52 | Brüder
[ich habe ''hug GIF'' gegoogelt und dann kam das dabei raus. es passt zwar nicht zum Kapitel, aber ich musste es nehmen. ich meine, ist das nicht mega niedlich??]
• Tom Rosenthal - Go Solo •
»So, ich denke, ich habe alles«, sage ich, rutsche neben Caleb auf die Rückbank und verstaue die Tasche im Fußraum. Caleb lehnt sich an meine Schulter, als hätte er nur darauf gewartet, dass ich endlich zurückkomme.
Ich lege meine Arme um ihn und streiche ihm beruhigend über den Rücken. Dann schaue ich über den Sitz zu Alec. »Wo fahren wir jetzt hin?«
Er antwortet nicht, hält das Lenkrad fest umklammert und starrt einfach nur die blutige Hand an, mit der er vor ein paar Minuten noch auf seinen Vater eingeschlagen hat. Erst nach und nach scheint er zu begreifen, was eben passiert ist, und obwohl ich verstehen kann, dass er unter Schock steht, mache ich mir langsam Sorgen. Er hat nichts mehr gesagt seit wir das Haus verlassen haben.
Ich sehe Caleb an, der in meinem Armen liegt und unruhig auf seiner Unterlippe herumkaut. Einzelne, dunkle Strähnen fallen ihm ins Gesicht, aber sie scheinen ihn nicht zu stören.
Nach allem was passiert ist, was ich erfahren habe, will ich ihn nie wieder loslassen. Am liebsten würde ich eine riesige Kugel um ihn herum erbauen, um ihn vor allem Bösen und jeder Gefahr zu schützen.
Manchmal wirkt er so viel älter für sein Alter, aber es gibt auch Momente in denen er so viel jünger aussieht. Wie in diesem Augenblick. So wie er dahockt und den Sitz vor sich anstarrt, wirkt er verletzlich. Ich frage mich, ob das den selben Grund hat wie bei Alec. Denn gerade in solchen Momenten erinnert Caleb mich an seinen großen Bruder. An den Alec, der im Herzen noch ein kleiner Junge ist, der sich vor Jahren selbst verloren hat, weil er den Tod seiner Mutter nie verkraftet hat.
Caleb ist erst fünf oder sechs gewesen, als die Beerdigung seiner Mutter war. Er kann sich an kaum an etwas erinnern. Ob er noch weiß wie sie ausgesehen hat? Wie sie sich angehört hat und wie sich ihre Berührungen angefühlt haben?
Alec hat gesagt, dass er Caleb manchmal Gesichten von ihrer Mutter erzählt hat. Schöne Geschichten, aber es bleiben doch nur Geschichten. Es muss schrecklich sein, sich nicht an seine eigene Mutter erinnern zu können. Aber was ist nun das schlimmere Übel? Sich zu erinnern oder keine Erinnerung zu haben?
»Hey«, sage ich leise und streiche Caleb beruhigend durch die Haare, als wäre er noch ein Kleinkind. Er schließt die Augen und gibt sich der Berührung hin. Ich lächle. Manchmal erinnert er mich an einen kleinen, verlorenen Welpen.
Ich hebe den Blick und beobachte Alec durch den Rückspiegel, aber er nimmt mich gar nicht wahr. Er nimmt niemanden wahr. Schließlich seufze ich. Wir können nicht für immer vor dem Haus stehen bleiben. Wir müssen hier weg.
»Wir fahren zu mir, okay?«, sage ich. »Meine Mutter ist bestimmt noch nicht zu Hause. Caleb... er braucht etwas zu Essen und eine warme Decke. Und wir müssen uns um deine Hand kümmern.«
Alec hebt endlich den Blick von seiner Hand und mustert mich einige Sekunden lang durch den Rückspiegel, dann fällt sein Blick auf Caleb, der sich auf meinem Schoß zusammengerollt hat. Er schließt die Augen. Ich kann die Ader an seiner Schläfe förmlich pochen sehen, als er langsam tief ein und ausatmet. Es vergehen ein paar Sekunden, bevor er endlich den Motor startet und losfährt.
Ich streiche beruhigend über Calebs kleinen, zitternden Körper. »Wir fahren jetzt nach Hause, Caleb. Zu deinem neuen Zuhause.«
-
Das Glück ist heute leider nicht auf meiner Seite.
