde einen Gedanken an einen vorbeiziehenden Unsichtaren verschwenden. Da war er sich ziemlich sicher.
Aber wenn durchsickerte, dass sich irgendein Unsichtbarer gehäuft im Umfeld von Jägerangriffen blicken ließ?
Das konnte schon anders aussehen.
Mit einem Mal war seine Gegenwart eine viel ernstere Gefahr als normalerweise.
Mittlerweile war er an der richtigen Haltestelle angekommen.
Bei der Traube von Fahrgästen, die sich dort bereits gesammelt hatte, drehte sich ihm der Magen um, also blickte er schnell zur Seite.
Oh. Hervorragend. Jess.
Su's beste Freundin stand in einem Kreis mit den üblichen Verdächtigen.
"Wie dem auch sei", sie rollte übertrieben laut mit den Augen, "Ich habe noch einen Zahnartzttermin. Mum holt mich dort drüben ab. Bis dann!"
Ihre Armreife klimperten, als sie wie wild winkend zurück zum Schulgebäude lief.
Die Schulschwänzerin schien sich ja herrvorragend wieder eingelebt zu haben.
"Byeeeeee", auch die lockige Jackie wirbelte ihre Hand enthusiastisch in der Luft herum.
Dann ließ sie ihre Hand sinken und rümpfte ihre Nase.
Shit.
Quinn kannte diesen Gesichtsausdruck. Er war ein unfehlbares Indiz dafür, dass jemand in nicht all zu kurzer Zeit durch den Dreck gezogen werden würde.
Na wunderbar. Und sein Bus ließ auf sich warten.
"Zum Zahnarzt. Genau", sie schnaubte, "bei dem Quark, den sie gestern Abend von sich gegeben hat, weiß ich echt nicht mehr was ich ihr noch glauben soll"
"Yep", Lisa verschränkte ihre Arme, "was glaubst du, was sie so dringend geheimhalten will, dass sie diese Trauershow abzieht?"
Irritiert blinzelte Quin. Hatte er sich verhört?
In 16 Jahren als stiller Lauscher war das nicht oft vorgekommen.
"Woah, wie bitte?", fuhr Chrissie dazwischen, "du hast gerade nicht ernsthaft das wieder aus der Versenkung gezogen!"
"Wir hatten darüber gesprochen", Jackie zuckte mit ihren Schultern, "und wir waren uns alle einig, dass da irgenderwas ganz schräg ist mit ihr im Augenblick"
"Ja, das hatten wir", konterte Chrissie, "aber hast du ihr gestern nicht zugehört? Sie hat echt einen scheiß Monat hinter sich! Ich finde, du kannst den Mist jetzt lassen!"
"Und das hast du ihr abgekauft? Wach auf!", Lisa verdrehte ihre Augen, "Jess ist vieles, aber gut im Lügen ist sie nicht!"
Also doch! Es war Madame Vampirschreck, auf die Jackie es heute abgesehen hatte. Eine angenehme Abwechslung?
Ein paar Schritte von ihm entfernt begannen Jackie und Lisa, sich Spekulationen über Jess zwischen den Zähnen hervor zu ziehen und auf den Pflastersteinen platt zu trampeln wie Kaugummi, während Chrissie dazwischenzeterte.
Irgendwie hinterließ dieses Getratsche einen schalen Geschmack in seinem Mund. Er hasste es, wenn die drei über Su herzogen, ja, aber wenigstens wusste Su, dass ihre Klassenkameraden hinter ihrem Rücken über sie lachten. Aber Jess? Jess war naiv genug, um blutsaugende Monster für ein cooles Hobby zu halten! Etwas sagte ihm, dass es das laute Mädchen verletzen würde, wenn sie jetzt das Gespräch ihrer Freunde anhören müsste.
Unbehaglich schauderte er. Was war es nur, dass die Sichtbaren so dazu trieb, versteckt Stiche gegeneinander auszuteilen?
