Kapitel 2 Band 8
Der große Esstisch im Rosavelle-Haus war reich gedeckt, doch die Stimmung war alles andere als entspannt. Der Zeitungsartikel, der Rosavelle Essence so detailliert beschrieben hatte, war das Hauptthema der Diskussion – und niemand war darüber erfreut.
Shade war der erste, der seinen Ärger laut äußerte. Er zischte gereizt, während er sein Besteck beiseitelegte. „Wie soll ich jetzt noch unauffällig bleiben? Diese verdammten Journalisten! Die sind verdammt gut. Wie konnten sie all das herausfinden?" Seine gelben Augen blitzten vor Frustration, und er sah sich suchend nach Zustimmung um.
Jake, der neben Chaylin saß, schnaubte. „Ich stimme Shade zu. Das hier macht alles komplizierter. Wir haben uns wochenlang bemüht, im Hintergrund zu bleiben, und jetzt kennt die halbe Stadt unsere Pläne."
„Nicht nur unsere Pläne," fügte Felix hinzu, der sich in seinem Stuhl zurücklehnte und mit einem Löffel in der Luft wedelte. „Die haben sogar Sei erwähnt! Der Kolluseum-Champion, Mitglied der Rosavelle-Familie? Wirklich diskret."
„Die wissen auch von den Verträgen mit den Gilden," warf Alex ein und rieb sich die Stirn. „Das war vertrauliche Information. Jetzt wird jeder Alchemist und Heiler in der Stadt wissen, dass wir exklusive Zugänge haben. Das wird Neider anziehen."
„Und Feinde," ergänzte Gray ruhig, der neben Alex saß und dabei seine Arme verschränkte.
„Und dann noch die Sache mit dem Dämonischen Observatorium," meldete sich Mio, seine Stimme kühl, doch seine violetten Augen funkelten. „Chaylins Detektei wird jetzt schon mit Erwartungen überladen, bevor sie überhaupt eröffnet hat. Ganz zu schweigen davon, dass wir jetzt potenziellen Spionen Tür und Tor öffnen."
Die Familie sprach durcheinander, und die Beschwerden wurden immer lauter. Alle waren in das Chaos vertieft – alle außer Emilia.
Sie saß still auf ihrem Platz und rutschte immer tiefer in ihren Stuhl. Ihre Finger spielten nervös mit ihrer Serviette, und ihre kastanienbraunen Augen waren auf ihren Teller gerichtet. Die Schuld wuchs in ihr, während die Stimmen um sie herum immer heftiger wurden.
Shade schlug mit der Faust auf den Tisch, um Ruhe zu erzwingen. „Irgendjemand hat geplaudert! Das ist sicher. Aber wer?"
Da hielt Emilia es nicht mehr aus. Ihr Herz hämmerte, und die Worte sprudelten aus ihr heraus, bevor sie sich zurückhalten konnte. „Ich war es!" rief sie und sprang fast von ihrem Stuhl auf.
Die ganze Familie verstummte und starrte sie an. Shade zog eine Augenbraue hoch, während Alex überrascht blinzelte.
„Was meinst du damit, du warst es?" fragte Jake, der sie mit einer Mischung aus Verwunderung und Ärger anblickte.
Emilia senkte den Blick und drehte nervös die Serviette in ihren Händen. „Naja... ich wurde befragt. Eine Journalistin kam neulich zu mir, als ich draußen war. Sie war so nett und hat gefragt, was wir hier so machen. Und naja... ich habe geplaudert."
„Du hast geplaudert?" fragte Felix mit ungläubiger Stimme, wobei seine goldenen Augen gefährlich funkelten. „Was genau hast du geplaudert?"
„Alles, was sie wissen wollte," murmelte Emilia kleinlaut. „Ich dachte, es wäre gute Werbung! Ist es ja auch... irgendwie."
Shade ließ ein langgezogenes Zischen hören, und Jake legte die Hand an die Stirn, als würde er Kopfschmerzen bekommen.
„Emilia," begann Alex ruhig, aber mit einem Hauch von Strenge in der Stimme, „das war ein Fehler. Gute Werbung ist eine Sache, aber du hast vertrauliche Informationen preisgegeben."
„Ja," fügte Gray hinzu, seine Stimme kühl wie immer. „Das ist keine Werbung, das ist eine Einladung. Du hast den Leuten da draußen gerade alles gegeben, was sie brauchen, um uns anzugreifen. Du hast uns exponiert."
„Es ist nicht nur das," fügte Jake hinzu, seine Stimme schärfer. „Jetzt wissen nicht nur mögliche Feinde von unseren Plänen, sondern auch jede noch so neugierige Seele in Eversum. Das wird Gerüchte anziehen, Bewerber, Rivalen – und all das, bevor wir überhaupt eröffnet haben."
Chaylin, die bisher geschwiegen hatte, seufzte leise und sah Emilia mit einem verständnisvollen, aber strengen Blick an. „Emilia, wir verstehen, dass du es gut gemeint hast. Aber solche Informationen sind gefährlich. Vor allem jetzt, wo wir uns mit Gruppen wie Nox Vigilia herumschlagen müssen. Die nutzen jede Schwäche, die sie finden können."
Mio, der bisher nur beobachtet hatte, lehnte sich vor und legte die Finger aneinander. „Herzlicht, du hast recht, dass Werbung wichtig ist. Aber das hier ist keine Werbung. Das ist... ein strategischer Albtraum."
Emilia nickte langsam, ihre Augen waren voller Reue. „Es tut mir leid. Ich wusste nicht, dass es so schlimm ist."
„Schlimm ist es nicht," sagte Jake schließlich und stand auf. Seine Stimme war fest, aber nicht kalt. „Aber wir müssen jetzt noch vorsichtiger sein. Was geschehen ist, ist geschehen. Wir müssen damit arbeiten."
Felix seufzte und schob seinen Teller weg. „Also gut. Was machen wir als Nächstes?"
Die Frage blieb im Raum stehen, während die Familie sich langsam wieder beruhigte und begann, die nächsten Schritte zu planen. Doch die Spannung blieb spürbar, und Emilia konnte das Gewicht ihrer Worte noch immer spüren. Tränen sammelten sich in ihren Augen.
Die Spannung am Tisch war greifbar. Shade hatte seine harschen Worte kaum ausgesprochen, als Emilia plötzlich aufsprang. Tränen liefen ihr über die Wangen, und ihre Stimme zitterte vor Emotionen, als sie herausplatzte: „Ich weiß, okay?! Ich weiß, dass ich es vermasselt habe! Es tut mir leid! Ich wollte doch nur etwas Gutes tun!"
