49 | Alles und nichts
• SYML - The War •
»Sollen wir zu mir gehen?«, frage ich irgendwann. Aber Alec antwortet nicht. Er hat sich nach vorne gebeugt, die Ellenbogen auf den Oberschenkeln abgestützt und das Gesicht hinter den Händen vergraben, als würde er alles um sich herum ausblenden wollen.
Irgendetwas ist passiert; irgendetwas, dass ihn dazu veranlasst sich selbst die Schuld am Tod seiner Mutter zu geben. Ich will ihn fragen, alles wissen, aber gleichzeitig will ich ihn nicht bedrängen, zu nichts zwingen. Ich will diesen Alec, der so verloren aussieht, beschützen. Ich will, dass er aufhört zu zittern, will diesen verletzlichen Ausdruck in seinen Augen auslöschen, will den Hass aus seiner Stimme ausradieren, aber ich kann nichts sagen oder tun was ihm seine Schuldgefühle abnehmen könnte. In diesem Augenblick fühle ich mich genauso verloren wie er.
Langsam hebe ich den Blick. Ich atme tief ein, so tief, dass die kalte Luft in meinen Lungen schmerzt, nur um überhaupt etwas zu spüren. Alles fühlt sich taub an.
Ich friere, weil es kalt ist, aber diese Kälte ist nichts im Vergleich zu der, die sich in meinen Körper schleicht. Die Kälte, die nichts mit dem Schnee um uns herum zu tun hat. Eine Kälte, die vom Kummer aus Alecs Worten kommt, aus den gesprochenen, aber auch aus den stummen Worten, die er sich nicht zu sagen traut.
Ich klemme meine eingefrorenen Hände zwischen meine Beine und lege den Kopf in den Nacken, beobachte die einzelnen Schneeflocken, die vom Himmel auf die weißen Straßen fallen und dann in der Masse verschwinden. Es ist seltsam was für eine beruhigende Wirkung der Schnee auf mich hat. Ich spüre, wie sich meine Muskeln langsam wieder entspannen, wie das beklemmende Gefühl langsam von mir weicht, und ich frage mich, ob es Alec in diesem Augenblick genauso geht, ob er gerade auch die Schneeflocken beobachtet, und ob sie ihn beruhigen, ob er deswegen nicht reingehen möchte. Wenn ich den Kopf nur ein Stück zur Seite wenden würde, könnte ich-
»Meine Mutter«, sagt er plötzlich leise, so leise, dass ich mir nicht sicher bin, ob er es wirklich gesagt hat. Ich wende den Blick von den Schneeflocken ab und sehe ihn an. Er wischt sich über die Augen und starrt dann auf den Boden. »Meine Mutter hatte einen Traum. Einen einzigen Traum für den sie immer gekämpft hat. Sie wollte Medizin studieren. Eine Ärztin werden, Leben retten, Leid nehmen und Hoffnung schenken.
Als ich noch klein war, hat sie es mir erzählt. Sie sah so traurig dabei aus. Ich habe es gehasst sie so zu sehen, also habe ich gesagt: ›Wenn du keine Ärztin werden konntest, dann werde ich eben Arzt. Für dich.‹ Und dann hat sie gelacht. Sie hat so schön gelacht. Ihre Augen haben dabei immer so geleuchtet. Und man konnte ihre Grübchen sehen. Ich hätte ihr den ganzen Tag dabei zusehen können.« Er lächelt schwach. »Jedes Mal wenn ich dann meine Hausaufgaben nicht machen wollte oder keine Lust auf Schule hatte, hat sie gesagt: ›Wenn du einmal ein Arzt werden willst, musst du zur Schule, Alec. Weißt du, Ärzte machen immer ihre Hausaufgaben.‹ Sie hat mich nicht angeschrien, das hat sie nie, sie hat immer ganz ruhig auf mich eingeredet und ist dabei mit ihrer Hand durch meine Haare gegangen.« Er fährt sich durch die Haare, als wollte er es demonstrieren.
