Ein Jahr zuvor:
,,Ich glaube, ich kann das doch nicht, Selina'', sagte mein Freund, als wir vor dem besagten Restaurant standen, wo wir gleich Trin und ihren neuen Lover, ihren Chef, antreffen würden.
Ich nahm seine Hand und hielt sie ganz fest.
,,Wenn du doch lieber nach Hause gehen möchtest, ist es total in Ordnung und vollkommen verständlich, Josh. Wir müssen da nicht rein und mit den beiden essen.''
,,Das Einzige, woran ich gerade denken kann, ist, wie ich die zwei durch Zufall im Büro erwischt habe. Mir wird sofort anders schlecht, wenn ich nur daran denke.'' Ich sah, wie er in unregelmäßigen Abständen ein und aus atmete und dabei total bleich im Gesicht war. Ich hatte gewusst, dass das kein einfaches Treffen werden würde, das war mir vornherein schon klar gewesen. Aber Josh wollte es anscheinend für seine Mutter durchziehen. Ihr war es wichtig, dass ihre Kinder den neuen Mann an ihrer Seite kennenlernten und dafür musste man sich wohl oder übel zu einem Abendessen verabreden. ,,Ich bin froh, dass du mitkommst. Alleine würde ich hier wahrscheinlich auf keinen Fall aufkreuzen.''
Mich erinnerte die ganze Situation gerade zu stark daran, wie ich das erste Mal der neuen Familie meines Dads in Chicago begegnet war. Ich war unglaublich froh gewesen, dass Josh mit ins Krankenhaus gekommen war und alles mit mir durchgestanden hatte. Nun wollte ich das Gleiche für ihn tun.
,,Ich weiß, dass es einfach nur schrecklich sein muss, deine Mom mit einem neuen Mann zu sehen. Aber ich weiß, dass du das kannst, wenn du es wirklich möchtest.''
,,Ich schulde es meiner Mom. Schließlich hat sie mich großgezogen. Die Ehe meiner Eltern ist sowieso schon längst kaputt. Mir bleibt also quasi nichts anderes übrig.''
,,Wir werden da reingehen, wenn du soweit bist. Wenn nicht, drehen wir um, gehen nach Hause und ich schreibe Trin, dass uns etwas dazwischen gekommen ist'', beschloss ich für uns beide.
Wir standen weiterhin draußen, bis Josh mir entschieden Andeutungen machte, dass wir doch dort reingehen würden. Der Kellner, der uns vor der Tür direkt begrüßte, führte uns zum Tisch, wo Trin und ihr Lover bereits Platz genommen hatten.
,,Es freut mich riesig, dass ihr beiden gekommen seid'', wurden wir von Trin begrüßt, die sofort aufstand und uns umarmte.
Auch ihr Chef stand auf. Dieser ging sofort auf mich zu und gab mir, als Begrüßung, seine Hand. Ich wusste, warum er mich als Erstes begrüßte.
Josh hatte mit mir über den Tag gesprochen, als er die beiden im Büro erwischt hatte. Es musste ein absolut mieses Gefühl gewesen sein zu sehen, dass die eigene Mutter eine Affäre hatte.
Natürlich konnte es passieren, dass sich die Eltern auseinander lieben und sich in andere Personen verliebten. Aber dann sollte sie es wenigstens offen gegenüber ihren Kindern kommunizieren und es nicht hinter ihrem Rücken tun. Trin hatte Josh mit ihrer Affäre in eine Position gebracht, in der man sein Kind auf keinen Fall bringen sollte.
Nachdem er die beiden erwischt hatte, hatte er selbst entscheiden müssen, ob er seinem Dad davon erzählte oder nicht. Er hatte sich dafür entschieden, es ihm nicht zu sagen, weil er der Meinung war, dass ihm das nicht zustand und dafür hatte er meinen größten Respekt.