Ihre Worte hallten nach, und sie ließ sich schwer zurück auf ihren Stuhl sinken, die Hände zitternd auf den Tisch gelegt. Die gesamte Familie beobachtete sie, doch diesmal wurde sie nicht sofort getröstet. Die Blicke, die auf ihr lagen, waren ernst, fast schon streng.
Jake war der Erste, der sprach. Seine Stimme war ruhig, aber klar und unverkennbar ernst. „Amy, du hast einen Fehler gemacht. Das können wir nicht beschönigen. Es war falsch, vertrauliche Informationen an jemanden weiterzugeben, der sie nicht hätte wissen dürfen."
Emilia sah ihn durch ihre Tränen hindurch an, doch er wich ihrem Blick nicht aus.
„Das hier ist nicht nur irgendein Geschäft," fuhr Jake fort. „Es geht um unsere Sicherheit, um unsere Familie. Du hast nicht nachgedacht, und das hat uns alle in Gefahr gebracht."
Felix lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme. „Werbung ist gut, Amy. Aber du kannst nicht einfach mit jedem Fremden über Interna reden. Die Welt da draußen ist nicht freundlich, besonders nicht zu uns."
„Das hier," fügte Shade scharf hinzu, seine gelben Augen fixierten sie, „ist genau der Grund, warum wir nicht leichtsinnig sein dürfen. Nox Vigilia könnte diese Informationen nutzen, und du weißt genau, was das für uns bedeutet."
Emilia schluchzte leise und senkte den Kopf, ihre Schuldgefühle lasteten schwer auf ihr. „Ich... ich wollte doch nur, dass die Leute wissen, was wir machen. Ich dachte, es wäre wichtig."
Alex, der bisher geschwiegen hatte, schob seinen Stuhl zurück und stand auf. Seine Stimme war ruhig, aber eindringlich. „Emilia, wir wissen, dass du es gut gemeint hast. Aber deine Absichten ändern nichts an den Konsequenzen. Es war ein Fehler, und das musst du einsehen. Wenn du das nächste Mal so etwas tust, musst du vorher nachdenken – oder uns fragen."
Die Stille, die auf seine Worte folgte, war fast unerträglich für Emilia. Die Tränen liefen weiter über ihre Wangen, und sie schniefte leise. Doch dann trat Chaylin an ihre Seite, legte eine Hand auf ihre Schulter und sprach mit sanfter, aber bestimmter Stimme. „Amy, wir lieben dich. Aber das bedeutet auch, dass wir ehrlich zu dir sein müssen. Du hast Mist gebaut, und das müssen wir alle jetzt ausbaden. Das ist Teil der Verantwortung, die wir als Familie tragen."
Emilia nickte langsam, obwohl die Tränen weiter flossen. „Ich... ich verstehe. Es tut mir so leid."
Jake, der nun ebenfalls aufgestanden war, trat zu ihr und legte ihr eine Hand auf den Kopf. „Wir wissen, dass es dir leid tut. Und wir verzeihen dir. Aber das bedeutet nicht, dass du keine Konsequenzen aus deinen Fehlern ziehen musst."
Felix seufzte, schüttelte den Kopf und trat schließlich näher. „Komm her, Amy." Er zog sie in eine Umarmung, obwohl sein Ton streng blieb. „Das nächste Mal überlegst du dir, wem du was erzählst, klar? Und wenn du unsicher bist, frag uns. Wir sind alle hier, um dir zu helfen."
Emilia nickte zögernd in seiner Umarmung. „Ich verspreche, dass ich in Zukunft vorsichtiger bin."
„Das solltest du auch," murmelte Shade, doch seine Stimme war weniger hart als zuvor. „Wir brauchen dich, Emilia. Aber wir brauchen dich, um klug zu sein."
Die Familie sammelte sich langsam wieder um den Tisch, und obwohl die Spannung noch nicht ganz verschwunden war, begann sich die Atmosphäre zu entspannen. Jake klopfte Emilia sanft auf die Schulter, bevor er sich wieder setzte.
„Lass uns draus lernen und weitermachen," sagte er schließlich und griff nach seinem Becher. „Wir haben genug zu tun, um das wieder geradezubiegen."
Emilia wischte sich die letzten Tränen aus den Augen, ihre Wangen noch gerötet, aber sie fühlte die Wärme und den Zusammenhalt ihrer Familie. Trotz ihres Fehlers wusste sie, dass sie nicht allein war.
Emilia löste sich langsam aus Felix' Umarmung, ihre kastanienbraunen Augen waren noch von Tränen gerötet, doch ein Funke Entschlossenheit war in ihrem Blick zu erkennen. Sie wischte sich mit dem Handrücken die letzten Tränen weg und atmete tief durch.
„Ihr habt recht," sagte sie schließlich, ihre Stimme leise, aber fest. „Ich habe einen Fehler gemacht. Und ich sehe das ein. Ich hätte nicht so unbedacht handeln dürfen. Es war dumm von mir, einfach alles zu erzählen, ohne darüber nachzudenken, was das für Konsequenzen hat."
Die Familie sah sie an, und diesmal war die Strenge in ihren Blicken gemildert, ersetzt durch leise Zustimmung.
„Ich verspreche, dass ich in Zukunft schlauer handeln werde," fuhr Emilia fort und sah zu jedem von ihnen. „Ich werde nicht mehr einfach handeln, ohne mit euch zu reden. Ich werde mich mehr anstrengen, besser zu sein."
Jake nickte langsam, ein kleines Lächeln spielte um seine Lippen. „Das ist gut, Amy. Der erste Schritt, um besser zu werden, ist, deine Fehler einzugestehen."
„Und das tust du jetzt," fügte Felix hinzu, seine goldenen Augen auf Emilia gerichtet. „Allein, dass du dir das selbst eingestehst, zeigt, dass du reifer wirst."
„Genau," sagte Chaylin mit einem sanften Lächeln, während sie ihre Hand auf Emilias Schulter legte. „Es gehört viel Mut dazu, zuzugeben, dass man falsch gelegen hat. Viele würden versuchen, sich herauszureden oder Ausreden zu finden. Aber du hast die Verantwortung übernommen. Das ist ein starkes Zeichen, Amy."
„Und ein wichtiger Schritt nach vorn," sagte Alex, seine Stimme ruhig und warm. „Niemand erwartet von dir, dass du perfekt bist. Aber zu lernen und zu wachsen – das ist es, was wirklich zählt."