Unsichtbare waren anders. Sie spuckten sich direkt ins Gesicht und schnitten einander die Kehlen durch, ohne all den Firlefanz. Gut, das war ungemein schrecklicher und über alle Maßen beängstigend, aber immerhin war es ehrlich.
Endlich! Zischend und träge fuhr der Bus in den Bahnhof ein.
Die Kinder in der deformierten Warteschlange begannen laut schnatternd durcheinander zu wuseln ind ertränkten den Rest des Gespräches.
Quin atmete auf. Gut, das war vorbei. Zeit, die bedrückenden Gedanken abzuschütteln und sich auf eine schnelle Busfahrt zu freuen. Heute war ein schöner Tag! Die Sonne schien, es war nicht zu warm, und...
... 30 Quadratzentimeter. So viel und nicht mehr hatte er zur verfügung, um seinen hageren Körper im Gang des Busses unterzubringen - zumindest fühlte es sich so an.
Auf Zehenspitzen balancierte er in dem ruckelnden Gefährt mit dem Rücken zur hinteren Tür und hatte Angst davor, Luft holen zu müssen.
Bei den Schulkindern war es nicht geblieben, im Laufe der Fahrt waren zahlreiche Fahrkäste zugestiegen: Alte Menschen mit Rollatoren, junge mit Kinderwagen und verschwitzte in Trainingsanzügen.
Wenn er sich auch nur einen Millimeter bewegte, würde er mit seinen Schultern gegen einen seiner Stehnachbarn stoßen.
Der Bus hielt erneut, und Quin unterdrückte den Drang, mit den Armen zu rudern - nicht, dass es hier gerade möglich gewesen wäre.
Seine Arme würden gegen die Unstehenden stoßen ohne, dass diese etwas spürten.
Deswegen hasste er Menschenmassen.
Ein kräftig gebauter, junger Mann mit Baseballcap schob sich in das Gedrängel hinein und versetzte das Innere des ohnehin schon vollen Busses in Bewegung. Menschen trippelten in Mäuseschritten seitwärts, andere zogen den Bauch ein.
Die Frau direkt vor Quin rutschte ein paar Schritte nach hinten.
Nein, nein, nein!
Ohne auch nur einen Hauch von Widerstand zu spüren, presste sie ihn gegen die Scheibe.
Die Schweißporen auf seiner Stirn brachen auf, als er ein leichtes Kribbeln in seinem Rücken spürte.
Deswegen hasste er Menschenmengen in geschlossenen Räumen.
Ein Gegenstand der sichtbaren Welt war unbeweglich und fest für einen Unsichtbaren. Von einer Person so gegen die Wand gepresst zu werden war, wie in einer unnachgiebigen Presse um das pure Überleben zu kämpfen.
Allerdings nur vorrübergehend. Wurde ein Unsichtbarer fest genug gegen eine sichtbare Oberfläche gedrückt, fiel er hindurch. Die ersten Anzeichen für diese Durchlässigkeit spürte er bereits.
Deswegen, rief er sich in Erinnerung, genau deswegen war es eine schlechte Idee gewesen, den Bus zu nehmen. Genau deswegen hätte er eher loslaufen sollen, anstatt vor sich hin zu grübeln.
Es war ja nicht so, als wäre das hier das erste Mal, dass er in so eine Situation geriet, nein, er war auch schon aus Bussen herausgefallen. Hinterrücks, auf die Straße. Wie er sich zum Bürgersteig geschleppt hatte, ohne von einem Auto erfasst zu werden, darüber war er sich bis heute nicht ganz klar.
Nervös knirschte er mit den Zähnen. Es brauchte nur eine scharfe Kurve, und die Frau würde ihn aus dem Bus drängen.
Erneut verlor das Gefährt an Geschwindigkeit.
Wie weit waren sie wohl noch von seiner Haltestelle entfernt? Egal.
Bei nächster Gelegenheit würde er abspringen. Er kam lieber zu spät als gar nicht.
Zischend schwangen die Türen auf und frische Luft ströhmte nach drinnen.
