Zweites Kapitel...
...in dem Sindrak Fragen stellt und Alkohol findet
{Soundtrack: Hans Zimmer - It's so Overt it's Covert aus dem Sherlock Holmes - Spiel im Schatten OST}. Alle Songs gibt es auch in der Spotify-Playlist - zu finden im externen Link am Ende des Kapitels.
https://youtu.be/XgxNZGUiuEQ
~
Egal, wie oft ich auf Oscravelle zuflog, ein Gefühl von Heimat hatte es nie. Es war nur eine große Stadt auf einem riesigen, schwebenden Felsen, mit Ketten, deren Glieder so groß waren wie ich, am Boden verbunden. Auf dem vordersten Ende, umringt von niedrigen Kaufmannshäusern, stand die Kathedrale, ein schier bis in den diesigen Himmel reichender Bau aus filigranen Spitzbögen, vorstehenden Steinfiguren, unzähligen Statuen und feinen Verzierungen aus grünlich angelaufenem Metall. Es hieß, dass sie einst hell gewesen war, wie aus Sandstein, doch nun stachen die zwei großen Türme und der kleine auf dem Kirchenschiff wie schwarze Zähne in die Wolken. Um das Gotteshaus herum wurden die Häuser immer höher, und am anderen Ende der Stadt waren sie höher als der höchste Turm, komplexe Bauten aus Stahl und Stein.
Ich verließ das Luftschiff und schlug mich durch die überfüllten Gassen zu dem Gasthaus, in dem ich stets einkehrte, wenn ich in der Hauptstadt verweilte. Es war stets dunkel in den Häuserschluchten von Oscravelle, und nun, kurz bevor die Sonne hinter den Gebäuden versank, schien alles in einem ewigen Zwielicht aus gedämpften, gelblichen Schein der Lichtkerne und den bläulich grauen Schlieren der Abgase zu ertrinken. Menschen, Anima, Konstrukte, sogar ein paar Zwerge drängten sich an mir vorbei, Reiche in teurem Tuch, Arme undArbeiter in groben Stoffen, Canwy Roch in bunt gemusterten Gewändern mit klirrenden Metallverzierungen. Mechanische und echte Pferde, Drachen und Wölfe zogen Kutschen durch die schmutzigen Straßen, erste Automobile fuhren ihre reichen Besitzer durch das Chaos und ließen Wolken von stinkendem Qualm zurück, die Orbs auf ihren Motorhauben rotierten um die rötlich glühenden Energiekerne. Auf Schienen hoch über dem Straßenverkehr fuhren die Züge und spuckten schwarze Wolken in die Abendsonne. Ein Junge wollte mir meinen Geldbeutel aus der Tasche ziehen, doch ich packte seinen Arm und jagte ihm eine Kostprobe des Hex in den dürren Körper. Zuckend ging er zu Boden, Blitze flackerten um ihn. Unbeeindruckt trat ich über seinen Körper hinweg und ignorierte die milde erschrockenen Blicke der Passanten.
Ich bog von den Hauptstraßen in die engen Gassen der Arbeiterviertel ein und erreichte das Gasthaus, ein schiefes, uraltes Fachwerkgebäude, dessen Besitzer sich damit brüstete, die älteste Taverne der Stadt zu besitzen. Das Schild über der Tür zeigte einen roten Stierkopf neben dem Namen des Pubs. Ich wusste, dass es Messingkopf hieß, aber auch nur, weil der Barmann es mir gesagt hatte.
Ich trat an dem mürrischen, riesigen Türsteher vorbei in den Schankraum und ließ mich an der Theke nieder. Trübes Gaslicht erhellte halb leere Gläser und müde, schmutzige Gesichter. Die ersten Arbeiter hatten bereits die Tische besetzt. Karten und Würfel flogen über die schartigen, schwarz lackierten Tischplatten, und ich spielte mit dem Gedanken, Russells Geld ein wenig unter die Leute zu bringen, doch entschied mich dagegen. Wenn ich zwölftausend Aurai hatte, dann würde ich wirklich feiern.
Wortlos stellte Calm mir einen Krug Bier hin, und ich nahm erleichtert einen Schluck. Calm braute sein Bier selbst und war bekannt dafür, und ich habe nie etwas Vergleichbares getrunken. Ich wartete, bis er ein paar andere Gäste bedient hatte, und winkte ihn dann zu mir.
„Sindrak. Bist wieder da." Calm war kein Mann vieler Worte.
„Aye, das bin ich. War in Cloudfall, ein paar Aufträge erledigen. Du weißt schon, das Übliche. Ein paar Kleinigkeiten stehlen und diese Baupläne für den Industriemagnaten in Ashenfall. Aber jetzt habe ich einen wirklich großen Fisch am Haken." Ich senkte die Stimme. „Du wirst es nicht glauben. Lord Russell, der echte Lord Krähenmann Jethro Stuveysant Arschloch Russell, will, dass ich eine Frau finde, die die Banshee beschworen hat."
„Die Banshee", echote Calm.