Mio zwinkerte Emilia zu, sein Tonfall spielerisch, aber aufmunternd. „Mein Licht, wenn du das nächste Mal in Versuchung kommst, einem neugierigen Journalisten dein Herz auszuschütten, ruf einfach mich. Ich lenke sie mit meinem Charme ab."
Das brachte ein schwaches Lächeln auf Emilias Gesicht, und die Spannung im Raum löste sich weiter auf.
„Danke," sagte sie schließlich, ihre Stimme fester als zuvor. „Danke, dass ihr mir helft, es besser zu machen. Ich werde euch nicht enttäuschen."
„Das wissen wir," sagte Jake und legte eine Hand auf ihre Schulter. „Wir wissen, dass du das Herz am richtigen Fleck hast, Amy. Und das ist das Wichtigste."
Emilia nickte, ihre Schuldgefühle waren noch da, aber die Unterstützung ihrer Familie ließ sie leichter werden. Trotz ihres Fehlers fühlte sie sich stärker und bereit, sich ihrer Verantwortung zu stellen – für die Familie und für das, was vor ihnen lag.
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Die ersten Sonnenstrahlen eines neuen Tages, krochen durch die Fenster des Rosavelle-Hauses und tauchten die Räume in ein warmes, goldenes Licht. Der Morgen war ruhig, abgesehen von den üblichen Geräuschen der belebten Stadt, die langsam erwachte. Im Hof konnte man bereits das gedämpfte Rufen von Lieferanten hören, während die Vögel – oder besser gesagt die Flügelschwinger – in den nahen Bäumen zwitscherten.
Im Inneren des Hauses war jedoch Bewegung zu spüren. Jake und Gray bereiteten sich darauf vor, zur Stadtwache aufzubrechen. Die Spannung vom Vorabend hing noch leicht in der Luft, doch die frische Brise des neuen Tages versprach eine bessere Gelegenheit, die Dinge zu klären.
Gray schnürte seinen dunklen Mantel zu, sein Blick prüfte jede Falte, als hätte er vor, vor einem Tribunal zu erscheinen. Jake hingegen zog seine Jacke an und grummelte, während er sich die Ärmel zurechtzog.
„Ich hoffe, Valion hat Antworten," murmelte Jake, sein Ton rau. „Ich habe keine Lust, meine Zeit mit jemandem zu verschwenden, der offensichtlich seine Arbeit nicht im Griff hat."
Gray hob eine Augenbraue und musterte ihn aus den Augenwinkeln. „Dann sorge dafür, dass er sie in den Griff bekommt. Wir können es uns nicht leisten, die Dämmerwacht als Verbündeten zu verlieren."
Jake schnaufte und schnürte seine Stiefel, als die Tür hinter ihnen aufging und Emilia eintrat. Sie hatte sich für den Tag in ein warmes lockeres Kleid gehüllt, das ihren schwangeren Bauch bequem umfasste. Ihre kastanienbraunen Augen funkelten entschlossen, auch wenn sie noch ein wenig müde aussah.
„Ich komme mit," sagte sie, ohne Vorwarnung.
Jake hob den Kopf und sah sie überrascht an. „Was? Warum?"
„Ich brauche frische Luft," antwortete Emilia. „Außerdem möchte ich euch begleiten. Ich kann euch helfen, falls ihr Fragen habt oder... naja, falls etwas passiert."
Jake verschränkte die Arme und warf Gray einen fragenden Blick zu. Dieser zuckte nur mit den Schultern und sah Emilia abwartend an.
„Das ist keine gute Idee," begann Jake, doch Emilia hob die Hand, um ihn zu unterbrechen.
„Jake, ich bin schwanger, nicht aus Porzellan," sagte sie mit Nachdruck. „Ich werde nur mitkommen, um ein bisschen Bewegung zu bekommen. Ich verspreche, mich nicht einzumischen."
Gray schmunzelte leicht. „Hört sich an, als hätten wir keine Wahl, Jake."
Nach einigem Zögern stimmte Jake schließlich zu. „Na schön, aber bleib in meiner Nähe, Amy. Keine Alleingänge, keine Risiken. Klar?"
„Klar," sagte Emilia mit einem leichten Lächeln.
Die drei machten sich bereit und gingen schließlich zur Haustür. Jake und Gray öffneten sie, als die frische Morgenluft ihnen entgegenströmte. Emilia zog ihren Schal enger um sich, bereit, ihnen zu folgen. Doch als sie einen Schritt nach draußen machen wollte, stoppte sie plötzlich.
Ihre Hand glitt zu ihren Ohren, und sie warf einen nervösen Blick über ihre Schulter zu ihrem Schweif. Etwas fühlte sich... falsch an.
Jake bemerkte ihre Unsicherheit und drehte sich um. „Was ist los? Warum bleibst du stehen?"
Gray trat ebenfalls näher, seine Augen prüfend auf sie gerichtet. „Emilia?"
Emilia wirkte plötzlich blass, und ihre Stimme klang unsicher, als sie antwortete. „Ich... ich kann meine Merkmale nicht tarnen."
Jake runzelte die Stirn. „Wie meinst du das?"
„Ich meine, es geht nicht!" Sie griff erneut nach ihren Ohren und ihrem Schweif, ihre Finger zitterten leicht. „Ich habe es immer getan – automatisch, sobald ich das Haus verlasse. Aber jetzt... ich kann mich nicht konzentrieren. Es geht einfach nicht."
Gray zog die Augenbrauen hoch, seine Stimme war ruhig, aber wachsam. „Setz dich hin. Wir holen Alex."
Jake nickte und rief laut nach Alex. Es dauerte nur einen Moment, bis dieser die Treppe herunterkam, noch halb verschlafen und mit zerzaustem Haar.
„Was ist los?" fragte Alex mit einem Gähnen, als er die Gruppe an der Tür sah.
„Emilia kann ihre Merkmale nicht tarnen," erklärte Jake knapp.
Alex' Blick wurde sofort ernst. Er ging zu Emilia und musterte sie aufmerksam. „Amy, was genau fühlst du? Versuch es noch einmal."
Emilia nickte und schloss die Augen, doch schon nach wenigen Sekunden zuckte sie zusammen und legte eine Hand auf ihren Bauch. „Es zieht... ich spüre ein Ziehen, sobald ich es versuche. Es fühlt sich falsch an."
Alex seufzte und zog einen Stuhl heran. „Setz dich. Ich glaube, ich weiß, was los ist."
Als Emilia sich zögernd hinsetzte, kniete Alex sich vor sie und sprach mit ruhiger, erklärender Stimme. „Das Tarnen deiner Merkmale verbraucht Mana, und da du das jeden Tag tust, hast du deine Mana-Reserven überstrapaziert. Normalerweise ist das kein Problem, aber in deinem Zustand ist es gefährlich."