Erleichtert schnappte Quinn nach Luft und stolperte rücklings auf den Bürgersteig.
Nicht noch mal. Ganz bestimmt nicht.
Ein paar weitere Fahrgäste drängten aus dem Bus heraus, und Quin trat etwas weiter nach hinten.
Er warf einen Blick auf das Haltestellenschild. Er war weitergekommen, als er gedacht hatte.
Ob er jemals lernen würde, sich aus solchen gefährlichen Situationen herauszuhalten? Immer, wenn er dachte, er hätte seine Lektion gelernt rutschte er zurück in seine "dieses Mal wird es schon gut gehen" Mentalität.
Quinn fühlte sich immer noch etwas zittrig, als er sich im Wald einen Weg durch das Brombeergestrübb bahnte.
Wie furchterregend solche Erfahrungen sein konnten, daran erinnerte er sich immer erst wenn es schon zu spät war.
Es war ja nur ein Bus.
Alle Leute fuhren Bus.
Aber er war der einzige, der durch die Wand hindurch auf die Straße fallen konnte. Und das schien nicht in seinen Kopf hinein zu wollen.
Egal. Er schüttelte sich.
Es war passiert, es war vorbei.
Jetzt traf er Su.
"Hey", er trat zwischen den Bäumen hervor.
Seine Freundin saß friedlich auf dem nadeligen Waldboden neben dem kleinen Bächlein, dass sie als Treffpunkt ausgemacht hatten.
"Hey!", strahlend drehte sie ihren Kopf in seine Richtung, "ich glaube, ich habe vorhin einen Eichelhäher gesehen!"
Für einen Augenblick hielt Quinn inne, einfach, un sie lächeln zu sehen.
Wenn er ihr Gesicht sah, verblasste alles andere: Vampire, Busse oder Lästertanten.
"Wo ist er hingeflogen?", scherzte er, vielleicht habe ich ihn ja sogar gesehen."
"Woher soll ich das wissen?", sie lachte auf, "komm, setz dich!"
Sie nickte zum Bach hinüber, "Ist schließlich das nächste zu einem Wasserfall, was wir haben"
An der Tür des Büros blieb Jess stehen. Ein Schritt zurück. Ein Blick über die Schulter.
Niemand da.
Der Gang war leer, wie er um diese Uhrzeit auch sein sollte.
Wieso sollte man sich nach Ende der letzten Stunde auch noch im Schulgebäude herumdrücken?
Man hatte schließlich besseres zu tun. Man konnte Hausaufgaben machen. Oder Einkaufen gehen. Oder mit Messern auf Zielscheiben werfen.
So viele Dinge, die man besser machen konnte als das hier.
Zähneknirschend trat sie zurück an die Tür und klopfte.
Wenn nur ihr Lehrer sie nicht nach dem Unterricht herzitiert hätte.
Zum Büro des Schulpsychologen.
Wenn sie nur niemand hineingehen sah...
Den anderen hatte sie von einem Zahnarzttermin erzählt.
Ähnlich unangenehm war es auf jeden Fall.
"Herein!", die Stimme von Frau Willmann drang viel zu fröhlich durch die dünnen Wandplatten.
Hastig schlüfte Jess hinein.
Frau Willmann unterichtete eigentlich Biologie und Mathematik. Irgendeine Fortbildung erlaubte ihr aber, sich danenen noch verstärkt mit den Problemen der Schülernund Schülerinnen zu befassen. Zumindest glaubte Jess das.
Warum Frau Willmann das tat, was sie tat, war eher uninteressant.
"Setz dich", die Lehrerin wies mit ihrer Hand auf den Stuhl, der ihr gegenüber stand.
Widerwillig ließ Jess sich nieder.
"Deine Mutter und deine Klassenlehrerin fanden beide, dass wir uns einmalbunterhalten sollten. Die beiden machen sich Sorgen. Und ich glaube, du weißt auch warum, oder nicht?"
"Weil ich in letzter Zeit oft in der Schule gefehlt habe", seuftzte Jess.