Meine Mutter ist zu Hause und sie bekommt regelrecht einen Anfall, als ich mit Caleb und Alec in die Küche spaziere. Wir drei müssen einen verstörenden Anblick geben. Caleb, der mich einfach nicht mehr loslassen möchte; Alec, dem Blut an den Händen klebt und ich, die zwischen den beiden steht und offensichtlich völlig überfordert mit der ganzen Situation ist.
»Oh mein Gott. Rebecca Wattler, was glaubst du, was du da machst? Und überhaupt, solltest du nicht in der Schule sein?« Ihr Blick fällt auf Alecs Hand und sie zieht scharf die Luft ein. Ihre Augen werden ganz groß, als sie langsam einen Schritt zurücktritt. »Ach herrje, ist das Blut? Sag mir bitte, dass du nur gestürzt bist, Alec.«
Da ich weder von Alec, noch von Caleb jegliche Untersützung erwarten kann, versuche ich mich zusammenzureißen. »Mom, ich erkläre dir gleich alles. Es gibt für alles einen Grund. Bitte dreh nicht durch.«
»Zu spät«, flüstert sie mit aufgerissenen Augen.
Ich sehe Caleb an.»Ich werde deine Hand jetzt loslassen, okay? Nur ganz kurz. Ich muss mit meiner Mutter unter vier Augen reden. Bleib einfach... bleib einfach hier bei Alec.«
Er nickt langsam, also lasse ich seine Hand wieder los und lege die Tasche mit Calebs Sachen auf dem Küchentisch ab. Nachdem wir es aus dem Haus der Moranis' geschafft haben, bin ich noch einmal ohne die Jungs zurück, um Caleb ein paar Sachen zu besorgen. Einen Schlafanzug, frische Wäsche und seine Videospiele.
Mrs. Moranis ist ganz panisch geworden und wollte die Polizei rufen, als sie mich gesehen hat, aber ich habe ihr versichert, dass ich nicht wegen ihnen hier bin.
Ich sehe zu Alec, der einfach nur in der Küche steht und immer noch völlig verstört seine Hand anstarrt, und dann fällt mein Blick auf Caleb, der sich langsam wieder zu beruhigen scheint. Er hat sich an den Küchentisch gesetzt und greift nach der Tasche, die ich mitgebracht habe. Wahrscheinlich will er sichergehen, dass ich die richtigen Spiele eingepackt habe.
Obwohl die beiden Brüder sind und sich in vielen Dingen ähneln, erscheinen sie mir manchmal doch wie Tag und Nacht. Während Caleb nach vorne zu schauen scheint und seine Sorgen verdrängt, trägt Alec sie wie eine Last mit sich und schaut immer wieder zurück. Es ist gut, auch manchmal zurückzudenken, an das was war, aber bei Alec ist es beinahe schon krankhaft, ungesund. Manchmal habe ich das Gefühl, er würde noch in der Vergangenheit leben.
Ich ziehe meine Mutter zur Seite. »Versprich mir, dass du nicht ausrastest und die Polizei anrufst, wenn ich es dir erzähle«, flüstere ich, damit die beiden Jungs uns nicht hören.
»Das kann ich dir nicht versprechen, Becca.«
»Versprich es mir! Ich flehe dich an!«
Ich weiß nicht, ob es die Entschlossenheit in meiner Stimme ist, oder der Blick in meinen Augen, aber schließlich seufzt sie. »Ich verspreche es dir.«
Und dann fange ich an zu erzählen.
-
»Caleb nimmt jetzt ein Bad.« Ich lasse mich seufzend gegen die Tür fallen, nachdem ich sie hinter mir geschlossen habe. »Meine Mutter hat gesagt, dass er hierbleiben kann, aber... Alec?«
Er reagiert nicht. Ich kann sein Gesicht nicht sehen. Er sitzt auf meiner Bettkante und hat mir den Rücken zugewendet, also trete ich von der Tür weg und gehe mit langsamen Schritten auf ihn zu. »Hey, Alec.«
Obwohl ich mich bemüht habe, ruhig zu sprechen, zuckt er bei meinen Worten zusammen. Er schaut von seiner Hand auf und sieht mich an. Anders als heute Nachmittag sieht Alec nicht mehr so irre und wütend aus, sondern eher wie ein verlorener Junge. Er senkt den Blick wieder, so dass ihm einzelne, dunkle Strähnen ins Gesicht fallen.