„Gefährlich?" fragte Emilia erschrocken.
Alex nickte ernst. „Ja. Dein Körper hat unterbewusst auf das Mana des Babys zugegriffen, um den Tarnprozess aufrechtzuerhalten. Und jetzt schützt dein Körper das Baby, indem er das Tarnen komplett blockiert. Das ist eine natürliche Abwehrreaktion. Du wirst dich eine lange Zeit nicht tarnen können, Emilia."
Emilia starrte ihn an, ihr Gesicht blass vor Schock. „Das kann doch nicht sein... ich kann nicht einfach so herumlaufen! Was, wenn mich jemand sieht?"
Jake legte eine Hand auf ihre Schulter und sprach ruhig, aber fest. „Amy, du wirst damit klarkommen müssen. Wir finden eine Lösung, aber fürs Erste musst du akzeptieren, dass das Baby wichtiger ist."
Gray nickte zustimmend. „Deine Sicherheit steht an erster Stelle. Niemand hier wird zulassen, dass dir etwas passiert."
Emilia schluckte schwer, ihre Finger umklammerten ihren Schal. „Ich... ich verstehe. Aber ich habe Angst."
Alex legte eine Hand auf ihren Arm und sah ihr in die Augen. „Es ist okay, Angst zu haben. Aber du bist stark, Emilia. Und wir sind hier, um dich zu schützen."
Emilia nickte schließlich zögernd, auch wenn ihre Unsicherheit noch immer spürbar war. „Ich werde es versuchen."
Jake legte eine Hand auf Emilias Schulter und sprach ruhig, aber bestimmt: „Emilia, du kannst ruhig so mitkommen. Wir gehen zur Stadtwache, da wird dich keiner sehen oder dir etwas antun wollen."
Emilia seufzte tief, zog jedoch Jacke und Schal wieder aus. „Nein, geht ohne mich. Ich bleibe heute doch lieber zuhause."
Gray nickte leicht, sein Blick zeigte jedoch ein Hauch von Besorgnis. „Na gut. Wir finden eine Lösung, Emilia. Mach dir nicht zu viele Gedanken."
Jake und Gray, beide mit ernsten Mienen, warfen noch einen letzten prüfenden Blick auf Emilia, bevor sie die Tür öffneten. Alex, der immer noch neben ihr stand, musterte sie ebenfalls mit einer Mischung aus Fürsorge und Nachdenklichkeit.
„Pass auf dich auf, Amy," sagte Jake, bevor er die Tür hinter sich schloss.
Die Schritte der Männer verklangen draußen, und Emilia blieb mit Alex allein, die Hände schützend auf ihren Bauch gelegt. Alex setzte sich neben sie, legte beruhigend eine Hand auf ihren Arm und sprach mit sanfter Stimme weiter, um ihre Sorgen zu lindern.
......
...
Jake und Gray gingen Seite an Seite durch die Straßen von Eversum, die Morgenluft noch kühl und frisch. Die Geräusche der erwachenden Stadt umgaben sie, doch beide schwiegen eine Weile, tief in Gedanken versunken. Schließlich war es Gray, der das Schweigen brach.
„Jake," begann er, sein Blick nachdenklich, „hast du ihren Blick gesehen? Emilia sah aus, als würde sie das Haus nie wieder in diesem hilflosen Zustand verlassen wollen."
Jake nickte langsam, seine Stirn in Falten gelegt. „Ja, ich habe es gesehen. Wir müssen etwas gegen ihre Angst machen. So kann es nicht weitergehen. Dieses ständige Tarnen – ich verstehe, warum sie es macht, aber langsam wird es lächerlich. Ihre Angst sitzt zu tief."
Gray sah ihn prüfend an. „Du denkst, es liegt nur an der Angst?"
Jake seufzte. „Es ist mehr als das. Diese Angst ist neu, etwas, das sie in ihren früheren Leben nie hatte. Wenn wir das nicht bald in den Griff bekommen, wird sie sich so tief in ihre Seele graben, dass sie es in ihr nächstes Leben mitnimmt. Und das dürfen wir nicht zulassen."
Gray nickte zustimmend, sein Ton wurde ernster. „Wir müssen ihr als ganze Familie helfen. Es darf nicht allein an ihr hängenbleiben. Sie braucht Lösungen, und die können wir nur gemeinsam finden. Ihre größte Sorge liegt darin, dass sie fürchtet, dass ihr schweifreicher Mana eine begehrte Jagdbeute sein könnte."
Jake schob die Hände in die Taschen seiner Jacke und sprach leiser weiter. „Es geht nicht nur um die Angst. Sie hat von klein auf gelernt, ihren Schweif zu verstecken, ihre Ohren zu tarnen – sich unsichtbar zu machen. Es ist tief in ihr verankert, fast wie ein Reflex. Und seit sie von diesem Verrückten gehört hat, der in Eversum angeblich eine Schwäche für Valkyrien hat, ist sie doppelt vorsichtig geworden. Sie hat sich nicht mal mehr getraut, erneut nach der gefangenen Valkyrie zu fragen, die sie im Katalog von Kedric Vallon vorfand. Das macht mir Sorgen."
Gray runzelte die Stirn. „Ich erinnere mich. Das habt ihr uns erzählt. Und dann noch dieser Fehler mit dem Journalisten..., ich glaube, sie ist einfach ein wenig durch den Wind. Die Hormone, die Schwangerschaft – das alles setzt ihr zu. Aber ja, du hast recht, Jake. Diese Angst darf nicht überhandnehmen. Wir müssen sie davon befreien."
Jake blieb kurz stehen, die Stirn in tiefe Falten gelegt, bevor er mit entschlossener Stimme sprach. „Egal wie – wir werden das regeln. Emilia ist stärker, als sie denkt, aber manchmal braucht sie einen Anstoß, um das selbst zu sehen. Wir werden dafür sorgen, dass sie diese Angst nicht länger in sich trägt."
Gray legte Jake eine Hand auf die Schulter und nickte. „Gemeinsam, Jake. Das ist der einzige Weg."
Jake warf ihm einen ernsten Blick zu, bevor die beiden ihren Weg zur Dämmerwacht fortsetzten. Ihre Schritte hallten leise auf den Kopfsteinpflasterstraßen, doch ihre Gedanken waren laut, erfüllt von der Sorge um Emilia – und von der Entschlossenheit, ihr zu helfen.
......