Natürlich. Was auch sonst. Es war ja nicht so, als hätte ihre Mutter es nicht schon tausend Mal mit ihr durchgekaut.
"Genau. Kannst du dir vorstellen, warum ihnen das Sorgen macht?"
"Weil ich Schulpflicht habe?", was denn sonst?
Jess unterdrückte den Impuls, ihre Augen zu verdrehen.
"Nein", Frau Willmann, "ich meine, natürlich hast du Recht, du hast die Pflicht, hier in der Schule zu erscheinen, aber eigentlich machen sie sich sorgen, weil dieser Anstieg von Fehltagen so plötzlich war. Sie glauben, dass es da irgendetwas gibt, was dich belasten könnte. Irgendetwas, das passiert ist, irgendetwas, das nicht so toll gelaufen ist. Und wenn das so sein sollte, bin ich hier um dir zu sagen, dass du mit mir darüber reden kannst, wenn du möchtest. Vielleicht können wir das Problem zusammmen besser lösen als du alleine."
Bevor Jess es verhindern konnte, zuckte einer ihrer Mundwinkel spöttisch nach oben.
Ihr Problem war, dass sie hier war.
Und da hatte ihr noch keiner mit helfen können. Nicht einmal Rat, der Idiot.
"Nein, kein Problem."
"Bist du dir sicher?"
Wenn du lügen musst, bleib am besten so dicht an der Wahrheit, wie du kannst.
Oder?
Vielleicht sollte sie doch noch ein wenig Begründung hinterher schieben?
"Es... war nur eine Dummheit. Mehr nicht."
"Wir können auch über Dummheiten reden, wenn du möchtest. Was du hier im Raum erzähltst bleibt auch hier im Raum"
"Okay", Jess sog dramatisch Luft ein. Mal schauen, ob Rat wenigstens zum Ratgeber taugte.
"Breakdancing", sagte sie dann.
"Wie bitte?", die junge Lehrerin blinzelte etwas irritiert.
"Breakdancing", wiederholte Jess, "das ist... so etwas wie mein geheimes Hobby."
"Ah. Und..."
"... kennen sie diese Videos von Leuten, die das auf der Straße machen? Das will ich auch."
Jess beugte sich ein wenig vor, "wissen sie, vielleicht... also, manche machen sogar Geld damit"
Wahrscheinlich, oder? Die Leute machten schließlich Geld mit den schrägsten Sachen heutzutage. Und selbst wenn nicht, woher sollte Frau Willmann das bitte wissen?
"Ich dachte also", Jess zuckte mit den Schultern, "ich fange besser mal an damit, dass zu machen. Aber nachmittags geht das nicht, dann merken meine Eltern, dass ich weg bin. Und, ich meine, wenn ich damit vielleicht eine Zukunft habe, dann brauche ich das mit der Schule ja sowieso nicht so... hrrm"
Sie räusperte sich: "... so ganz einfach ist das dann aber doch nicht. Irgendwie. Und ja. Dann hat meine Mutter gemerkt, dass ich hier fehle. Und dass läuft alles nicht ganz so, wie ich dachte. Ähem. Jetzt bin ich wieder hier."
"Oh", man sah der jungen Frau an, dass sie so etwas nicht erwartet hatte, "das ist... auf jeden Fall interessant. Ähem"
Sie rutschte zurück in ihre professionelle Stimmlage: "Habe ich das richtig verstanden? Du bist nicht in der Schule gewesen, weil du in die Stadt gefahren bist?"
"Um mich in der Stadt beim Breakdancen zu filmen, genau."
Ja, genau. Das und nichts anderes.
"Und deine Eltern sollen es nicht mitbekommen, weil..."
Shit.
"Meine Mutter hält es für... gefährlich?"
In Filmen war das schließlich immer so.
"Breakdancing?"
"Ein Bruder von ihr hat sich da mal den Kopf bei angeschlagen", Jess lächelte entschuldigend.
Ihr Vorsatz, dicht bei der Wahrheit zu bleiben, glitt ihr gefährlich schnell durch die Finger.
"Ähh das heißt, ich glaube, dass es so ist... wir haben nie drüber gesprochen, ich denke, ich... habe einfach Angst, dass sie es mir verbieten würde. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie es verbieten würde. Deswegen erwähne ich es gar nicht erst. Sie hat bloß mitbekommen, dass ich in der Schule gefehlt habe."
"Und was hast du jetzt mit deinen Breakdanceplänen vor?"
Jess seuftzte tief, "Ich werde mich wohl nach der Schule darum kümmern müssen. Wenn ich denn Ärger mit meiner Mutter.... ich meine, ich brauche ja Sicherheiten. Für meine Zukunft und so. Das weiß ich ja"
Belustigt schmnuzelte Frau Willmann: "Was war das Erste?"
"Welches Erste?", Jess versuchte, noch ein wenig zuverlässiger zu strahlen."
"Du versuchst, Ärger mit deiner Mutter zu vermeiden und bist deswegen wieder hier?"
Verdammt. Ein bisschen zu viel Wahrheit. So viel dazu, Rat!
"Wenn ich ehrlich bin... ja. Ich meine, ich weiß auch, dass ich auf meine Zukunft achten soll, und bla bla, aber vielleicht ist da auch eine andere Zukunft? Eine für die der Abschluss unwichtig ist?"
"Möglich ist das immer", gab die Lehrerin zu bedenken, "aber was glaubst du, wie die Chancen dafür stehen?"
Jess knirschte mit den Zähnen.
Besser, als du denkst.
"Eher schlecht?"
"Leider ja, auch wenn man natürlich nie wissen kann. Würdest du sagen, dass deine Mutter nicht ganz unrecht hat, wenn sie dich lieber mit einer Sicherheit sehen würde?"
Wenn sie jetzt schnell zustimmte, konnte sie es wohlmöglich schnell aus dem Büro schaffen und noch ein wenig trainieren.
Jess seuftzte: "Ich denke schon"
"Es ist ja auch nicht so, dass sir jemand deine Ziele ausreden möchte. Im Gegenteil. Wenn es dir Spaß macht, investiere ruhig ein bisschen was, aber...", die Lehrerin legte ihren Kopf schief, "pass auf, dass du nicht mehr reinsteckst, als du hast."
"Keine Angst, ich passe auf! Also, von jetzt an."
"Gut", Frau Willmann nickte, "wenn es sonst noch etwas gibt, über das du reden möchtest, komm einfach auf mich zu"
"Mache ich!", Jess sprang auf. Schnell raus hier.
"Vielen Dank, Frau Willmann, ich werde drüber nachdenken!"
Konnte sie ihr jetzt schon den Rücken zudrehen und einen mentalen Hechtssprung auf die Tür zumachen, oder wäre das noch unhöflich?
"Immer wieder gerne, Jess. Einen schönen Nachmittag noch!"
Oh, den würde sie haben! Vielleicht konnte sie den nächsten Bus nach Außerhalb noch erwischen, Rat war sicher noch bei der alten Scheune, dem Training würde nichts im Wege stehen...
"Und, Jess..."
Verdammt. Im hinausgehen fror sie ein.
"Ja?"
"Wir haben eine Tanz-AG an der Schule. Vielleicht solltest du dir das mal ansehen."
Ja, sicher.
"Ich schaue mal!"
Jess warf ein letztes, hoffentlich überzeugendes Lächeln in den Raum und hoffte aufrichtig, damit durchzukommen.
Die Flure waren sogar noch verlassener als vorher, wenn das überhaupt möglich war. Sogar der Lärm der anderen Schüler auf der Straße war verstummt.
Durch die Scheibe der Eingangstür blickte Jess ein leerer Vorplatz entgegen, wo sonst ungeduldige Kinder auf ihre Eltern warteten, und auch die Bushaltestelle, die sich gerade noch im Blickfeld befand, sah ohne die drängelnden Massen merkwürdig aus.