So etwas hätte ich sehr wahrscheinlich nicht für mich behalten können. Ich mochte Trin wirklich sehr, aber so ein Verhalten fand ich echt unterstes Niveau. Wenn man jemanden heiratete und eine Familie gründete, sollte man bedingungslos ehrlich zu seinem Partner sein. Auch in den Momenten, die nicht immer leicht für einen waren.
Natürlich war mir klar, dass vor allem die große Abwesenheit von Joshs Dad dazu geführt haben musste, dass Trin sich irgendwann auf ihren Chef eingelassen hatte.
Wenn man keine Liebe von seinem Mann bekam, suchte man diese eben bei jemand anderen. Trotzdem war das keine Rechtfertigung für die Affäre. Kein Wunder also, dass Josh schlecht auf Mr. Parker zu sprechen war und dieser das scheinbar sehr gut wusste.
Beide nicken sich kurz zu und setzten sich schweigend an den Tisch. Ich und Trin taten es ihnen gleich.
Mir entging nicht, was für eine angespannte Stimmung am Tisch herrschte und ich suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, wie man diese etwas auflockern konnte.
,,Sie sind also Trins Chef, Mr. Parker?'', fragte ich ihn.
,,Genau, wir arbeiten schon ganze zehn Jahre miteinander zusammen. Ich bin von der ersten Sekunde an von Trins tollen Ideen und ihrer liebevollen Art völlig verzaubert gewesen'', schwärmte Mr. Parker von Joshs Mom.
Trin kicherte daraufhin und legte einen Arm berührte ihn am Ellenbogen.
,,Nicht doch Travis. Du bringst mich noch vor den beiden in Verlegenheit.''
Ich sah, wie Josh Arme sich unwillkürlich anspannten und ich reagierte sofort, indem ich eine seiner Hände mit meiner verschränkte.
,,Sie lassen sich also von Angestellten verzaubern, die bereits verheiratet sind und zwei Kinder haben, Mr. Parker?''
Ich hatte gewusst, dass Josh ihm diese Frage stellen würde und fand es dazu irgendwie auch total verständlich. Trotzdem hoffte ich inständig, dass es wenigstens Mr. Parker schaffte, ruhig zu bleiben.
,,Da ich denke, dass wir nicht drumrum kommen werden, darüber zu sprechen, möchte ich darum bitten, dass wir uns wenigstens auf Augenhöhe begegnen, Josh. Ja, ich war von deiner Mutter fasziniert, obwohl ich wusste, dass sie bereits verheiratet ist und zwei Kinder hat. Und ja, es war nicht richtig mit ihr ein Verhältnis zu beginnen. Dennoch bereue ich es keineswegs, dass sich zwischen uns etwas entwickelt hat ... ''
,,Sie bereuen es also überhaupt nicht, dass durch Sie eine wirklich glückliche Familie zerstört worden ist, Travis?!'', wurde er unsanft von Josh unterbrochen, der sich anscheinend nicht mehr beherrschen konnte.
Ich sah, wie die Fingerknöchel weiß hervortraten, während er nach wie vor immer noch meine Hand hielt.
,,Josh, bitte. Tu es nicht'', flüsterte ich ihm kaum hörbar ins Ohr und deutete mit einem vielsagenden Blick auf Trin, die wie ein Häufchen Elend auf ihrem Platz saß.
Sie zitterte am ganzen Körper und sah gerade unglaublich verletzt aus. In diesem Moment hatte ich Mitleid mit ihr, weil ich sie gerade vollkommen verstehen konnte.
Ich hatte mich genauso gefühlt, als Bianca mich angeschrien hatte, als rausgekommen war, dass Josh ihr fremdgegangen und mich geküsst hatte.
Manchmal fiel es einem schwer, Fehler zuzugeben, weil man Angst hatte Personen, die einem wichtig waren, zu verletzen. Man verspürte für sein eigenes Fehlverhalten Scham und bekam deshalb den Mund nicht auf.