Die Dämmerwacht, ein beeindruckendes Gebäude aus dunklem Stein und geschmiedetem Eisen, ragte majestätisch im Herzen von Eversum empor. Die Sonne spiegelte sich in den polierten Wappen der Stadtwache, die das massive Tor flankierten. Das Gewimmel von Dämonen, die kamen und gingen, ließ erkennen, dass die Dämmerwacht an diesem Tag alles andere als ruhig war.
Jake und Gray schritten selbstbewusst auf den Haupteingang zu. Die beiden trugen ihre typische Aura der Autorität, als sie sich dem ersten Wachposten näherten, einem hochgewachsenen Werwolf in einer schimmernden Rüstung mit dem Symbol der Dämmerwacht auf der Brust.
„Wir möchten Varion Morgengrad sprechen," begann Jake ohne Umschweife, seine Stimme fest und direkt. „Wir sind Mitglieder der Rosavelle-Familie."
Der Wachposten musterte sie, seine Haltung unverändert steif. „Ohne Termin geht das nicht. Der Leiter ist sehr beschäftigt. Sie müssten einen Termin vereinbaren."
Jake zog eine Augenbraue hoch und verschränkte die Arme. „Einen Termin? Wir sprechen hier von einer dringenden Angelegenheit, die die Sicherheit der Stadt betrifft. Ich will Varion Morgengrad sofort sprechen, und wenn das nicht möglich ist, dann setzen wir es durch, verstanden?"
Der Werwolf blieb unbeeindruckt und schüttelte den Kopf. „Viele wollen den Leiter sprechen, Rosavelle oder nicht. Die Regeln gelten für alle. Ohne Termin kommen Sie nicht weiter."
Jake knurrte leise und machte einen Schritt näher, sein Ton wurde schärfer. „Hören Sie, ich habe keine Zeit für Spielchen. Wenn Sie mich nicht sofort durchlassen, werden Sie es bereuen."
Doch der Wachposten blieb stur. „Regeln sind Regeln, Sir."
Gray, der bisher ruhig geblieben war, trat nun vor und legte Jake eine Hand auf den Arm. „Lass mich mal, Jake," sagte er leise, bevor er sich mit einem charmanten Lächeln an den Wachposten wandte.
„Entschuldigen Sie meinen Begleiter," begann Gray in sanftem Ton, seine Stimme hatte etwas Beruhigendes, fast Fließendes, das an die Natur eines Wassergeistes erinnerte. „Wir verstehen, dass Sie strenge Regeln haben. Es ist offensichtlich, dass Sie einen äußerst wichtigen und anstrengenden Job machen. Die Dämmerwacht ist schließlich das Rückgrat dieser Stadt."
Der Werwolf hob leicht den Kopf, seine strenge Haltung lockerte sich ein wenig.
„Aber verstehen Sie," fuhr Gray fort, seine Stimme wurde noch sanfter, „unsere Familie hat es nur im Sinn, Eversum zu helfen. Und wir möchten sicherstellen, dass wir Varion Morgengrad direkt informieren können, bevor etwas Ernstes passiert. Es wäre wirklich eine Erleichterung für uns – und vermutlich auch für ihn."
Der Wachposten zögerte, sichtlich hin- und hergerissen. Schließlich seufzte er. „Na gut. Ich mache eine Ausnahme. Aber nur dieses eine Mal."
Er deutete mit einem Nicken auf eine Tür und gab ihnen eine kurze Wegbeschreibung. „Gehen Sie durch das Hauptfoyer, dann die Treppe hinauf. Das Büro des Leiters ist am Ende des Korridors. Aber machen Sie keinen Ärger."
Jake grinste breit und klopfte Gray auf die Schulter. „Na geht doch. Du bist wirklich der Beste, Gray."
Gray zuckte lächelnd mit den Schultern. „Manchmal hilft es, ein bisschen zu schmeicheln, und naja mit meinem natürlichen charisma als Wassergeist Einfluss zunehmen. Aber du warst auch eine große Inspiration mit deinem Charme, Jake."
Jake schnaubte belustigt. „Ja, klar. Los, gehen wir."
Die beiden machten sich auf den Weg durch das imposante Gebäude, geführt von der Wegbeschreibung des Wachpostens. Während sie die breiten Treppen hinaufstiegen, blieb Jakes zufriedenes Grinsen bestehen. Gray hatte die Situation souverän gelöst, und jetzt waren sie endlich auf dem Weg, Antworten zu bekommen.
Die Tür zum Büro von Varion Morgengrad war aus schwerem Holz, mit dem Emblem der Dämmerwacht kunstvoll eingraviert. Jake und Gray warfen sich einen kurzen Blick zu, bevor Jake anklopfte.
„Herein," ertönte eine tiefere Stimme von innen.
Die beiden traten respektvoll ein. Das Büro war geräumig, aber mit Aktenbergen und Papieren übersät. Varion Morgengrad, ein imposanter Dämon mit silbernem Haar und einer durchdringenden Präsenz, saß hinter seinem Schreibtisch, den Kopf tief über eine Mappe gebeugt. Er wirkte beschäftigt, fast erschöpft, als er aufsah.
„Was gibt es?" fragte er knapp und hob eine Augenbraue, als er die beiden genauer musterte. „Ich habe keinen Termin mit Ihnen."
Jake trat einen Schritt vor, seine Haltung selbstbewusst, fast herausfordernd. „Wir stellen uns erst mal vor: Jake und Gray Rosavelle, Mitglieder der Rosavelle-Familie."
Varion ließ seine Feder sinken und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, wobei sein Gesicht Überraschung zeigte. „Rosavelle? Hm... ich bin mir sicher, ich hätte mich an einen Termin mit Ihnen erinnert."
Jake zuckte mit den Schultern, ein provokantes Lächeln umspielte seine Lippen. „Manchmal braucht man keinen Termin, wenn das Thema wichtig genug ist."
Bevor Jake weitermachen konnte, legte Gray ihm beruhigend eine Hand auf den Arm und trat vor. Seine Stimme war ruhig und respektvoll. „Keine Sorge, Morgengrad, wir sind nicht hier, um Ihnen Ihre Zeit zu rauben. Wir sind aus zwei Gründen gekommen, und beide betreffen die Sicherheit dieser Stadt."
Varion legte die Arme auf die Tischplatte und musterte sie mit scharfem Blick. „Dann erklären Sie mir Ihre Gründe, Rosavelle."
Jake nickte kurz und verschränkte die Arme, während Gray das Gespräch weiterführte.
„Der erste Grund betrifft Ihre Bürokratie und, wenn wir ehrlich sind, die Ineffizienz, die wir in letzter Zeit beobachtet haben. Wir möchten uns erkundigen, wie es zu den Lücken im System kommen konnte – und vielleicht auch eine Beschwerde einreichen."