Aber nicht halb so merwürdig wie die einsame Gestalt, die dort an das Bushäuschen gelehnt verblieben war.
Jess kniff ihre Augen zusammen. War tatsächlich außer ihr noch jemand im Schulgebäude stecken geblieben?
Zögernd legte sie ihre Hand an die Türklinke.
Sollte sie warten, bis die Person verschwunden war? Gesehen werden wollte sie nach wie vor eher ungern.
Wer war das überhaupt?
Diese mintgrüne Jacke kam ihr irgendwie bekannt vor, fast als ob...
Jason. Natürlich. Das hässliche Ding hatte er sich auf einer gemeinsamem Shoppingtour zugelegt, und hatte gleich versucht ihr auch eine in der gleichen Farbe anzudrehem. Brrrr.
Jess trat ein paar Schritte zurück.
Ihr Exfreund war wirklich der letzte, mit dem sie alleine an einer Bushaltestelle warten würde. Nein danke, sie würde laufen. Und den Hinterausgang nehmen.
Also wirklich.
Der kleine Stadtwald, der zwischen der Schule und Jess' Wohnung lag, war es eigentlich kaum wert, "Wald" genannt zu werden. Er war mehr eine ungenutzte Fläche, die notdürftig unter mickrigen Bäumen versteckt worden war, aber das machte nichts. Er war nicht so schön wie der Park, deswegen war er eher selten besucht.
Jess markierte ein paar Boxschläge in die Luft. Zur Basis würde sie es heute nicht mehr schaffen, vielen Dank auch, Jason, aber sie konnte wenigstens ihren Heimweg zum trainieren nutzen. Hier sah sie ja schließlich niemand.
Ihre Fäuste schnitten durch die Luft, und ihre Beine fühlten sich leicht und wendig an, als sie sich von einer Seite auf die andere drehte und sich unter unsichtbaren Schlägen hindurch duckte.
Beinarbeit war wichtig.
Wenn sie ao darüber nachdachte, war der heutige Tag gar nicht so übel gelaufen.
Niemand hatte sie in Frau Willmanns Büro gesehen, die Lehrerin hatte ihr ihre Geschichte abgekauft.
Ach ja, und sie hatte es geschafft, Jason aus dem Weg zu gehen.
Es hätte definitiv schlechter laufen können.
Vermutlich schuldete sie Rat doch etwas Dank für seinen Hinweis. Vielleicht war er nicht ganz nutzlos.
Sie riss ihr Bein nach oben, um einen Tritt, den er ihr gezeigt hatte, nachzuahmen. Nein, nutzlos war er nicht.
Morgen nachmittag hatte sie keine Termine. Morgen würde sie wieder zur Basis gehen.
Sie konnte es jetzt schon kaum erwarten.
Ein kühler Wind fuhr durch die Äste der Bäume über Quinn und brachte den Wald zum Zittern.
Der Unsichtbare schauderte ein bisschen und schlang seine Arme um seine Brust. Er war sehr dankbar, für die grobe Tunika, die er trug, aber besonders viel Kälte hielt sie nicht ab. Eine wohlbekannte Taubheit kroch in seine unbedeckten Zehen.
Nicht jede Nacht konnte eine laue Sommernacht sein.
Der Himmel über ihm verschwamm bereits in einem hellen Nachtblau.
Er hatte Su seine Beobachtung von ihrer letzten Mission mitgeteilt.
Sie war nicht überrascht gewesen. Natürlich nicht. Schmunzelnd zuckten seine Mundwinkel. Seine Freundin war eine gute Beobachterin.
Selbst, wenn es nichts zu sehen gab.
Sie schien kein großes Problem mit seiner Ankündigung, sich von nun an von ihren Vampirabenteuern fernzuhalten, zu haben. Ihm bereitete der Gedanke nach wie vor Magenkrämpfe.
Stell dich nicht so an! Schimpfte er mit sich selbst, du wärst doch nicht einmal hilfreich, wenn tatsächlich etwas passieren sollte!