»Ich habe ihn... ich hätte ihn fast... ich wollte ihn umbringen, Rebecca. Meinen eigenen Vater«, flüstert er. Es sind die ersten Worte, die er seit dem Vorfall vorhin sagt. Er sieht mich nicht an, starrt einfach nur auf seine Hand, als könnte er nicht begreifen, wie sie ein Teil von ihm sein kann.
Meine Mutter musste einen Verband um sein Handgelenk wickeln. Nachdem er das ganze Blut abgewaschen hat, konnte man erst sehen, dass er sich bei seinen Schlägen auch selbst verletzt hat. Seine Knöchel waren völlig aufgeschürft.
Ich setze mich zu Alec an die Bettkante und lege einen Arm um ihn. »Ich weiß. Ich weiß, Alec.«
»Vielleicht hätte ich ihn wirklich umgebracht, wenn du nicht gekommen wärst.« Er schüttelt den Kopf. »Ich war so wütend. Ich bin immer noch wütend, aber vorhin... vorhin war ich... ich war...« Er lässt den Kopf wieder sinken. Ihm fehlt die Kraft, fehlen die Worte, aber er braucht nichts mehr zu sagen. Ich bin dabei gewesen, ich weiß wie Alec sich in dem Moment gefühlt haben muss.
»Er hat etwas Unverzeihliches getan, etwas Schreckliches, Alec. Du hast vollkommen natürlich gehandelt. Du wolltest Caleb nur beschützen. Hör auf dir Vorwürfe zu machen. Du gibst dir andauernd für alles die Schuld, Alec. Das muss aufhören.«
»Ich habe immer zu meinem Vater aufgesehen. Als ich klein war und er mich auf seinen Schultern durch den Park getragen hat, da dachte ich mein Vater sei ein Held. Ich wollte immer so sein wie er... und jetzt... ich kann Caleb nicht mehr unter die Augen treten.« Er reibt sich über die müden Augen. »Ich bin viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt gewesen, um zu begreifen, was vor meinen Augen passiert. Auf der Beerdigung damals habe ich meiner Mutter geschworen, auf Caleb aufzupassen. Ich habe-«
»Hey«, sage ich leise und zwinge ihn, mich anzusehen. »Alec, sieh mich an. Du bist selbst noch so jung und du trägst schon so viel mit dir. Du kannst nicht jeden beschützen, du kannst dich nicht um jeden kümmern. Es ist nur menschlich. Hör auf dir immer für alles die Schuld zu geben. Nicht du hast Schuld, sondern dein Vater und Maja. Und eines Tages werden die beiden bekommen was sie verdienen. Da bin ich mir sicher.
Du kannst nicht ungeschehen machen, was passiert ist, aber du kannst nach vorne sehen und es besser machen.«
Ich zögere kurz, doch dann frage ich: »Wie hast du es erfahren? Das mit deinem Vater, meine ich.«
Alec sieht mich an. Er öffnet den Mund, sagt aber nichts, als würde ihm die Stimme versagen und schließlich beugt er sich nach vorne, um seine Jacke aufzuheben. Er zieht ein kleines Notizheft hervor, blättert darin rum, sucht nach einer bestimmten Seite.
»Ich habe vor vielen Jahren die letzten Fotos zerrissen und verbrannt, die ich von meiner Mutter hatte. Ich wollte es nicht tun. Im Nachhinein hasse ich mich dafür.
Es war ihr vierter Todestag. Ich bin gerade durch eine Prüfung gefallen. Also bin ich los, Alkohol kaufen. Ich habe mich betrunken und bin durchgedreht. Ich dachte andauernd, ich würde sie sehen. Total bescheuert, ich weiß. Aber ich dachte wirklich, ich würde ihre Stimme hören, ihre Berührung spüren. Ich habe Panik bekommen und alle Bilder, die ich von ihr hatte zerrissen. Als ich immer noch das Gefühl hatte, dass sie da wäre, habe ich die Schnipsel schließlich verbrannt.