Varion hob eine Augenbraue, sein Gesicht blieb neutral, doch eine leichte Anspannung zeichnete sich ab.
„Der zweite Grund," fuhr Gray fort, seine Stimme höflich, aber direkt, „ist, dass wir gekommen sind, um herauszufinden, ob wir Ihnen helfen können – vorausgesetzt, Sie und Ihre Dämmerwacht sind es wert, unsere Unterstützung zu erhalten."
Varions Augen verengten sich leicht, und er lehnte sich zurück. „Ob wir es wert sind? Interessante Wortwahl. Was macht Sie so sicher, dass ich Ihre Hilfe brauche?"
Jake lächelte leicht, doch sein Ton war fest. „Nun, wenn alles perfekt laufen würde, hätten wir keinen Grund, hier zu sein, oder?"
Gray sprach weiter, bevor die Stimmung kippen konnte. „Verstehen Sie uns nicht falsch, Morgengrad. Wir sind hier, um konstruktiv zu helfen. Aber die aktuellen Berichte – besonders in Bezug auf die entführten Kinder – sprechen für sich. Wenn wir gemeinsam daran arbeiten, diese Probleme zu lösen, können wir sicherstellen, dass Eversum geschützt bleibt."
Varion sah von Jake zu Gray, sein Blick prüfend. Schließlich sprach er, seine Stimme ruhig, aber ernst. „Es stimmt, wir stehen vor Herausforderungen. Aber ich lasse mir ungern von Außenstehenden sagen, wie ich meine Wache führen soll."
Jake schnaubte leise und wollte etwas sagen, doch Gray warf ihm einen warnenden Blick zu, bevor er selbst wieder das Wort ergriff.
„Niemand sagt Ihnen, wie Sie Ihre Wache führen sollen, Morgengrad. Wir bieten lediglich an, Sie zu unterstützen – wenn Sie bereit sind, zu akzeptieren, dass niemand allein gegen solche Bedrohungen bestehen kann."
Varion musterte sie eine Weile schweigend, bevor er langsam nickte. „Gut. Ich bin bereit zuzuhören. Aber wenn ich das Gefühl bekomme, dass Sie hier sind, um sich einzumischen oder meinen Posten infrage zu stellen, wird das Gespräch schnell enden."
Jake grinste leicht, doch seine Worte waren überraschend ernst. „Wir wollen das Gleiche wie Sie, Morgengrad: diese Stadt sicher halten. Aber wir werden uns ein klares Bild machen, bevor wir entscheiden, ob wir Sie unterstützen."
Varion nickte erneut, diesmal etwas weniger steif. „Dann bin ich gespannt, was Sie herausfinden. Folgen Sie mir – ich zeige Ihnen, wo wir aktuell stehen."
Gray und Jake tauschten einen kurzen Blick, bevor sie Varion hinterhergingen. Das Gespräch war noch lange nicht beendet, aber sie hatten einen ersten Schritt gemacht.
Varion lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme. Sein scharfer Blick wanderte zwischen Jake und Gray hin und her. „Nun, ich wüsste nicht, wie Sie mir in Angelegenheiten der Stadtwache weiterhelfen könnten. Die Arbeit hier ist... sagen wir mal, nicht für Außenstehende geeignet."
Jake verschränkte ebenfalls die Arme und neigte leicht den Kopf. „Wir sind Mitglieder einer angesehenen Gruppe in der Wanderflamme, der Hüterflamme. Genügt das nicht als Vorwand?" Seine Stimme hatte einen leicht provokanten Unterton.
Gray hob leicht eine Augenbraue und fügte hinzu, seine Stimme ruhig, aber mit Nachdruck: „Wir sind in letzter Zeit in aller Munde, Morgengrad. Das sollte doch eigentlich bestätigen, wie einflussreich wir inzwischen geworden sind."
Varion musterte sie für einen Moment schweigend, bevor ein schwaches, fast herausforderndes Lächeln auf seinen Lippen erschien. „Sie sind ganz schön von sich überzeugt, das muss ich Ihnen lassen. Aber gut, wenn Sie schon hier sind und so viel von Ihrer Kompetenz halten, werde ich Ihnen zeigen, wie der aktuelle Stand der Dinge ist."
Er erhob sich, seine imposante Gestalt wirkte noch eindrucksvoller, als er an den beiden vorbeiging und zur Tür deutete. „Folgen Sie mir. Ich zeige Ihnen die Ebenen der Schattenströme – dort laufen alle Informationsprozesse zusammen. Vielleicht erkennen Sie dann, womit wir es hier wirklich zu tun haben."
Jake und Gray tauschten einen kurzen Blick, bevor sie Varion folgten. Sie gingen durch die breiten, von Fackeln beleuchteten Korridore der Dämmerwacht, bis sie schließlich vor einer massiven Tür ankamen. Varion schob sie mit einem kräftigen Ruck auf. Dahinter erstreckte sich ein großer, mehrstöckiger Raum, der von riesigen Tafeln, magischen Projektionen und dämonischen Schreiberlingen erfüllt war, die unermüdlich Berichte zusammenstellten.
Varion führte sie zur zentralen Konsole, wo eine detaillierte Karte von Eversum schwebte, durchzogen von roten Markierungen. „Das hier ist der Kern unserer Informationsverarbeitung," erklärte er und zeigte auf die Markierungen. „Jede rote Linie repräsentiert einen Bericht über vermisste Kinder. Die Häufung in bestimmten Bezirken ist alarmierend."
Gray trat näher an die Karte und betrachtete sie mit ernster Miene. „Wie viele Fälle haben Sie bisher dokumentiert?"
„Zu viele," antwortete Varion knapp. „Allein in den letzten Wochen sind Dutzende Kinder verschwunden. Die meisten in den ärmeren Vierteln, aber auch einige in besser bewachten Bereichen."
Jake schnaubte leise, seine roten Augen funkelten vor Ärger. „Und wie ist Ihr Fortschritt? Irgendeine Spur?"
Varion runzelte die Stirn, seine Hände auf der Konsole ruhend. „Wir arbeiten daran. Aber die Täter sind organisiert und vorsichtig. Es gibt keine Muster, die leicht zu verfolgen wären."
Gray nickte langsam, seine Gedanken schienen sich zu überschlagen. „Haben Sie Verdacht, wer dahinterstecken könnte? Ist Nox Vigilia involviert?"
Varions Blick wurde hart, doch er antwortete nicht sofort. „Das ist eine der Möglichkeiten, aber ich kann das ohne Beweise nicht bestätigen."