Nein, das wäre er tatsächlich nicht. Aber in irgendeiner Straßennische zu sitzen ohne zu wissen, ob der Kampf gefährlich würde, war auch keine angenehme Alternative.
Er seuftze. Was half es, sich jetzt schon den Kopf darüber zu zerbrechen?
Für heute würde er erstmal nach Hause gehen. Oder genauer gesagt, in das alte Theater, dass er sich als Unterschlupf ausgesucht hatte. In dem Gebäude war es warm, es gab viele kleine, interessante Ecken in denen er sich verkriechen konnte, und wenn er Glück hatte, konnte er in eine Abendvorstellung hineinschlüpfen.
Vielleicht war heute so ein Tag. Ablenkung könnte er brauchen.
Eine zweite Brise kam auf und wühlte das Laub an den Zweigen auf, aber etwas war anders. Quinn hielt inne. Ja, neben dem Rascheln trug der Wind noch ein zweites Geräusch mit sich.
Wörter, hastig gezischt, leise und verstohlen.
Quin spürte, wie sein ohnehin schon kühler Körper sich versteifte. Er kannte diesen Akzent. So unterhielten sich die Unsichtbaren, wenn sie unter ihresgleichen waren.
Mehrere Stimmen. Und was sie von sich gaben gefiel ihm ganz und gar nicht.
"...könnte einen neuen Mantel brauchen..."
"... lange niemanden mehr gesehen..."
"...da vorne...?"
Die Laute verstummten.
Nicht gut.
Quinn spürte, wie sein Herzschlag lauter wurde, als wäre der Muskel eine eingebaute Alarmanlage.
Er war entdeckt worden.
Und die Stille bedeutete Attacke.
"Iiieeeeee!", mit einem Kreischen, dass ein Unwissender auch für einen seltsamen Vogelschrei hätte halten können, stieß ein kräftiger, junger Mann hinter einem der Bäume hervor.
Seine milchigen Augen funkelten angriffslustig, und in seinen Händen schwang er einen Knüppel, der einmal der Oberschenkelknochen von jemandem gewesen war.
"Iiiieeeee!", von der anderen Seite des Baumes sprang ein zweiter Unsichtbarer hinzu. Der Knochen, den er umklammert hielt, war zu einer Klinge geschärft, dass erkannte Quinn sofort.
Shit.
"Was haben wir denn da?", mit knackenden Fingerknöcheln trat ein dritter aus dem Unterholz hervor, "eine Portion Freiwild?"
In den Filmen der Sichtbaren hatte er oft gesehen, wie die Helden während eines Überfalls versuchten, zu verhandeln.
"Lass mich gehen, und ich gebe dir etwas", so klang das dann in etwa.
Aber in der Welt der Unsichtbaren gab es kein Verhandeln, weil niemand etwas zu geben hatte außer dem eigenen Leben. In der Welt der Unsichtbaren gab es nichteinmal clevere Comebacks oder Beleidigungen.
Es gab nur den ersten Schlag.
Und normalerweise war Quinn nicht der, der ihn austeilte.
Heimlich verlagerte er sein Gewicht ein wenig auf die Zehenspitzen.
"Komm her, Fliegengewicht", knurrte der bulligste der drei und holte mit seinem Knüppel aus.
Quinn gelang es, knapp unter dem Schlag hindurch zu tauchen. Der Luftzug fauchte über seine Nackenhaare hinweg und sandte einen Schauer seinen Rücken hinunter.
So fest er konnte stieß er dem Angreifer seinen Ellenbogen in den Rücken. Der geriet tatsächlich ins Straucheln, wohl auch wegen seines eigenen Schwungs. Nichts wie weg hier.
Quinn selbst stolperte ein paar Schritte weiter. Wenn er schnell lief, könnte er es vielleicht in eine belebtere Gegend schaffen, zwischen all den Sichtbaren und ihren Autos und Fahrrädern konnte er seine Angreifer vielleicht - ganz vielleicht - abhängen.
Uff. Etwas rammte ihn von der Seite und stieß ihn gegen einen Baum.
