27.
An dem Tag, an dem die Erde untergeht, werden wir jubeln und seelenruhig sein. Alles wofür wir gearbeitet haben, wird zerstört und niemand wird sich mehr daran erinnern können.
Egal ob reich und berühmt, Nichtsnutz und arm, am Ende des Tages sind wir alle nur Menschen, die sterben.
~~~
Der Zustand zwischen wach sein und schlafen, ist einer der besten, die es gibt. Man existiert und träumt vielleicht etwas, aber man ist wach und nicht völlig weg. Aus diesem Zustand erschrecke ich, als ich eine Frauenstimme höre.
"Was hast du dir nur dabei gedacht? Vor allem, weil du Papa und mir nichts gesagt hast. Wenn dein Bruder einverstanden gewesen wäre, hätten wir ihn besucht, Schatz. Aber das geht nicht, dass du alleine verreist und Milky aus der Uni holst."
Das muss Milkys Mutter sein. Das unbekannte Gesicht. Muss es für Milky nicht auch verwirrend sein? Ich meine, sie haben jahrelang nichts miteinander zu tun und jetzt erziehen sie gemeinsam Hazel. Diese Frau muss ich kennenlernen, die einst mit meinem Stiefvater zusammen war.
Lautlos kehre ich in die Küche zurück und beobachte die Kleinfamilie. Sie passt perfekt hier rein.
Hazel sitzt am Fenster, was eigentlich mein Platz ist, Milky sitzt daneben und dann seine Mutter. Da ich sie nur von hinten erblicke, sehe ich nur ihre etwas rundlichen Rundungen und die mir bekannten schwarzen Haare. Wenn sie stünde, wären wir auf Augenhöhe. Es ziept in meiner Brust, diese Familie zu sehen. Ich gehöre nicht dazu und das werde ich auch nicht.
Nie.
"Liv komm doch rein", bittet Milky, der mich als Erstes bemerkt.
"Ach Quatsch, ich möchte nicht stören. Ich wollte nur ähm... mir was zu essen machen und dann wieder ins Bett. Mir geht's wirklich nicht gut", lüge ich halb oder sage die halbe Wahrheit. Entscheidet ihr euch, ob pessimistisch oder optimistisch.
Seine Mutter dreht sich zu mir um.
Als wäre nichts, als wäre ich nicht nervös oder angespannt, schneide ich mir einen Apfel und tu den in eine Schüssel. Aus dem Kühlschrank hole ich mir Joghurt raus. Ich spüre die Blicke in meinem Rücken und fühle mich immer mehr wie ein Eindringling in der Familie.
"Setze dich doch zu uns, mein Kind"
Ich erschrecke und lasse die Schüssel fallen, aber zum Glück fällt sie nur auf die Ablage.
Mein Kind. Sie hat das zu mir gesagt, als würde es stimmen. Das erwärmt mein Herz.
"Ach nein", bringe ich gerade so heraus."Ich möchte wirklich nicht eure Familienangelegenheiten stören"
"Liv, nun setze dich", bittet Milky.
Na gut, ich drehe mich mit meinem Essen um und zwinge mich zu einem Lächeln.
Viel sehe ich in Milky, was auch seine Mutter hat. Auch wenn die Ähnlichkeit mehr zu seinem Vater besteht. Aber das freundliche und offene Gemüt ist unverkennbar von der Mutter. Denn auch Hazel hat es.
Gerne würde ich etwas sagen, was uns aus dem peinlichen Schweigen rettet, aber mir fällt nichts ein. Deswegen löffel ich mein Essen runter, ohne was zu schmecken.
"Lebt ihr zusammen wie ein Liebespaar?", fragt Hazel.
Ein kleines Hüsteln kommt mir von den Lippen.
"Nein, eher nicht. Wir wohnen zusammen und haben uns auch lieb, aber es ist nur eine Wohngemeinschaft und sehr gelassen",antwortet Milky sehr gelassen.
Rachel starrt mich die ganze Zeit an, als wäre ich ein weltwunder.
"Und was hast du mit deiner Nase gemacht?", fragt die Kleine.
Erst realisiere ich nicht, dass sie mich damit meint, bis ich aus meinen Gedanken aufwache. Milky wendet sich bestürzt ab.
"Wenn du ein wenig älter bist, werden dir deine Eltern bestimmt erzählen, was für furchtbare Menschen es auf der Welt gibt und erklären, wie du dich vor ihnen schützen kannst. Dann wird dir bestimmt Milky auch etwas erzählen und wenn du magst, auch ich."
Ich hoffe für mich, dass sie es nicht möchte und bereue es sofort, ihr das Angebot gemacht zu haben.
Milkys Mutter wechselst ihren Gesichtsausdruck zu ärgerlich und wütend. Wahrscheinlich weil ich ihren Exfreund erwähnt habe. Doch kann sie es nicht wissen, dass er der Grund für mein Gesicht ist. Naja, Milky ist in der Lage, ihr alles zu erzählen und ich bin mir sicher, das hat er auch.
"Hast du dir unser Angebot überlegt?"