Ich... nachdem ich dir von meiner Mutter erzählt habe, konnte ich nicht mehr aufhören an sie zu denken. Also bin ich nach Hause gegangen, auf den Dachboden. Ich dachte, ich würde bestimmt ein Foto von ihr finden.« Er lächelt traurig. »Manchmal habe ich Angst davor, zu vergessen wie sie aussieht.«
Er blättert weiter, bis er schließlich die richtige Seite gefunden zu haben scheint. Für einige Sekunden starrt er sie einfach nur an. »Ich habe es auf dem Dachboden gefunden«, sagt er und hält mir das Heft hin. »Hier.«
Ich nehme es in die Hand und fange an zu lesen.
Er hat es wieder getan. Er hat versprochen, dass es nie wieder passiert. Er hat gesagt, es würde ihm leid tun. So, so leid tun. Dieses Mal hat er mir Blumen gekauft. Verdammte Blumen! Als würden diese verfluchten Blumen alles rückgängig machen. Den Schmerz und die Demütigung.
Ich habe die Blumen in den Müll geworfen, sobald er das Haus verlassen hat. Am liebsten hätte ich noch drauf gespuckt, aber in dem Moment ist Alec von der Schule zurückgekommen. Als er das blaue Auge bemerkt hat, wäre ich am liebsten auf die Knie gefallen und hätte ihm alles erzählt, aber ich musste ihn anlügen und ihm sagen, dass ich mich beim Kochen verletzt habe.
Er hat sich solche Sorgen um mich gemacht. Ich hätte ihm gerne die Wahrheit gesagt, aber wie erzählt man einem Zehnjährigen, dass sein eigener Vater so etwas Schreckliches tut? Ich sehe doch wie er ihn ansieht. Er sieht zu ihm auf und ich will ihm diese Illusion nicht nehmen.
Und wer weiß, vielleicht ist es wirklich das letzte Mal gewesen?
Der Eintrag ist zu Ende. Ich hebe den Blick und sehe Alec fragend an. Als er nickt, blättere ich um und lese weiter.
Es ist das letzte Mal. Es ist das letzte Mal. Es ist das letzte Mal. Jedes Mal ist es das letzte Mal. Wie viele letzten Male muss ich noch ertragen damit es auch das letzte Mal bleibt?
Manchmal wünsche ich mir, dass er so heftig zuschlagen würde, dass es kein nächstes Mal mehr gibt. Ich will nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Aber ich werde. Für Alec. Für Caleb. Für meine beiden, starken Jungs.
Ich schlucke und lese den nächsten Eintrag.
Ich habe nie an Monster geglaubt, und jetzt lebe ich mit einem zusammen. Ich bin mit einem Monster verheiratet. Ich kann nicht glauben, dass das der selbe Mann ist, der vor zwölf Jahren um meine Hand angehalten hat.
Als ich mit Alec vom Training nach Hause gekommen bin, habe ich Stimmen gehört. Eine Frau hat gekichert. Also habe ich Alec auf sein Zimmer geschickt und bin ins Schlafzimmer gegangen. Sie saß auf ihm. Vollkommen nackt und entblößt. Sie hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, geschockt auszusehen oder sich zu verstecken. Und Alessio? Er hat mir ins Gesicht gelacht, mir gesagt, ich solle die Tür hinter mir wieder schließen, wenn ich gehe.
Ich würde gerne meine Koffer packen, Alec und Caleb nehmen und verschwinden. Aber wo sollen wir hin? Meine Eltern sind tot.
Wie soll ich alleine zwei Jungs großziehen? Ich kann nicht mehr arbeiten. Ich habe nichts gelernt. Ich habe kein Geld. Ich bin ganz alleine auf dieser Welt. Alleine mit meinen Jungs. Sie sind alles was mich am Leben hält, was mich jeden Tag durchhalten lässt. Sie sind alles was ich habe und alles was ich brauche.
Ich wünschte, ich könnte ihnen eine bessere Mutter sein. Stärker und selbstständiger. Wann bin ich nur so geworden? Was ist mit der Frau passiert, die Leben retten wollte? Sie kann nicht mal mehr ihr eigenes Leben retten.
Ich presse die Lippen aufeinander, atme tief ein. Alec mustert mich von der Seite, ich spüre es, und als ich zitternd wieder ausatme, legt er seine Hand auf mein Bein.
Ich blättere zum nächsten Eintrag.