„Aye, die Banshee. Angeblich ist es die echte Göttin. Die Königin der Lockenden Laternen. Die, die den Tod schreit." Ich leerte meinen Krug zur Hälfte und blickte in Calms unbeeindruckte blaue Augen. „Hast du etwas gehört?"
Calm nickte unmerklich. „Die hinter dir. Waren letztens da und haben recht aufgeregt davon gesprochen."
Ich sah in den angelaufenen Spiegel hinter der Theke. Calm polierte ihn jeden Tag und dennoch war er kein Vergleich zu den Spiegeln in Lord Russells Salon. Dennoch konnte ich die Umrisse der Männer erkennen: vier Arbeiter, einer trug ein verwaschenes, rot und grün gemustertes Hemd. Sie spielten Karten, tranken Calms Schwarzbier und beschwerten sich murmelnd über die Regierung.
Die bunte Kleidung war ein gutes Zeichen. Canwy Roch redeten für ihr Leben gern, so hieß es. Ich leerte meinen Krug, ließ mir von Calm nachfüllen und gesellte mich zu ihnen.
„Dürfte ich einsteigen?", fragte ich so freundlich es mir möglich war.
Sie blickten skeptisch zu mir hoch. Ich wusste, dass ich keine sonderlich ungefährliche Erscheinung bin. Meine Waffen und der grünlich glühende Stein auf meinem Rücken sorgten oft dafür, dass man mir nicht traute. Zu Recht. Doch der Mann mit dem bunten Hemd rutschte einladend auf seiner Bank zur Seite. „Aye, natürlich. Ich hoffe, du bist ein guter Spieler. Meine Freunde sind miserable Gegner."
Einer von ihnen, mit einem verbeulten Zylinder auf dem Kopf, schnaubte feucht. „Das liegt daran, dass du schummelst, du Hurensohn von einem Canwy Roch!"
„Oder ihr spielt einfach nur beklagenswert schlecht." Der Roch nahm die Karten vom Tisch und legte sie vor einem dritten Mann mit fettigen roten Haaren ab. „Du bist dran mit mischen."
Der Rothaarige teilte die Karten aus und legte seinen Einsatz auf den Tisch, seine Mitspieler und ich taten es ihm gleich. Ich überlegte, ob ich sie betrügen sollte, bei ihrer Verfassung wäre es reichlich einfach gewesen, doch ich wollte etwas von ihnen, und das war nicht nur ihr Geld.
Der Canwy Roch hatte recht. Der Mann mit dem Zylinder und der Rothaarige stellten sich als geradezu langweilig heraus, einzig der letzte im Bunde, ein Animus mit der Seele eines Pumas, bewies sich als annehmbar. Dennoch artete das Spiel mehr und mehr in ein Duell aus, in dem ich und der Roch sich maßen, wer von uns die anderen besser benutzen konnte.
Schließlich legte der Roch die letzte Karte auf den Tisch. Ich legte meine schicksalsergeben daneben. Der Roch brach in Jubel aus, ich leerte meinen Krug und die anderen drei taten es mir gleich. Ich wusste genau, dass er eine Karte im Ärmel versteckt hatte, doch sprach ihn nicht darauf an.
Stattdessen nahm ich die Karte, die die Banshee zeigte, und betrachtete sie. Ein schlanker Drache mit wallender Mähne, gefesselt mit dünnen Leinen, an denen Perlen und schwarze, orangefarben leuchtende Laternen befestigt waren, das Maul weit aufgerissen, die Augen weiß und ohne Pupille. „Habt ihr auch was von der Frau gehört, die die Banshee beschworen hat?"
Der Rothaarige prustete in seinen Krug. „Ich hab es gesehen! Ich war dabei!", rief er aufgeregt.
Ich hob zweifelnd eine Augenbraue.
„Wir alle haben es gesehen! Ich und meine Mary. Wir waren zusammen im Zirkus, der, der auf dem Marktplatz von Saint Oreph ist. Da war eine Frau, ich hab vergessen, wie sie hieß, aber sie wollte Dämonen beschwören. Das war das, wofür der Zirkus bekannt ist. Donny hat erzählt, sie lässt die Dämonen sich in tanzende nackte Frauen und Raubtiere und Nebel verwandeln, sie zeigt alles, was die Dämonen können. Sie lässt sie sogar mit ihrer Macht Statuen zerstören! Ich war schon ganz gespannt, du weißt schon, nackte Frauen." DerRothaarige wackelte mit den beinahe unsichtbaren Augenbrauen. „Und der Direktor kündigt sie an, die große Madame, die die dunklen Mächte für sich tanzen lassen kann. Sie kommt herein und vollführt ein Ritual, komplett mit einem toten Huhn und einem mit magischen Symbolen verzierten Dolch. Sie singt also so eine Litanei in einer fremden Sprache", er senkte die Stimme und winkte mich zu sich heran, „und statt der versprochenen sechs nackten Frauen steht plötzlich der Schatten eines riesigen Drachen in der Manege." Er nahm die Karte aus meinen Fingern und hielt sie mir unter die Nase. „Dieser Drache. Genau dieser. Mit den leeren Augen und der Mähne. Die Königin der Laternen. Ich war einfach nur begeistert. Scheiß auf nackte Frauen. Sie hat es geschafft, eine Göttin zu beschwören!"