Hazel scheint ja sehr nett zu sein und lieb, aber daran muss sie noch arbeiten. Anderen Menschen Löcher in den Bauch fragen. Anstrengend und peinlich für alle Beteiligten. Aber eigentlich möchte ich nur nicht die Antwort auf die Frage wissen.
"Ja, Hazel, das habe ich. Aber ich wollte noch mit meiner Schwester sprechen und du musst auch für mich Verständnis haben, dass es nicht von einem Tag auf den anderen alles funktioniert"
Lautlos ziehe ich die Luft ein. Das klingt wie ein ja!!! Innerlich koche ich und zerstöre Dinge, vielleicht auch mich, aber äußerlich lächel ich einfach nur vor mir her. Milky entweicht meinem Blick.
"Aber ich bin doch deine Schwester und nicht sie", entgegnet die Elfe.
Vielleicht war ich von vorne herein eingenommen und hatte keinen klaren Blick ihr gegenüber, aber jetzt ist sie mir definitiv unsympathisch.
Niemand sagt etwas, denn was soll man darauf auch sagen. Dass sie recht hat? Das ist uns wohl allen bewusst, vor allem mir. Immer mehr gleitet mein Boden weg. Ich bin einfach nur fertig mit allem und will im Bett liegen, unter der Decke und weinen. Stundenlang weinen und mich selbst bemitleiden. Statt zusammenbrechen löffel ich weiter und bin ganz ruhig. Alles ist gut.
"Wie wäre es, wenn wir hier schon mal sind und Milky auch jetzt frei hat, dass er und Olivia uns die Stadt zeigen? Ich war auch noch nie hier", schlägt Rachel vor.
Es ist schön, dass sie mich mit einbeziehen möchte, aber ich kann wirklich nicht.
"Das ist lieb von dir Rachel, aber ich bin zu krank. Milky kann euch auch ohne mich herumführen und ihr habt mich nicht als Last dabei."
Es kommt eins zum anderen und schon bin ich alleine. Milky und seine Schwester haben nichts zu mir gesagt, aber als sie sich an den Händen nehmen, wirken sie glücklich. Nur Rachel verabschiedete sich und schaut mich traurig an. Als wüsste sie von allem Bescheid. Von meinem Tumult im Kopf.
~
Gedanken sind schrecklich. Hat sich nicht schon jeder von uns gewünscht, sie eigenständig und beliebig ausschalten zu können? Das wünsche ich mir genau jetzt, denn sie machen mich wahnsinnig.
Bald werde ich ganz alleine sein, wenn Milky umzieht und das wird er. So wie er mich gemieden hat und mit mir sprechen muss, ist es doch klar.
Ein Verrat an mich und nicht nur, dass er mich angelogen hat. Er hätte mir doch sagen können, statt auf eine Party zu gehen, seiner Familie einen Besuch abstatten. Hätte er mir gesagt, dass er wieder Kontakt mit ihnen hat und sogar eine kleine Schwester nun hat, es wäre in Ordnung. Ja, ich wäre immer noch durcheinander und aufgebracht, aber ich käme damit klar. Milky hätte mich rantasten müssen und das weiß er auch, da er mich gut genug kennt. Aber jetzt ist alles anders und für mich noch so viele Fragen offen. Die größte von allen: Wie und weshalb hat er wieder den Kontakt zu seiner Mutter gesucht?
Ich weiß, dass er immer wütend auf sie war, weil sie ihn nicht mitgenommen hat, sondern bei seinem Vater gelassen hat. Dass sie ihn im Stich gelassen hat und dann das Leben bekommen hat, was er jetzt führt. Auch das tut mir weh, weil ich dort beinhaltet bin, aber das kann ich nachvollziehen. Denn ich habe mir auch gewünscht, dass meine Mutter nie Twix kennen lernt. Aber es ist, wie es ist und er hat noch eine andere Familie. Doch verdammt, es tut weh. Denn ich werde ersetzt, weil ich nicht genug bin.
Die Tränen schnüren meine Kehle zu, sodass ich in die Schnappatmung verfalle. Ich klinge hässlich, aber das ist mir egal. Ich gleite auf den harten Boden, auch das ist mir egal.
Milky wird nach Aachen ziehen und mich in der Wohnung alleine lassen. Mich als Person alleine lassen. Genau weiß ich, wie das ablaufen wird. Am Anfang werden wir noch fleißig miteinander schreiben und uns alles erzählen. Dann klingt es immer mehr ab, bis nur noch einmal im Monat ein "Wie geht's" geschickt wird. Und dann? Nichts mehr. Mein Bruder habe ich dann verloren und damit jeden den ich liebe. Und weil alles eh kacke ist, mag mich Sebastian auf einmal doch nicht und wendet sich ab. Elexis ist nicht mehr zufrieden mit meiner Leistung und kündigt mich. Ich lande auf der Straße und dann auf der Brücke.
Ist mir egal. Ist mir alles egal.
Die Tränen laufen wie Bäche herunter und ich stehe auf.
Statt mir Wasser aus dem Kühlschrank zu nehmen, greife ich zur Wodkaflasche und trinke zum ersten Mal Alkohol in meinem Leben.
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