Schwanger.
Ich bin schwanger.
Sobald ich von der Schwangerschaft erfahren habe, wollte ich sie abtreiben lassen, aber Alessio hat herumgewütet, als ich es ihm gesagt habe. Er hat mich angeschrien und den Tisch umgeworfen. Ich bin in letzter Sekunde weggesprungen, sonst hätte er mich erwischt. Er wollte mich treffen. Ich habe es in seinen Augen gesehen, in diesem irren Blick, den niemand außer mir kennt.
Wieso lasse ich mich so von ihm herum kommandieren? Ich weiß es nicht. Vielleicht, weil ich niemanden habe, weil ich schwach bin, weil ich alleine bin. Vielleicht suche ich auch einfach nur eine Ausrede.
Ich schäme mich so sehr. Schäme mich für das, was ich mit mir machen lassen. Jedes Mal erwische ich mich dabei, wie ich die Nummer des Frauenhauses heraussuche. Ich möchte dort anrufen, ich brauche Hilfe, sie bieten Hilfe an, aber ich schäme mich zu sehr, um fremde Hilfe anzunehmen. Die Scham ist größer als die Angst vor Alessios Faust. Ist das egoistisch? Vielleicht. Aber es ist immer einfach, sich eine Meinung zu bilden, wenn man nicht selbst betroffen ist.
Wenn ich nur jemanden hätte, der mir meine Entscheidung abnehmen könnte. Jemand, der mir sagt, was ich tun soll.
Alessio wagt es nur, mir etwas anzutun, wenn Alec in der Schule ist. Er würde nie zuschlagen, wenn er dabei ist. Caleb ist noch zu jung, um etwas zu verstehen. Er liegt in seinem Zimmer und schläft, während das alles passiert. Aber was ist, wenn Alec irgendwann alt genug ist und schließlich versteht, dass es nicht immer Unfälle sein können? Dass niemand so tollpatschig ist, dass er sich jeden Tag und überall Verletzungen und Blutergüsse zuträgt?
Und was ist, wenn Alessio es leid ist mir wehzutun? Wenn er entscheidet, dass er auch seinen Söhnen Gewalt antun wird? So etwas würde er nicht tun, oder? Es sind seine Söhne. Sein Fleisch und Blut. Er würde Alec und Caleb nie etwas tun. Niemand würde so etwas tun. Nicht einmal ein Monster wie er.
»Vorletzte Seite.«
Ich hebe den Blick und sehe Alec an, aber er weicht meinem Blick aus. Mit einem unguten Gefühl im Magen blättere ich bis zur vorletzten Seite vor.
Ich habe aufgehört, Alec zu seinem Training zu begleiten, weil ich die Blicke der anderen Eltern nicht mehr ertrage. Dieses Mitleid, diese Vorwürfe, diesen unbegründeten Neid. Ich kann es in ihren Augen lesen. Schwache Frau. Schlechte Mutter. Krank. Depressiv. Unselbstständig. Sie geht nicht arbeiten. Sie ist nur eine Hausfrau. Sie sucht doch nur Aufmerksamkeit. Mr. Moranis ist so ein gutaussehender, toller Mann. Wie erträgt er es nur mit ihr?
Die ersten Wochen habe ich es noch versucht. Ich habe es wirklich versucht. Ich wollte Alec eine gute Mutter sein, weil ich gesehen habe, wie glücklich er ist, wenn er über das Feld rennt, wie sehr er sich darüber freut, dass ich ihn anfeuere, aber ich schaffe es nicht mehr. Ich kann nicht mehr.
Nachdem mich eine der Mütter auf der Tribüne angesprochen hat und mir gesagt hat, dass ich Glück habe, was für einen tollen Mann ich doch hätte, dass er sich wahrscheinlich rührend um mich sorgt, hätte ich mich am liebsten übergeben. Warum sehen Menschen immer nur das, was sie sehen wollen? Warum fallen sie auf eine schöne Fassade rein? Warum bin ich damals nur drauf reingefallen?
Ich blättere wieder um.
Alec distanziert sich von mir. Er denkt, ich bemerkte es nicht. Die hasserfüllten und vorwurfsvollen Blicke, die er mir manchmal zu wirft. Ich kann es ihm nicht übel nehmen. Ich kann nicht wütend oder sauer sein. Nicht auf ihn. Er hat jedes Recht, mich zu hassen. Ich habe als Mutter versagt.