Nachdem er ihnen weitere Details über die aktuellen Ermittlungen gegeben hatte, führte er sie zurück in sein Büro. Die Tür schloss sich hinter ihnen, und Varion ließ sich wieder an seinem Schreibtisch nieder, die Stirn in Falten gelegt.
„Also, Rosavelles," sagte er schließlich, während er die beiden erneut musterte. „Sie wissen jetzt, womit wir es hier zu tun haben. Was denken Sie?"
Die Frage blieb unbeantwortet, während Jake und Gray ihre Gedanken sammelten und sich auf das bevorstehende Gespräch vorbereiteten.
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Varion Morgengrad saß wieder hinter seinem Schreibtisch und beobachtete die beiden Männer vor ihm. Jake stand mit verschränkten Armen und einem selbstbewussten Blick, während Gray ruhig und gefasst neben ihm stand. Die Atmosphäre im Raum war angespannt, doch Jake war der Erste, der sprach als beide Platz nahmen.
„Nun, ich denke, Sie sind ein ehrlicher Mann, Morgengrad," begann Jake und sah ihm direkt in die Augen.
Gray nickte zustimmend. „Ohne Zweifel. Sie sind bereit, Hilfe anzunehmen, und es wirkt, als ob Sie diese auch dringend bräuchten."
Varion schnaubte leise, sein Gesichtsausdruck blieb jedoch ernst. „Dringend ist eine Untertreibung. Fahren Sie fort."
Jake ließ sich von Varions Ton nicht beirren. „Ich habe Ihre Gattin Sylthar bereits kennengelernt. Sie hat mir ihr Vertrauen geschenkt, als es um eine wichtige Quest ging. Jetzt will ich das Vertrauen zurückgeben."
Varion hob eine Augenbraue, doch bevor er etwas sagen konnte, fuhr Jake fort. „Sie werden bald eine Einladung erhalten. Gehen Sie zu Kaelith, der Gildenmeisterin der Wanderflamme. Sie wird Ihnen alles erzählen. Wir haben schon seit einer Weile Pläne gegen Nox Vigilia am Laufen. Unsere Familie operiert aktiv gegen sie, und Shade, ein Mitglied unserer Familie, hat bereits sie und Ihre Gattin durchleuchtet."
„Shade?" murmelte Varion, doch Jake ließ ihm keine Zeit, nachzufragen.
„Wir wollten heute nur sicherstellen, dass wir uns in Ihnen nicht täuschen. Dass Nox Vigilia hinter diesen Entführungen steckt, ist sehr wahrscheinlich. Wir haben Berichte, dass sie Experimente an jüngeren Dämonen ausprobieren – höchstwahrscheinlich auch an den entführten Kindern."
Varions Gesicht verfinsterte sich, seine Hände ballten sich zu Fäusten auf dem Tisch. „Experimente... an Kindern?"
„Ja," bestätigte Jake, sein Ton ernst. „Es bleibt keine Zeit mehr für Misstrauen. Wir müssen handeln, Morgengrad. Sie mögen uns nicht vertrauen, aber wir kennen die Dämmerwacht schon sehr lange. Noch bevor es sie überhaupt gab."
Varion blinzelte, und sein Blick wurde noch misstrauischer. „Wie bitte? Noch bevor es die Dämmerwacht gab? Was soll das heißen?"
Gray trat einen Schritt nach vorne und hob die Hand, um Jake den Raum zu überlassen. „Sie werden es uns vielleicht nicht glauben, aber Ihre Vorgänger – Leute wie Kardin Eisenklaue, Meron Flammenzahn und Lyria Schattenschild – wir kannten sie alle. Manche nur flüchtig, mit anderen pflegten wir enge Beziehungen."
Varion sah die beiden Männer an, als hätte er den Verstand verloren. „Das ist... unmöglich. Diese Namen stammen aus den Annalen der Dämmerwacht, und einige von ihnen liegen Hunderte von Jahren zurück."
„Unmöglich?" Gray lächelte leicht, seine Stimme blieb ruhig und sachlich. „Vielleicht. Aber wie gesagt – sprechen Sie mit Kaelith. Sie wird Ihnen die Hintergründe erklären. Wir werden Ihnen eine Einladung zukommen lassen."
Jake trat wieder vor und fixierte Varion mit einem ernsten Blick. „Es wird Zeit, dass Sie und Sylthar verstehen, wie tief die Bedrohung wirklich ist, mit der Sie es zu tun haben. Diese Gefahr betrifft nicht nur uns – sie betrifft die gesamte Stadt. Vielleicht sogar die ganze Unterwelt."
Varion lehnte sich zurück, seine Hände griffen unbewusst an die Tischkante. Sein Blick wanderte zwischen den beiden Männern hin und her, Überforderung und Misstrauen standen ihm ins Gesicht geschrieben.
„Ich weiß nicht, was ich davon halten soll," gab er schließlich zu, seine Stimme war leise und angespannt. „Das alles klingt... nach einem Märchen. Aber die Bedrohung ist real, das sehe ich. Ich werde Ihre Einladung annehmen und mit Kaelith sprechen. Aber glauben Sie mir, Rosavelles: Wenn ich herausfinde, dass Sie mich an der Nase herumführen, werden Sie es bereuen."
Jake grinste leicht, und ein Funken Provokation blitzte in seinen Augen. „Wir führen niemanden an der Nase herum, Morgengrad. Wir handeln nur im Interesse dieser Stadt."
Gray nickte höflich. „Wir danken Ihnen für Ihre Bereitschaft, zuzuhören. Es war klug, uns zu empfangen. Wir werden bald in Kontakt treten."
Jake verschränkte die Arme und trat einen Schritt vor. Sein Blick war durchdringend, seine Stimme ruhig, aber scharf. „Nun, das wäre der geschäftliche Teil unseres Gesprächs gewesen. Aber verzeihen Sie, Morgengrad, ein persönliches Anliegen hat mich heute ebenfalls hierhergeführt."
Varion hob eine Augenbraue, aufmerksam, aber abwartend.
Jake fuhr fort, seine Worte wurden fester. „Unsere Partnerin, meine geliebte Frau Chaylin, wurde vor etwa einem Monat hier in der Stadt überfallen. Sie ist hochschwanger. Und ich würde gerne wissen, warum der Täter freigelassen wurde?"
Varions Gesicht blieb neutral, doch Jake ließ ihm keine Gelegenheit zu antworten.
„Früher hätte man so jemanden eines Verbrechens bezichtigt und der Sklaverei übergeben oder zumindest eine gerechte Strafe verhängt. Warum also nicht jetzt? Sind Sie zu weich, um durchzugreifen?"