Vielleicht hatte Trin deshalb ihre Affäre für so eine lange Zeit geheimgehalten. Sich einzugestehen, dass die jahrelang gut funktionierende Ehe kaputt war, musste durch und durch einfach schrecklich für einen sein.
Ich hatte Verständnis für sie und für Josh in dieser schweren Situation, wodurch ich mich hin und her gerissen fühlte. Josh blieb zum Glück nach seinen harten Worten still und schien abzuwarten, was Mr. Parker ihm antworten würde.
,,Es war niemals mein Ziel, eine gut funktionierende Familie zu zerstören. Ich denke, von uns beiden müsstest du am besten wissen, dass die Ehe deiner Eltern schon seit längerem kaputt war. Es tut mir leid, dass du auf eine nicht gerade schöne Weise erfahren musstest, dass Trin und ich uns zueinander hingezogen fühlen, aber wie gesagt, ich bereue es nicht, dass es passiert ist.''
Es war kaum zu glauben, aber selbst Mr. Parker verstand ich in diesem Moment. Es war ein Fehler gewesen, mich von Josh küssen zu lassen, als er noch mit Bianca zusammen war. Doch bereuen tat ich es nicht. Ansonsten hätten wir niemals zueinander gefunden und wären nun ein Paar.
Vielleicht musste man in seinem Leben solche Fehler machen, um zu erkennen, was man eigentlich wollte.
Keine Ahnung, ob Mr. Parker für Trin der Mann fürs Leben werden würde, aber sie hatte endlich Stellung bezogen und sich für ihn entschieden. Josh hatte diese Entscheidung zu akzeptieren, obgleich wie schwer das für ihn sein musste.
,,Ich glaube, wir sollten uns in die Speisekarten gucken und etwas zum Essen bestellen'', schlug Josh vor, der nun etwas ruhiger war, was mich erleichtert ausatmen ließ.
***
,,Ich möchte, dass du weiß, wie unglaublich stolz ich auf dich bin'', gab ich Josh gegenüber zu, als wir beide alleine nach dem Abendessen noch am Fluss spazieren gingen.
,,Quatsch, ich sollte eher dir dankbar sein. Wenn du nicht gewesen wärst, hätte ansonsten garantiert irgendwann die Beherrschung komplett verloren.''
Weil mein Freund zu bemerken schien, dass mir etwas kalt war, zog er sich sein Jackett aus und gab es mir zum Überziehen.
,,Aber das hast du nicht. Nach deinem kleinen Wutausbruch am Anfang bist ruhig geblieben und hast dich gegenüber Mr. Parker sogar ziemlich höflich verhalten. Und das finde ich bewundernswert.'' Ich schlang beide Arme um ihn und drückte mich an ihn. Er sollte mit jeder Faser meines Körpers zu spüren bekommen, wie stolz ich auf ihn war. ,,Weißt du, mir ist beim Abendessen bewusst geworden, dass wir uns ziemlich ähnlich gegenüber Bianca verhalten haben während des Austauschjahres. Es bringt nichts, jemanden wegen seiner Fehler zu verurteilen. Alles hat seinen Grund. Kein Mensch ist perfekt. Ich denke, dass es vielmehr darauf ankommt, dass man es zukünftig einfach besser macht und zu diesen Fehler steht. Anstatt vor Scham alles zu verheimlichen, sollte man offen darüber reden und sich aussprechen. Es führt kein Weg daran vorbei.''
Joshs Blick sagte mir, dass er mir mit allem, was ich da gerade gesagte hatte, mir zustimmte. Ich sah es in seinen Augen, die mich mit voller Bewunderung für meine Worte mich anblickten.
,,Soll ich dir was verraten, Selina?''
,,Was?''
,,Du weißt gar nicht, wie unglaublich stolz es mich macht, dich als meine Freundin bezeichnen zu dürfen.''
Das war das absolut Schönste, das je ein Mensch zu mir gesagt hatte.
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