„Was hat sie dann getan?", hakte ich nach.
Er zuckte mit den Schultern. „Sie hat die Banshee ein paar Kunststücke aufführen lassen. Wie einen dressierten Hund."
„Und das hat sie sich gefallen lassen?" Ein Erzdämon, dessen Schrei den Tod bedeutete, der sich wie ein ordinäres Zirkustier behandeln ließ, kam mir ein wenig unwahrscheinlich vor.
Der Rothaarige zuckte mit den Schultern. „Sah zumindest so aus. Als die Frau sie entlassen hat, ist sie fast in Ohnmacht gefallen, und dann hat man hinter den Kulissen einen grauenhaften Schrei gehört. Wie eine pfeifende Gaslaterne, nur viel schlimmer. Dann war die Vorstellung vorbei und wir sind nach Hause gegangen."
Ich konnte mir gut vorstellen, dass in jenem Moment jemand hinter der Bühne gestorben war. „Was ist das denn für ein Zirkus?"
„Speke Alderberrys Cirque aux Miracles", sagte der Canwy Roch. „Speke ist ein alter Freund meines Großcousins. Sie gehören zu uns." Er legte die Hand auf sein buntes Hemd.
Das war in der Tat eine erfreuliche Nachricht. Ich bin schon immer gut mit den Roch ausgekommen, vor allem, weil sie fast genauso gut betrügen und noch viel mehr Schnaps vertragen als ich. Auch der Mann im roten Hemd schien noch standfest, während die Bewegungen der anderen zusehends fahriger wurden.
„Aber wenn du Madame Belladonna sehen willst, spare dir deine Pennys. Sie haben sie aus dem Programm genommen. Stattdessen ist jetzt der Starke Mann ihre Hauptattraktion", fügte der Roch hinzu.
„Mieser Tausch", bemerkte der Rothaarige missmutig. „Tanzende Dämonenfrauen machen viel mehr her als ein Mann, der ein mechanisches Pferd stemmen kann."
Der Roch grinste. „Sie lassen eine nackte Frau auf dem Pferd Kunststücke aufführen."
„Sie sind nicht einfach weitergezogen? Ich meine, es war die Banshee. Ihr wisst, was man über ihre Schreie behauptet." Ich stieß die Karte mit dem schreienden Drachen an.
Der Canwy Roch nahm einen Schluck aus seinem Krug und winkte der vollbusigen Schankmaid. „Aye. Es heißt, es ist tatsächlich jemand gestorben. Wer genau, darüber zerreißen sich alle das Maul, und keiner, der es wirklich gesehen hat, verliert ein Wort darüber. Es heißt aber, es sei einer der Manegenarbeiter gewesen." Er unterbrach sich und bestellte eine Runde Schnaps. „Und natürlich wollten sie weiterziehen. Aber Orephy, ihr Protektor, hat ihnen befohlen, zu bleiben, bis sie alle versprochenen Aufführungen beendet haben." Er senkte die Stimme. „Aber du musst wissen, dass du nicht der erste bist, der nach ihnen fragt. Du siehst aus wie ein anständiger Kerl, aber vor einiger Zeit waren ein paar zwielichtige Typen mit dem Wappen von Cinderport in den Canwy Roch-Lagern und haben sich umgehört. Pass auf, wo du hingehst."
Wenn sie Calm nicht direkt danach fragten, würden sie auch nie erfahren, dass ich kein anständiger Kerl war. Hoffentlich taten sie es nicht. Die Canwy Roch auf den Fersen zu haben war etwas, was man nicht einmal seinen schlimmsten Feinden wünschte. Ich nickte. „Ich bin vorsichtig, keine Angst."
Die Frau brachte den Schnaps, billiges Zeug aus Wacholderbeeren. Der Roch verteilte die Gläser, der Mann mit dem Zylinder blickte mürrisch auf sein Glas. „Muss das sein? Meine Frau bringt mich um, wenn ich schon wieder betrunken nach hause komme."
„Dann ist es jetzt auch egal, denn betrunken bist du schon." Der Roch nahm sein Glas, ich und die anderen taten es ihm gleich. „Auf dass unser Geld nicht nur in den Taschen der Barmänner und Huren landet."
Der Rothaarige brummte zustimmend, und wir stürzten unsere Getränke hinunter. Kein Vergleich zu dem bloßen Geruch von Lord Russells Whiskey.
Wir tranken, bis Calm zur letzten Runde klingelte und die vier Männer aus dem Gasthaus taumelten. Der Rothaarige übergab sich geräuschvoll in den Rinnstein, der Roch winkte mir zum Abschied zu. Ich schlug den Weg in eine andere Richtung ein, dort, wo die Laternen rot leuchteten und Frauen Liebe für Silber versprachen, und hüllte mich in den Nebel aus Rauch und Geheimnissen, der Oscravelle umgab.
~ ~ ~
Wenn ihr so etwas wie ein Glossar braucht, für all die seltsamen Begriffe - Animus, Canwy Roch, Hex - ruft einmal, bitte. Und dazu die Worte, die ihr erklärt haben wollt.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro