20.
Ich sah es nicht kommen. Mein Stiefvater steht in einem Moment bedrohlich vor mir und im Nächsten sehe ich nur etwas Schnelles vorschnellen. Dann liege ich schon aufheulend auf dem Boden, ohne zu wissen was gerade geschieht.
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Man kann Menschen mit den Fäusten weh tun, sowie mit Worten oder anderen Taten. In meinem Fall war es in meinem kurzen Leben beides.
Menschen, die sich prügeln und somit verletzen, geht es nach einer Woche wieder besser. Ihre physischen Schmerzen verheilen schnell.
Menschen, die sich gegenseitig Worte an den Kopf schmeißen, denen geht es nach einer Woche nicht wieder gut. Vielleicht ein ganzes Leben lang nicht. Denn so her gesagte Sätze wie: Nimm doch verdammt nochmal ab, du fetter hässlicher Pottwal. Das kann Leben verändern. Die Psyche wird angegriffen und viele erholen sich nicht mehr davon.
Könnt ihr euch vorstellen, wie sich vergewaltige Frauen fühlen müssen?! Zu einem wegen des körperlichen Schmerzes, wenn der Mann gewaltsam in sie eindringt und dann die Wunden, die unter der Haut entstehen. Es ist unbeschreiblich, was für Leid sie ertragen müssen währenddessen und danach. Aber auch die vergewaltigten Männer, zwar seltener, dennoch gibt es das. Leider wird das oft totgeschwiegen oder auch belächelt. Es heißt, die Männer hätten sich ja wehren können. Aber in welcher Position bist du, um über andere Menschen urteilen zu dürfen? Mann oder Frau, oder Unbestimmt, bei jedem ist das gleich schlimm. Die Welt ist so grausam. Weshalb können wir nicht zueinander lieb und nett sein?
Ich will kein Mitleid von niemandem und gleichzeitig möchte ich die Sache nicht runterreden. Von Twix wurde ich misshandelt, körperlich sowie seelisch. Es verging kein Tag, wo er mich nicht schlecht redet. Mir klar gemacht hat, dass ich ein Nichtsnutz und eine Missgeburt bin und irgendwann fing ich an, es zu glauben. Es vergingen keine zwei Tage, wo er mich nicht zu sich rief und die Hand erhoben hat.
Und jetzt, wo ich auf dem Boden liege und mir die Ohren klingeln, bemerke ich, wie scheiße das Leben mit einem spielen kann. Welche Komplexe ich mit der Zeit entwickelt habe und allgemein spüre ich den Schmerz unendlich. Den Alten und den Neuen. Es ist ein Fiasko.
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"Das hast du davon, Livia. Hast du es immer noch nicht gelernt?!", flüstert er mir fast verständnislos für mich ins Ohr.
Ich spüre nur den teuflischen Schmerz, der von meiner Nase ausgeht und den kalten Boden. Nichts kann ich von mir geben, außer Wimmern.
"Und nun bist du dran uns das Geld zu geben, du bist es uns schuldig. Mein Sohn auch, wenn der mal hier wäre."
Durch die geschlossenen Augen stelle ich mir vor ganz ganz weit weg zu sein. Auf einem anderen Planeten, wo ich die Königin bin und auch die einzige Bewohnerin. Eine ganzer Planet für mich alleine.
Ein Tritt gegen meine Beine folgt, sodass ich auf dem Boden rutsche und mir den Kopf anstoße.
Es soll vorbei sein. Ich habe immer versucht stark zu sein, für Milky, aber es geht nicht mehr. Es geht einfach nicht mehr. Nichtsdestotrotz bin ich noch immer am Leben und das wird sich wahrscheinlich lange nicht ändern. Und auf der einen Seite ist das das Richtige.
Obwohl ich versuche, die Tränen aufzuhalten, laufen sie mir die Wange herunter. Dazu schluchze ich hässlich mit meiner letzten Kraft.
"Bitte gib uns einfach nur das Geld, Olivia. Dann verschwinden wir, mein Kind", sagt Robin gequält.
Fast habe ich vergessen, dass sie hier ist, aber das war auch schon immer so. Sie stand daneben und tat nichts, so wie jetzt auch und das schmerzt mir im Herzen.
"Ach weißt du was, Schatz? Wir suchen uns ein Hotel um dort zu übernachten und kommen Morgen zurück. Aus der Göre bekommen wir heute eh nichts mehr raus."
Mehr und mehr driftet mein Körper und mein Geist ab. Seine Worte kommen nur noch wage bei mir an, bis gar nicht. Dennoch bemerke ich wie die Beiden gehen und eine Person zögert, doch dann tauche ich zum Schutz in den Schlaf oder in Ohnmacht.
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Erst langsam komme ich zurück in die Realität und realisiere, weshalb ich auf dem Boden liege. Immer wieder drifte ich in Trance und wieder heraus, bis ich mir sage, dass es nun soweit ist. Vorsichtig versuche ich mich aufzusetzen und brauche dafür ein paar Minuten, dabei mache ich Bestandsaufnahme meiner überschaulichen Verletzungen. Mein Kopf dröhnt und meine Nase ist etwas empfindlich, aber soweit ich das beurteilen kann, ist sie nicht gebrochen. Der Tritt gegen meine Beine war nicht so schlimm. Ein paar Blutergüsse und dann ist die Sache gegessen. Worunter ich viel mehr leide, sind meine innerlichen Schmerzen. Es ist unbeschreiblich, wie ich mich fühle. Eine Leere und Unwohlsein in meinem Körper. Und ein Druck, die Frustration heraus zu lassen, dabei helfen die Tränen ein wenig. Aber alles in einem bin ich ausgelaugt. Ich bin unendlich müde, als würde mir nicht mal wochenlanger Schlaf genügen, um mich von der Sache ausruhen zu können.
Da ich irgendwas machen muss, raffe ich mich auf, aufzustehen und ins Badezimmer zu gehen. Nur einen kurzen Blick riskiere ich in den Spiegel, um mich zu versichern, dass meine Nase wirklich nicht gebrochen ist. Es ist alles Gut, was auch immer das gerade bedeuten soll. Da ich mehr blau bin im Gesicht, als Schlumpfine. Aber zunächst wische ich mir sachte das Blut mit einem feuchten Handtuch weg, dabei sitze ich auf dem Boden. Damals hat mein Bruder mir immer geholfen. Er hat sich verpflichtet gefühlt, mich zu verarzten und es war ein schönes Gefühl. Ein wenig Fürsorge und Liebe. Aber jetzt fühle ich mich bitterlich einsam. Als würde ich alleine auf meinen Schultern das Gewicht des Himmels tragen. Als müsste ich ganz alleine die Bürde ertragen.
Mir kommt niemand zur Hilfe.
Plötzlich wird die Haustür aufgeschlossen und ich zucke heftig zusammen. Sind meine Eltern zurückgekehrt, um mir weitere Schläge zu geben?
"Hey Liv, ich bin Zuhause. Wie war dein Geburstagsdate?", ruft er fröhlich.
Entweder spielt er mit mir, oder er hat keine Ahnung. Hoffen wir für mich, dass das Letzte zutrifft.
"Ich habe echt Hunger, Kleine. Wollen wir uns eine Pizza bestellen? Jaja, es ist etwas früh, aber ich meine, es ist Pizza und ich habe noch etwas für dich."
Ich höre wie er in die Küche geht und ich bin wirklich wütend auf ihn. Nur noch ein bisschen und ich lasse ihr freien Lauf, wie auch immer das Aussehen mag. Wie kann Milky jetzt einfach auftauchen und von Pizza sprechen? Das ist unglaublich, das kann nicht der Realität entsprechen.
"Liv, weshalb ist Blut auf dem Boden? Wo bist du?", ruft er nun schon dringlicher.
Meine Augen schließen sich wie von alleine. Seinen tieftraurigen Gesichtsausdruck, wenn er mich entdeckt, kann ich nicht ertragen. Aber ich kann nichts dafür, doch hätte alles anders kommen können. Wäre Milky da gewesen, hätte er vielleicht seinen Vater aufhalten können. Mir ist bewusst, dass ich einen Schuldigen suche. Irgendwie muss ich die Situation für mich regeln und selber bin ich schon mitten in der Selbsterniedrigung. Wirklich, weshalb habe ich sie nicht rausgeworfen? Warum besitze ich keine Zeitmaschine, um die Zeit zu ändern. Nicht alles, denn dann wäre ich ja nicht mehr ich. Das wäre zwar auch mal schön, anders auszusehen und eine ganz andere Persönlichkeit anzunehmen. Aber stellt euch vor, ich werde zu einer Tussi wie Blondi. Oder jemand, der keine Bücher lesen mag. Am liebsten wäre es mir, in eine bessere Version von Liv Moore zu werden, die nicht in der 3. Person von sich spricht.
"Scheiße Liv, was ist passiert? Ich bringe dich sofort zum Arzt. Das sieht echt schlimm aus.". Milky steht nun neben mir.
Ich öffne die Augen und blicke ihn von unten an. Er sieht so schlimm aus, wie ich mich fühle. Mir fällt sofort auf, dass er nicht geschlafen hat. Seine Augenringe, so groß wie Teller, sind nicht zu übersehen.