»Sie wollte Tierärztin werden. Als sie klein war, hat sie einen verwahrlosten Hund auf der Straße gefunden. Ihre Eltern sind dann zum Tierarzt gefahren. Er hat dem Hund das Leben gerettet. In den Augen meiner Mutter war dieser Mann ein Held. Von dem Tag an war sie so vernarrt in den Wunsch gewesen, auch einmal so zu werden. Sie hat mir diese Geschichte immer erzählt, wenn ich nicht schlafen konnte.«
Er hebt den Blick und starrt wieder auf die Straße. »Was sie mir nie erzählt hat, war, wieso sie irgendwann aufgehört hat ihrem Traum hinterherzulaufen. Aber heute weiß ich es. Heute weiß ich, dass ich der Grund gewesen bin. Als sie schwanger geworden ist, hat mein Vater sie gezwungen, ihr Studium abzubrechen.
Sie hat immer behauptet, ich wäre ein Geschenk, das Beste was ihr je passiert ist«, meint er nüchtern, »aber das war eine Lüge. Ich war kein Geschenk, sondern der Anfang vom Ende.«
Vorsichtig lege ich meine Hand auf seine Schulter. Ich weiß nicht, was ich tun oder sagen könnte, ob ich überhaupt etwas tun oder sagen sollte. Ich fühle mich hilflos, so hilflos wie noch nie zuvor. Wenn ich könnte, würde ich Alec etwas von seiner Last abnehmen, aber ich weiß, dass das nicht geht.
Lange Zeit ist es wieder ruhig zwischen uns. Bis auf die Autos, die ab und zu an uns vorbeifahren, ist nichts zu hören. Die Straßen sind wie leergefegt.
»Ich bin mir sicher, dass sie dich geliebt hat«, sage ich schließlich leise. Nur um irgendetwas zu sagen. Diese Stille ist unerträglich.
Alec sieht mich nicht an, aber ich weiß, dass er mich hört, denn bei meinen Worten zuckt er auf einmal zusammen. Er kaut unruhig auf seiner Unterlippe herum. »Das ist es ja, Rebecca. Genau das ist das Problem! Ich bin der Grund, weshalb sie ihre Träume aufgegeben hat und sie... sie hat mich nicht gehasst. Keine einzige Sekunde lang. Sie hat mich geliebt, wie eine Mutter ihr Kind nur lieben kann. Dabei habe ich das nicht verdient. Ich habe ihre Liebe nicht verdient.« Seine Stimme wird mit jedem Wort lauter, doch als ihm das aufzufallen scheint, wird er wieder ruhiger. »Es... es tut mir leid, ich...«
»Nein«, sage ich schnell. »Dir braucht gar nichts leidzutun, Alec. Überhaupt nichts. Erzähl mir mehr von ihr. Wie ist sie gewesen?«
Er antwortet nicht sofort, aber ein schwaches Lächeln huscht auf seine Lippen, so als würde er in Erinnerungen schwelgen. »Früher, bevor alles scheiße wurde, war sie... sie ist bei jedem Training dabei gewesen. Fußball. Als ich noch jünger war, habe ich Fußball gespielt. Ich war nicht der beste Spieler, aber es hat mir Spaß gemacht. Und jedes Mal, wenn ich ein Tor geschossen habe, hat sie am lautesten gejubelt. Lauter als der Trainer, lauter als die Spieler und lauter als das gesamte Publikum zusammen.« Alec schüttelt lachend den Kopf. »Manchmal konnte sie auch echt peinlich sein. Sie ist so stolz auf mich gewesen. Ich konnte vom Spielfeld aus hören, wie sie gerufen hat: ›Sehen Sie diesen Jungen da? Das ist mein Sohn.‹ Und sobald das Spiel zu Ende gewesen ist, ist sie über das halbe Feld gestürmt, um mich zu erdrücken.« Er lacht kurz auf, vielleicht ist es aber auch ein Schnauben. In diesem Moment kann ich das nicht wirklich auseinander halten. »Ich weiß, das klingt jetzt total bescheuert, aber... sie ist nicht nur meine Mutter gewesen, sondern auch... meine beste Freundin.«
Alec zögert, dann atmet er zitternd aus. »Und dann... auf einmal ist alles anders gewesen. Als ich elf war - Caleb ist gerade mal zwei Jahre alt gewesen -, ist sie noch einmal schwanger geworden. Zwillinge. Ich glaube, das war der Punkt an dem alles den Bach runterging. Sie hat es sich anfangs nicht anmerken lassen, aber irgendwann habe ich sie trinken sehen. Manchmal saß sie die ganze Nacht in der Küche, hat einfach nur die Wand angestarrt und versucht den Schmerz mit Alkohol zu betäuben. Sie hat getrunken, obwohl sie schwanger gewesen ist. Nicht nur ein Bier oder ein Glas Wein, sondern starkes Zeug.