"Flink bist du, eh?", der Junge mit dem Messer wedelte mit seiner Waffe vor seinem Gesicht herum, dan stutzte er.
"He", er zog an Quinns Halskette, "nettes Stück!"
Quinn spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Der kleine Fingerknochen an der Kordel war ein Erbstück, dass er auf keinen Fall verlieren durfte. Wenn dieser Messermann ihm den Knochen abnahm, könnte er genauso gut direkt sterben.
"Ha!", er riss sein Knie nach oben und rammte es dem anderen in den Schritt.
"Ahhh! Verdammter..."
Sein Angreifer rutschte mit seinem Messer aus und schrammte an Quinns Wange vorbei.
Der Schitt brannte unangenehm, aber gerade hatte er größere Sorgen.
Er holte aus und donnerte seine geschlossene Faust gegen die Nase des anderen.
Schnelle Schläge. Schnell hintereinander.
Knie in die Magengrube.
Der andere hatte wenig Widerstand erwartet. Kein Zeit zum Reagieren lassen.
Die anderen würden eingreifen. Er musste schnell...
Quinn warf den strauchelnden Jungen zu Boden ubd griff mit zittrigen Fingern nach der Hand in der der andere das Messer hielt, rammte seinen Ellenbogen in des anderen Magengrube, ein letztes Mal, entwand dem anderen das Messer...
Ratsch
Schwer atmend rollte Quinn von dem gurgelnden Körper herunter und rappelte sich auf. Das warme Blut, das von seinen Händen tropfte, würde ungesehen auf dem Waldbodem verdunsten.
Es war still im Wald geworden.
Er hörte nur sein Keuchen.
Und die Geräusche des erstickenden Messermannes, von dem er fort stolperte.
Das Messer, mit dem er die Kehle seines Besitzer aufgeschnitten hatte, rutschte ihm aus der Hand.
Er konnte es nicht mitnehmen.
Hoffte, die anderen beiden würden sich darum prügeln.
Weg von hier.
Quinn begann wieder zu laufen, auch wenn seine Beine ihn betrogen und zu Wackelpudding wurden.
Hinter ihm stritten zwei Unsichtbare um die Haut ihres Kumpanen.
Er spürte, wie ihm übel wurde. Es war wieder passiert.
Keuchend zwängte Quin sich zwischen zwei losen Brettern in einen zugigen Schuppen und ließ sich auf den kalten Betonboden fallen. Der Schnitt an seiner Wange pochte und seine Finger kribbelten unangenehm.
Es war wieder passiert.
Erschöpft presste er seine Stirn in den Staub. Er hatte es nicht zum Theater geschafft. Hatte es sich nicht leisten können. Es war gut möglich, dass einer der anderen Gangmitglieder versuchen würde, seiner Spur zu folgen.
Er wollte seinen Rückzugsort nicht preisgeben. Der Schuppen hingegen wurde schon lange nicht mehr benutzt. Als Quin klein gewesen war, hatte er sich hier oft mit Josh versteckt.
Josh hatte auf ihn aufgepasst, bis er alt genug gewesen war, das selbst zu tun.
Aber es war bald ein Jahr her, dass er den älteren Unsichtbaren das letzte Mal gesehen hatte.
Vermutlich hatte er eine Begegnung mit einem Fremden nicht überstanden.
Das Blut an seinen Fingern hatte schon vor einer Viertelstunde begonnen, sich aufzulösen. Bald würde es ganz verschwunden sein und das einzige, was zurückbleiben würde, waren die Alpträume, die ihn heute Nacht ohne Zweifel heimsuchen würden. Wenn er denn überhaupt einschlief.
Quinn ging anderen Unsichtbaren aus gutem Grund aus dem Weg, wo immer er konnte. Töten oder getötet werden.
Quinn schloss seine Augen.
Es war egal. Es war passiert.
Morgen war ein neuer Tag.
Morgen konnte er sich wieder mit Su treffen und so tun, als ob alles gut wäre.
Morgen war alles wieder gut.
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