Die Spannung im Raum stieg merklich, doch Jake hielt nicht inne. „Drei bullige Werwölfe haben den Dieb direkt zur Stadtwache gebracht. Und doch bin ich diesem Kerl eine Woche später auf freiem Fuß begegnet – als wäre nichts gewesen."
Varion öffnete den Mund, doch Jake unterbrach ihn erneut, und seine Stimme wurde lauter. „Sie verstehen hoffentlich, dass dieser Verbrecher zuerst mit meiner, und dann mit Felix Rosavelles Faust Bekanntschaft machte, als wir ihn sahen. Also, erklären Sie mir, warum wurde er freigelassen?"
Gray, der Jakes steigende Wut spürte, trat schnell ein und klopfte ihm mit einer überraschenden Lockerheit auf den Rücken. „Jake, ruhig," sagte er in einem sanften, fast beruhigenden Ton. „Das bringt uns hier nicht weiter."
Jake schnaubte, trat jedoch einen Schritt zurück und ließ Gray das Wort übernehmen.
Gray wandte sich an Varion, sein Ton höflich, aber mit einem klaren Unterton. „Herr Morgengrad, wir möchten verstehen, was dazu geführt hat, dass solche Ganoven in Ihrer Stadt scheinbar keine Konsequenzen zu befürchten haben. Es wäre hilfreich, wenn Sie uns einen Einblick in Ihre Entscheidungsprozesse geben könnten."
Varion musterte die beiden Männer einen Moment lang schweigend, bevor er leise seufzte und sich in seinem Stuhl zurücklehnte. „Es ist komplizierter, als es aussieht," begann er, seine Stimme schwer. „Die Stadtwache hat klare Vorschriften. Tatsächlich wurde der Täter nach seiner Festnahme registriert und vorläufig festgesetzt. Doch..."
Er zögerte kurz, bevor er weitersprach. „Die Ressourcen sind knapp. Unsere Zellen sind überfüllt, und aufgrund der steigenden Anzahl schwerwiegender Fälle – insbesondere im Zusammenhang mit den verschwundenen Kindern – haben wir bei kleineren Vergehen oft keine Wahl, als diese Täter freizulassen, bis wir mehr Kapazitäten schaffen können. Der Fokus liegt auf den größeren Bedrohungen. Daher wurde dieser Verbrecher auf Kaution vorläufig freigelassen."
Jake runzelte die Stirn, während Varion weitersprach. „Ich gebe zu, dass es keine ideale Lösung ist. Und ja, es frustriert auch mich, solche Entscheidungen treffen zu müssen. Aber wir stehen unter immensem Druck. Wenn die Wahl zwischen einem potenziellen Kindesentführer und einem Plünderer besteht..."
Er ließ den Satz unvollendet, aber die Botschaft war klar. Varion schüttelte den Kopf und sah Jake direkt an. „Ich verstehe Ihre Wut, Rosavelle. Und ich stimme Ihnen zu, dass es nicht gerecht ist. Doch die Wahrheit ist: Uns fehlen die Mittel, um jeden Täter zur Rechenschaft zu ziehen."
Gray nickte leicht, während Jake die Antwort mit offensichtlichem Widerwillen aufnahm. „Also sagen Sie, dass solche Vergehen im Moment unter den Tisch fallen?" fragte Jake, sein Ton immer noch scharf.
„Nicht unter den Tisch," entgegnete Varion ruhig. „Aber sie haben keine Priorität. Zumindest nicht, bis wir die dringendsten Probleme der Stadt in den Griff bekommen haben."
Gray warf Jake einen kurzen Blick zu, um sicherzustellen, dass er sich zurückhielt, bevor er erneut sprach. „Verständlich. Aber Sie müssen wissen, dass solche Entscheidungen das Vertrauen der Bevölkerung untergraben könnten. Es wäre ratsam, Alternativen zu prüfen, um sicherzustellen, dass selbst kleinere Vergehen nicht gänzlich ignoriert werden."
Varion nickte langsam. „Ich nehme Ihre Worte ernst. Und ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um die Situation zu verbessern."
Jake blieb noch immer angespannt, doch Gray legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. „Wir werden das im Auge behalten, Morgengrad. Und wir erwarten, dass Sie uns über Fortschritte informieren."
Varion nickte erneut, sein Blick ernst, aber nicht feindselig. „Das ist Ihr gutes Recht. Wir alle wollen das Beste für diese Stadt."
Das Gespräch blieb offen, doch die Spannung im Raum ließ spürbar nach.
Jake atmete tief durch, um seine aufgewühlten Gedanken zu beruhigen, und sprach schließlich in einem ruhigen, aber bestimmten Ton: „Nun gut, ich sehe ein, dass meine Wut mich hier nicht weiterbringt. Herr Morgengrad, wir sind ehrlich daran interessiert, die Situation in dieser Stadt zu verbessern. Sie können auf unsere Unterstützung zählen."
Sein Blick wurde direkter, doch er blieb respektvoll. „Auch wenn Sie jetzt annehmen, dass unsere Hilfe nicht viel Wert ist, bin ich sicher, dass Sie nach dem Gespräch mit Kaelith anderer Meinung sein werden. Dann werden Sie verstehen, dass die Unterstützung unserer Familie alles bedeutet."
Varion nickte langsam, seine Miene blieb ernst, aber er schien die Worte zu überdenken.
Gray trat einen Schritt nach vorne und ergänzte: „Sprechen Sie mit der Gildenmeisterin und reagieren Sie entsprechend auf die Einladungen, die Sie und Sylthar bald erhalten werden. Diese Informationen werden nicht nur für Sie, sondern auch für Ihre Gattin unerlässlich sein."
Jake richtete sich auf, seine Stimme war ruhig, aber bestimmt. „Nehmen Sie Ihre Gattin mit, wenn Sie zu Kaelith gehen. Die Bedrohung, mit der wir es zu tun haben, geht weit tiefer, als Sie es sich vielleicht vorstellen können."
Er machte eine kurze Pause, um die Worte wirken zu lassen, bevor er abschließend sagte: „Auf Wiedersehen, Herr Morgengrad. Bis zum nächsten Mal."
Mit einem leichten Nicken verabschiedeten sich Jake und Gray, drehten sich um und verließen das Büro, während Varion ihnen nachdenklich hinterhersah. Der Leiter der Dämmerwacht wusste, dass dieses Gespräch nur der Anfang war – und dass die Rosavelle-Familie offenbar eine weit größere Rolle spielte, als er bisher geahnt hatte.
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