Ich weiß nicht wieso sie das getan hat. Vielleicht hätte ich sie einfach fragen können, aber damals habe ich nichts verstanden. Ich habe kaum etwas von dem mitbekommen, was um mich herum geschehen ist, aber ich wünschte, ich wüsste wieso sie das getan hat. Wieso sie plötzlich so verrückt danach war, nichts zu fühlen.
Sie hat die Kinder verloren. Als sie zur Welt kamen, waren sie bereits tot. Ich habe sie nie gesehen, aber ihr Anblick muss verstörend gewesen sein, denn ab dem Tag an war meine Mutter nie wieder dieselbe.
Mein Vater hat sich immer mehr in die Arbeit gestürzt. Ich habe die beiden andauernd streiten hören. Sie kam mit der Fehlgeburt nicht klar und irgendwann hat mein Vater sie in die Therapie geschickt. Ich habe ihn gefragt, was los sei. Ich wollte wissen was mit meiner Mutter geschehen ist. Die Mutter, die immer gelacht hat und bei all meinen Spielen dabei sein wollte, die mich jedes Mal nach der Schule gefragt hat wie mein Tag gewesen ist und mich in den Arm genommen hat, wenn ich traurig war. Mein Vater meinte: ›Deiner Mutter geht es nicht gut. Sie hat Depressionen.‹ Depressionen. Damals wusste ich nicht was das bedeutet, also habe ich ihn gefragt, aber er hat mir nicht geantwortet. Ich glaube, er hat ihre Krankheit nie wirklich ernst genommen. Vielleicht hat er geglaubt, dass das nur eine Phase sei, die bald vorübergehen würde.«
Er atmet wieder tief ein und aus, bevor er weiterspricht. »Wenn jemand Krebs bekommt oder ein schwaches Herz hat, dann ist das schlimm, aber das ist das Leben. Das scheiß Leben ist dran schuld, dass es dir so ergeht, aber wenn jemand Depressionen bekommt, dann fragt man sich, was man selbst falsch gemacht hat, was man selbst dazu beigetragen hat, dass dieser Mensch so geworden ist. Was habe ich getan, dass meine Mutter so geworden ist? Und was hätte ich tun sollen, damit es niemals so weit gekommen wäre?«
»Du hättest nichts tun können, Alec. Du bist doch noch ein Kind gewesen. Du wusstest nicht, was passiert«, versuche ich ihn zu beruhigen. Ich streiche mit der Hand über seinen Rücken und scheinbar ohne es zu bemerken, lehnt er sich langsam gegen mich. Er drückt sein Gesicht an meine Schulter, so dass ich spüren kann, wie er zittert. »Vielleicht hast du recht, Rebecca, aber das macht es nicht weniger schlimm. Ich bin vielleicht nicht der Grund für ihre Depressionen gewesen, aber ich bin derjenige gewesen, der ihr den letzten Stoß in den Suizid gegeben hat.
Als mein Vater sie zur Therapie geschickt hat, wurde alles nur noch schlimmer. Sie ist nicht mehr zum Training gekommen. Am Anfang bin ich trotzdem hingegangen. Ich dachte, dass ich den Sport brauche, dass ich das alles für mich tue, aber ich habe mich immer wieder dabei erwischt wie ich zur Tribüne geschaut habe, als würde meine Mutter da sitzen und mir jeden Augenblick wieder zujubeln. Ich habe es vermisst von ihr angefeuert zu werden. Ich habe es vermisst ihre peinlichen Zurufe zu hören. Und ich habe es vermisst, wie sie immer mit ihrem strahlendsten Lächeln über das Feld gerannt ist, um mich dann zu erdrücken. Irgendwann habe ich den Sport dann aufgegeben. Den Sport und sie.
Jeder in der Stadt wusste Bescheid. Über ihre Depressionen. Sie haben mir andauernd diese mitleidigen Blicke zugeworfen. Ich habe sie flüstern hören: ›Der arme Junge‹ und ›was für eine unverantwortungsvolle und egoistische Mutter‹. Niemand hat jemals gesagt ›die arme Frau. Was sie wohl durchmachen musste?‹, und irgendwann habe ich ihnen geglaubt. Ich war so jung, so dumm und so verwirrt. Zuerst habe ich angefangen mich für meine eigene Mutter zu schämen. Für ihre Depressionen. Und irgendwann wurde diese Scham zu Hass. Ich habe meine Mutter gehasst.
Als ich Sara kennengelernt habe, dachte ich, ich sei verliebt. Vielleicht war ich das auch. Ja, ich war verliebt. Verliebt in sie und in die Drogen, in die Partys und den Alkohol. Ich war verliebt in das Betäubtsein.
Nach all den Monaten war sie der erste Mensch, der mich gesehen hat. Nicht meine Mutter, nicht den Jungen mit der depressiven Mutter, sondern einfach nur mich. Und das habe ich gebraucht. Jemanden, bei dem ich ich sein konnte, bei dem ich all diesen Scheiß vergessen konnte.«
Er nimmt meine Hand in seine und drückt sie sanft und ich drücke zurück. Ich habe mir immer gewünscht, dass Alec sich mir öffnet. Es wäre auch in Ordnung gewesen, wenn wir uns nur Stück für Stück an seine Vergangenheit herangetastet hätten, aber dass er mir alles auf einen Schlag erzählt, zeigt mir nur wie lange er all das in sich verschlossen gehalten hat. Und wie dringend er das Ganze endlich loswerden musste.
»Es war ein Samstagabend wie jeder andere. Jedenfalls dachte ich das. Ich war mit Sara verabredet. Wir wollten auf eine Party. Es ist seltsam wie wichtig mir solche Partys zu dem Zeitpunkt waren. Ich wollte mich jedes Wochenende betrinken. Im Nachhinein frage ich mich, wieso uns nie jemand rausgeworfen oder die Drogen und den Alkohol weggenommen hat. Wir waren noch so jung. Wir waren Kinder.« Er schüttelt den Kopf. »Gerade als ich gehen wollte, kam meine Mutter aus ihrem Zimmer. Sie hat sich kaum noch im Haus bewegt, ist immer nur in ihrem Bett geblieben, aber an diesem Abend ist sie aufgestanden und runtergekommen. Ihre Augen waren rot, das Gesicht blass, tiefe, dunkle Augenringe. Sie sah aus, als hätte sie tagelang nicht geschlafen. Ich habe sie kaum wiedererkannt. In all den Wochen in denen ich ihr aus dem Weg gegangen bin, habe ich versucht jede Erinnerung an sie zu verdrängen.
Sie hat sich nur noch mit Mühe auf den Beinen gehalten. Ich konnte sehen, wie sie gezittert hat, wie ihre Beine gezittert haben und ich dachte nur immer wieder ›gleich bricht sie zusammen‹, aber ich habe ihr nicht geholfen. In diesem Augenblick konnte ich kein Mitleid für sie empfinden, nur Hass, so viel Hass.
Sie hat sich mit aller Kraft am Türrahmen festgehalten und mich angelächelt. Es sah aus, als würde ihr dieses Lächeln unendlich viele Schmerzen bereiten. Ich glaube, das haben die Pillen mit ihr gemacht. Sie haben sie komplett zerstört.«
Er hustet kurz, aber bevor ich etwas sagen kann, redet er wieder weiter: »Sie hat gefragt, ob ich nicht mal einen Abend Zuhause bleiben kann. Sie klang nicht vorwurfsvoll oder wütend, sondern einfach nur... traurig.
Wir waren alleine. Caleb hat bei einem Freund übernachtet und mein Dad war wie immer auf der Arbeit. Sie hat mich angefleht, sie nicht alleine zu lassen. Ich weiß noch, wie sie mich angesehen hat. Mit so viel Kummer und Leid, aber auch Zuneigung. Liebe. Ich glaube, ich werde diesen Gesichtsausdruck nie mehr vergessen können.« Alec schließt die Augen, als würde er sich das Gesicht seiner Mutter vorstellen wollen und lächelt traurig. »›Bitte, Alec‹, hat sie gesagt. ›Bitte. Kannst du nicht Zuhause bleiben? Nur das eine Mal? Ich will wieder ein bisschen Zeit mit meinem Jungen verbringen. Ich vermisse dich. Ich vermisse dich so sehr.‹
In diesem Moment war ich so wütend auf sie. Ich konnte spüren wie der Hass und die ganze Wut in mir kochten. Ich wollte ihr so viel an den Kopf werfen. Ich wollte sie anschreien und ihr sagen wie sehr ich sie hasste. Ich dachte wirklich, dass ich sie hassen würde.