Ich hoffe nur, Alec weiß wie sehr ich ihn liebe. Was auch passiert, was er auch tut oder sagt, wie sehr er mich auch hassen mag, ich werde ihn immer lieben. In meinen Augen wird er für immer der kleine Junge sein, der mein Leben bereichert hat. Caleb und er sind das Beste was mir passieren konnte.
Ich wünschte nur, ich könnte es ihnen sagen. Aber vielleicht habe ich so lange mit einem Monster zusammengelebt, dass ich selbst zu einem geworden bin.
»Ich... ich wünschte er hätte es verbrannt.«
Beim Klang seiner Stimme zucke ich zusammen.
»Ich wünschte, nicht ich, sondern mein Vater hätte dieses Buch gefunden. Es stand mir nicht zu, es zu lesen. Es waren ihre Gedanken, ihre Gefühle, aber ich konnte nicht anders. Ich musste es tun. Ich habe jeden einzelnen Eintrag gelesen. Mindestens einmal. Und ich bekomme ihre Worte einfach nicht mehr aus meinem Kopf.«
Gerade als ich etwas sagen möchte, klopft es an der Tür. Ganz leise, aber es lässt uns beide zusammenzucken. Ich stehe auf und rufe: »Ja?«
Die Tür geht auf und Caleb steckt seinen Kopf herein. Seine braunen Haare sind noch nass und stehen ihm in alle Richtungen ab.
»Hey«, sage ich leise und lächle, während ich auf ihn zugehe. »Komm rein.«
Er zögert, also ziehe ich ihn sanft in mein Zimmer und verschließe die Tür hinter ihm. »Wie geht es dir? Geht es dir besser?« Ich greife nach einem Handtuch, um damit seine Haare zu trocknen. »Wir haben zwar nicht so einen coolen Whirlpool wie ihr, aber ich hoffe, es hat dir trotzdem gefallen.«
Caleb lächelt mich an und nickt.
»Was ist? Irgendetwas liegt dir doch auf der Zunge, oder?«
Er weicht meinem Blick aus, schaut an mir vorbei zu seinem Bruder und dann wieder auf den Boden. »Es ist nichts, nur... vergiss es.«
»Komm schon. Erzähl es mir. Was willst du? Willst du noch eins deiner Videospiele spielen? Willst du, dass ich zu Dunkin Donuts fahre und dir einen Donut kaufe? Zwei? Drei? Heute ist dein Tag. Du darfst dir wünschen was du willst.«
»Eigentlich wollte ich nur fragen, ob ich... Darf ich heute Nacht hier schlafen? Bei euch? Ich will nicht alleine sein.«
Alec ist schneller neben mir, als ich antworten kann. Und bevor ich begreife was passiert, schlingt er die Arme um seinen kleinen Bruder. »Es tut mir so leid, Caleb. Ich bin der beschissenste Bruder den man haben kann. Bitte hass mich nicht.«
Caleb wirkt im ersten Moment genauso überrascht wie ich mich fühle. Doch dann wird sein Blick sanft. Es ist fast so, als wäre es nicht das erste Mal, dass so etwas zwischen den Brüdern passiert. Er schließt die Augen und drückt seinen Bruder ganz fest. »Es ist alles gut, Alec.Ich hasse dich nicht. Ich kann dich gar nicht hassen.«
Von all den Menschen auf diesem Planeten wäre Alec wohl der Letzte, den Caleb hassen könnte.
A/N:
also, erstmal euch allen Frohe Ostern! :)
Ich weiß nicht, ob ich es schaffen werde, aber vielleicht poste ich heute noch ein Kapitel. Wir nähern uns dem Ende. Ich glaube, es wird noch so um die zwei bis vier Kapitel geben und wahrscheinlich noch einen Epilog. Ich hoffe, ihr werdet mich nach diesem Ende nicht hassen! (Spaß, ich will euch nur Angst machen (oder doch nicht? (muhahahaha)))
Hat jemand schon eine Theorie, wie es enden könnte? :D Ich habe das Ende schon sooooo lange geplant, dass ich irgendwie mega aufgeregt bin, wie ihr alle darauf reagieren werdet 😅
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