"Es ist viel passiert", lache ich bitter auf. Meine Wut ist unkontrollierbar, ich bin kurz vor dem Platzen.
Besorgt macht Milky ein Schritt zurück. An seiner Stelle hätte ich auch Angst vor mir.
"Wärst du mal an dein Handy gegangen, dafür hast du ja eins. Um mit anderen Menschen Kontakt aufnehmen zu können und vor allem auch erreichbar zu sein.", bluffe ich ihn an.
Ich stehe auf, auch wenn das nichts bringt. Doch kann ich nicht mehr still sitzen. Der Drang etwas kaputt zu machen, ist so groß, doch hier ist nichts in meiner Reichweite. Der Einzige hier ist Milky.
"War das Sebastian? Ich schwöre dir, ich bringe ihn mit meinen eigenen Händen um, bevor ich ihm einen gewaltigen Tritt in seine Eier gebe", meldet sich mein Bruder zu Wort, dabei klingt er wie sein Vater.
Meine Armhaare stellen sich auf und automatisch begebe ich mich in die Abwehrhaltung, doch Angriff ist die beste Verteidigung.
"Nein du Vollidiot! Bist du eigentlich von allen guten Geistern verlassen worden? Sebastian würde mir nie etwas antun. Du bist an allem Schuld", meine Stimme wird immer lauter.
Milky sieht aus, als wurde er mitten ins Gesicht geschlagen und macht noch einen Schritt zurück.
"Jetzt hör auf weg von mir zu gehen und bade die Sache aus. Weil du gegangen bist, ist es passiert. Es ist alles deine Schuld, du kleiner Wichser.", schreie ich.
"Hör auf mich anzuschreien und zu beleidigen, ich habe nichts getan und kann nicht immer hier bei dir sein. Ich habe noch ein eigenes Leben ohne dich und wenn dir das nicht passt, ist das dein scheiß Problem. Jetzt sag mir endlich, was passiert ist und vergeude meine Zeit nicht mit deinem Drama. Wahrscheinlich bist du nur auf deiner Fresse gelandet, als du über einen Schuh gefallen bist.", brüllt er mich an.
Mir treten Tränen in die Augen.
"Dann geh doch zu deinen Scheiß Partys und ficke jedes Mädchen, was nicht bei zehn auf den Bäumen ist. Lebe dein Leben und verschwinde von hier und lasse mich alleine. Verdammt Milky, ich hasse dich. Ich hasse deinen Vater und meine Mutter. Ich hasse mein ganzes Leben, warum nur dieses Drecksleben. Das hier bringt doch nichts mehr. Jeden Tag nur Leid und Schmerz, dass will ich nicht mehr. Jeden Tag aufs Neue. Ich fühle mich so einsam. Dann warst du vorhin nicht da, wo ich dich am Meisten gebraucht habe. Allgemein leben wir uns auseinander, aber ich habe nur noch dich. Doch du hast tausend Menschen und studierst, wobei ich ein richtig schlechten Abschluss habe. Ich bin hässlich wie ein Pottwal, fett und ekelhaft."
Mittlerweile heule ich und kralle mich an meinen Armen fest, sodass dort Abdrücke von meinen Nägel entstehen.
Milky starrt mich nur perplex an, als wäre ich Schuld am Tod mehreren Hundewelpen.
"Twix war hier?", fragt er flüsternd.
"Ja verdammt und Robin auch. Und du warst nicht hier, um mir zur Seite zu stehen und keine Ahnung was noch. Das reicht ja schon, dafür hasse ich dich.", schluchze ich.
"Hat er dich wieder geschlagen? War er deswegen hier?"
Eine Mischung aus Nicken und Kopfschütteln ist meine Antwort. Die Wut verrauscht, doch die Verzweiflung und Tränen bleiben.
Milky kommt mir immer näher, sodass ich mit dem Rücken gegen die Wand stoße. Bedrohlich richtet er sich vor mir auf.
"Ich werde hier bleiben, auch wenn du mich weg schickst. Ich werde dich lieben, auch wenn du mich hasst und wir werden zusammen alles bewältigen. Aber jetzt holen wir dir erstmal ein Kühlakku, ein Taschentuch und deine Benjamin Blümchen Torte, dann erst besprechen wir alles."
Als hätte ich ihn nie beleidigt, oder Sachen an den Kopf geworfen, umarmt er mich vorsichtig, als wäre ich das Wertvollste auf dieser Welt für ihn.
Wahrscheinlich wird es eine reinste Katastrophe mit meinen Eltern. Wahrscheinlich werde ich daraus nicht ganz heil raus kommen, aber ich habe noch eine kleine Hoffnung.
Dass am Ende alles gut sein wird, weil es sonst nicht das Ende sein kann.
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