Ich wünschte, ich wäre bei ihr geblieben. Oder, ich hätte wenigstens den Mund gehalten, aber stattdessen bin ich explodiert und habe mit diesem ganzen Hass und der angestauten Wut um mich geworfen. Ich habe ihr gesagt, dass unser Leben ohne sie besser wäre. ›Weißt du wenn du nicht wärst, dann hätten wir alle ein Problem weniger. Eine Last weniger.‹
In diesem Moment konnte ich genau sehen, wie ich ihr das Herz gebrochen habe. Jeder einzelne Schlag, jeder Riss spiegelte sich in ihrem Gesicht wieder. Sie sah aus, als hätte ich sie geschlagen. Nein. Sie sah aus, als hätte ich ihr das Herz herausgerissen. Plötzlich ist sie zusammengebrochen. Sie ist einfach so weinend auf die Knie gefallen. Für einen Moment war ich geschockt. Ich hatte Angst um sie, das konnte ich spüren, und dieses Gefühl hat mich nur noch mehr angekotzt, weil ich sie doch hassen wollte.
Ihre Stimme war so leise, dass ich Mühe hatte, sie überhaupt zu verstehen, aber ich erinnere mich noch an jedes einzelne Wort. So als hätte ich es mir ins Gehirn tätowiert. Ich bekomme es einfach nicht mehr aus meinem Kopf. ›Du bist doch mein Alec, mein kleiner Alec. Ich liebe dich. Dich und deinen Bruder. Ihr seid das Einzige, was ich noch habe.‹
Das hätte der Punkt sein sollen, an dem ich aufwache, an dem diese sinnlose Wut endlich verschwindet, aber stattdessen habe ihr gesagt, dass ich sie hassen würde, dass alles besser sein würde, wenn sie nicht da wäre, dass es uns allen dann besser ginge. Ich wollte weinen, weil ich so wütend war, wollte irgendetwas zusammenschlagen, auf etwas einschlagen, aber stattdessen habe ich sie nur immer und immer wieder angeschrien. ›Ich hasse dich! Ich hasse dich!‹ Aber wie könnte ich sie hassen? Sie ist... sie war doch meine Mutter. Ich könnte sie nicht hassen, niemals.«
Ich wische mir mit den Händen die Tränen weg, aber es kommen immer wieder neue. Es tut weh das mitanzuhören, es tut weh, weil ich den Schmerz in seiner Stimme nicht ignorieren kann, die Schuld die in jedem Wort mitschwingt. Ich spüre den Hass, den er in sich trägt, den Kummer und das Leid.
»Ich weiß nicht was sie an diesem Abend hatte, aber egal welchen Schmerz sie mit sich getragen hat, an diesem Abend schien er unerträglich zu sein. Sie hat mich angefleht bei ihr zu sein und ich habe sie im Stich gelassen. Ich hätte für sie da sein sollen, stattdessen habe ich ihr den letzten Rest gegeben. Vom eigenen Sohn zu hören, dass man von ihm gehasst wird, wenn man sowieso schon psychisch labil ist - was habe ich mir dabei nur gedacht? Ich weiß es bis heute nicht.«
Er schluckt schwer und schließt die Augen, während er langsam ausatmet. »Als ich am nächsten Morgen verkatert aufgestanden bin, habe ich die ganzen verpassten Anrufe und Nachrichten gesehen. Ich bin nach Hause gegangen, ohne wirklich zu wissen, was mich erwartet, und habe Polizisten mit meinem Vater reden sehen. Zuerst habe ich Panik bekommen. Immerhin dachte ich die seien wegen mir hier. Wegen der Drogen und dem ganzen Scheiß. Aber bevor ich wieder abhauen konnte, hat mein Vater mich gesehen und zu sich gerufen. Da konnte ich schlecht wegrennen. Ich hätte mich nur noch auffälliger gemacht, also bin ich zu ihm rübergegangen und hab mir schon ein paar Notlügen überlegt, aber bevor ich etwas sagen konnte, hat er mich an den Schultern gepackt und durchgeschüttelt. Er hat angefangen herumzubrüllen und mich gefragt wo ich die letzte Nacht gewesen bin. Er ist total durchgedreht und ich dachte, dass er mich jeden Augenblick zusammenschlagen wird. Er hatte diesen irren Blick in seinen Augen. Zwei Polizisten mussten ihn von mir losreißen. Und genau in diesem Moment kam sie raus. Auf einer Trage. Ihr Körper war verdeckt. Ich konnte sie nicht sehen, aber ich wusste sofort, dass sie es ist.
Überdosis Schlaftabletten. Sie hat sich umgebracht, weil ich ihr gesagt habe, dass unser Leben besser ohne sie wäre. Ich habe sie regelrecht dazu getrieben, sich das Leben zu nehmen. Ich hätte ihr genauso gut ein Messer ins Herz rammen können.
Und ich konnte sie niemals um Vergebung bitten, konnte ihr niemals sagen wie leid mir tut, was ich zu ihr gesagt habe. Ich konnte sie nicht in den Arm nehmen, sie nicht trösten und ihr auch nicht sagen, wie sehr ich sie liebe. Sie ist in dem Glauben gestorben, dass ich sie hasse.«
Ich presse die Lippen so fest aufeinander, dass es wehtut. Alec soll nicht sehen, wie sehr mich diese Geschichte getroffen hat. Ich will nicht, dass er sich durch meine Tränen noch schlechter fühlt, als er es ohnehin schon tut. Er hat lange genug mit dieser Schuld gelebt.
»Vielleicht«, sage ich schließlich und rutsche näher an ihn heran, so nah, dass mein Knie gegen seines drückt, »vielleicht kann sie dich hören. Vielleicht kann sie sehen, wie sehr du darunter leidest. Vielleicht ist sie an einem Ort und schüttelt lachend den Kopf, weil sie weiß, dass sie dir schon längst verziehen hat. Und vielleicht brauchte sie dir auch gar nicht zu verzeihen, weil sie nämlich niemals wütend auf dich gewesen ist, Alec.«
Er sieht mich an und blinzelt, als ob ihm erst jetzt wieder einfällt, dass ich auch noch da bin. Plötzlich huscht ein müdes Lächeln über sein Gesicht. »Danke Beccs. Ich weiß, dass du mich nur aufmuntern willst. Ich habe jahrelang versucht, mir einzureden, dass sie mir vielleicht verziehen hat, aber ich habe nie auch nur eine Sekunde lang daran geglaubt. Nicht, weil sie nachtragend wäre, sondern einfach nur, weil ich es nicht verdient habe.«
Alec legt die Hände um sein Gesicht und atmet tief ein und aus. »Ich hasse dich. Das waren meine letzten Worte an sie. Kannst du dir schlimmere letzte Worte vorstellen?« Er lacht, aber es klingt alles andere als glücklich. »Ich weiß, was für ein Monster ich bin und jetzt weißt du es auch. Jetzt weißt du alles. Und wenn du willst, dann kannst du jetzt aufstehen und gehen. Ich würde es dir nicht übel nehmen. Ich bin ein Arschloch. Ich bin ein Mörder. Und ich habe es nicht verdient von dir oder sonst irgendjemandem geliebt zu werden. Ich habe es nicht einmal verdient hier zu sitzen und atmen zu dürfen.«
»Alec, hör mir zu«, flüstere ich leise und packe ihn im selben Moment an den Schultern, damit er mir in die Augen sieht. »Was da passiert ist, ist schrecklich, aber du warst noch so jung. Manchmal tut man etwas, was man im Nachhinein bereut. Man kann nicht immer richtig handeln. Menschen machen Fehler. Das macht sie doch erst zu Menschen. Und jeder Mensch hat eine zweite Chance verdient. Auch du. Und du bist hier. Du sitzt hier und atmest, also nutz diese Chance und mach das beste daraus.
Ich werde nicht aufstehen und weißt du auch wieso? Weil ich dich liebe. Ich liebe dich, Alec. Nicht nur ich - was ist mit Caleb? Was würde er nur ohne dich tun? Du bist der Mensch, zu dem er aufsieht. Die Person, an die er sich festhalten kann, auf die er sich verlassen kann. Also glaub bloß nicht, dass hier irgendjemand ohne dich besser dran wäre.«
Einen Augenblick lang starrt er mich einfach nur an. Er sieht mir in die Augen, als würde er geradewegs durch sie hindurch in meine Seele blicken, als würde er nach etwas suchen. Vielleicht sucht er nach einem Anzeichen, dass ich lüge, vielleicht will er meinen Worten nicht glauben, weil er noch nicht bereit dazu ist, sich selbst zu verzeihen.
Plötzlich lehnt er sich nach vorne und legt den Kopf auf meine Schulter. Ich halte die Luft an und spüre, wie sein Körper bebt. Alec ist kaputt. Als ich ihn kennengelernt habe, habe ich geglaubt, dass er einfach nur ein hübsches, reiches Arschloch ist, das alles im Leben hat, was man sich nur vorstellen könnte, dass er nur mit dem Finger schnippen muss, um zu bekommen was er möchte, aber nicht jeder Wunsch lässt sich erfüllen, egal wie wie viel Geld man hat und wie oft man auch betet. Und inzwischen glaube ich, Alec zu verstehen. Jedenfalls ein bisschen. Ich verstehe wie er denkt und fühlt, wieso er so ist wie er ist. Er musste viel zu früh erfahren, wie grausam das Leben sein kann. Und egal wie viel er hat, egal wie gut er ist, was auch immer er im Leben jemals erreichen wird, wie hart er auch arbeiten wird, sein größter Wunsch wird sich niemals erfüllen.
Ich beiße die Zähne zusammen, um nicht wieder in Tränen auszubrechen. Alec hat es geschafft mich monatelang in dem Glauben zu lassen, dass er glücklich ist. Er hat gelacht und dumme Witze gerissen, war für mich da, wenn ich ihn gebraucht habe und... er hat mich geliebt. Er liebt mich. Sein Herz ist so groß, seine Liebe so rein und solange das der Fall ist, erlaube ich mir zu hoffen, dass da noch eine Chance ist, ihn zu retten.
Ich lege meine Arme um ihn, streiche ihm beruhigend über den Rücken. Die Kälte macht uns schon längst nichts mehr aus. Ich habe fast vergessen, dass wir immer noch an der Bushaltestelle sitzen.
»Ein Teil von mir weiß, dass du recht hast«, sagt er plötzlich mit zitternder Stimme. Seine Finger krallen sich in meine Arme, aber nicht so fest, dass es wehtut. »Aber ein anderer Teil will, dass ich diese Schuldgefühle niemals ablege.«
Alec hebt den Blick und sieht mir direkt in die Augen. Er macht sich nicht einmal die Mühe, sich die Tränen wegzuwischen. Inzwischen scheint ihm alles egal zu sein. »Immer wenn ich alleine bin, höre ich sie hier drinnen.« Er tippt sich gegen die Schläfe. »Und ich will einfach nur, dass das alles ein Ende findet. Ich will, dass diese Stimmen verschwinden.«
Er sieht mich an und für einen Augenblick scheint er unsicher zu sein. Wie ein kleines Kind, dass nicht weiß, ob es an den Weihnachtsmann glauben soll oder nicht. Er legt den Kopf in den Nacken und schaut nach oben in den grauen Himmel, als könne er seine Mutter finden, wenn er nur lange genug nach oben starrt. »Diese Schuldgefühle fressen mich auf. Ich kann nicht schlafen, ich kann nicht essen. Selbst das Atmen tut mir weh. Ich weiß nicht was ich tun soll, damit dieser Schmerz, diese Schuld endlich verschwindet. Ich möchte einfach nur, dass es aufhört, dass da nichts mehr ist.«
A/N:
Also erst einmal: das ist immer noch nicht das Ende!
Dann wollte ich noch sagen: ich habe das Video zwar schonmal gepostet, aber ich tue es nochmal, weil ich immer noch echt stolz drauf bin. Wenn ihr wollt, könnt ihr es euch einmal ansehen. Ich bin kein Profi-Videomaker, aber ich hatte Spaß dran. Und ich glaube, jetzt, wo man Alecs Geschichte kennt, macht das Video mehr Sinn. Jedenfalls hoffe ich das :D
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