45 | Fiese Gedanken
• Daughter - Medicine •
Die nächsten Tage und Wochen fühlen sich wie die schrecklichsten meines ganzen Lebens an. Mein Tagesablauf ist immer derselbe: ich gehe morgens in die Schule und komme nachmittags wieder; ich lerne und denke über Saras Worte nach - nicht, dass sie mit Alec zusammen gewesen ist, diesen Brocken habe ich inzwischen fast verdaut, sondern die Sache mit seiner Mutter.
Jedes Mal überlege ich mir, wie ich dieses empfindliche Thema ansprechen könnte, bastele mir ein paar Sätze im Kopf zusammen, aber sobald ich Alec darauf ansprechen möchte, überkommen mich die Zweifel und am Ende kneife ich doch.
Wie spricht man so etwas auch am besten an? Gibt es überhaupt die beste Art, um es anzusprechen, um so etwas Schreckliches anzusprechen? Alles, was ich mir im Kopf zusammenreime, klingt hart und falsch.
Ich möchte ihn nicht überrumpeln, aber dieses Thema totzuschweigen, kommt mir auch nicht in den Sinn, denn ich weiß nicht, wie lange ich dieses Geheimnis noch mit mir tragen kann. Es fühlt sich schrecklich an, über Alecs Mutter Bescheid zu wissen und ihn denken zu lassen, dass ich keine Ahnung habe. Deshalb schreibe ich mir in meinen Freistunden ein paar Sätze auf, die ich zu ihm sagen könnte.
Hey, warum hast du mir nicht erzählt, dass deine Mutter tot ist? - Selbst ein Stein hat mehr Feingefühl als dieser Satz.
Sara hat mir erzählt, dass deine Mutter sich das Leben genommen hat. Mein Beileid. - Lächerlich.
Mein Beileid, hah, dass ich nicht lache. Mein Beileid bringt Alec seine Mutter auch nicht wieder. Aber so betrachtet, wird ihm nichts auf diesem gottverdammten Planeten seine Mutter wieder bringen. Nichts außer seinem eigenen Tod – und selbst das ist nicht ganz sicher.
Und so vergehen Wochen, in denen ich so tue, als wäre alles in Ordnung zwischen uns. Die meiste Zeit verbringt er in der Uni und ich zu Hause in meinem Zimmer, um zu lernen. An den Wochenenden holt er mich manchmal mit seinem Auto ab, um etwas mit mir zu unternehmen. Manchmal kommt sogar Caleb mit, dann, wenn er nicht den ganzen Tag vor seinen dutzenden Videospielen klebt.
Inzwischen haben wir Anfang Dezember. Die Zeit verfliegt so schnell, dass ich es gar nicht fassen kann, als ich die ersten Schneeflocken auf den Boden fallen sehe. Ich kann nicht glauben, dass ich Alec vor einem guten halben Jahr kennengelernt habe. Es fühlt sich an, als würde ich ihn schon ewig kennen und gleichzeitig habe ich das Gefühl, ihn überhaupt nicht zu kennen.
An diesem Wochenende bin ich bei Alec im Wohnheim, da ich es zu Hause nicht mehr ausgehalten habe. Meine Eltern sind kaum noch zu Hause, aber wenn sie es sind, dann streiten sie sich wie die ganzen Spitzenpolitiker in ihren lächerlichen TV-Duellen. Sie streiten sich wegen jeder Kleinigkeit.
Wenn ich könnte, würde ich ohne zu zögern meine Sachen packen und bei ihm einziehen, wenigstens für ein paar Wochen, aber mal davon abgesehen, dass ich das nicht darf und Alec Ärger bekommen würde, wenn jemand davon erfahren würde, ist seine gesamte Wohnung gerade mal so groß (oder klein) wie unser Wohnzimmer zu Hause. Nach spätestens zwei Stunden würden wir uns anschreien und gegenseitig an die Gurgel springen.
Und weil ich ein wenig Auszeit von allem gebraucht habe, liege ich jetzt hier in Alecs Armen. Wir schauen einen Film an seinem Laptop, Chihiros Reise ins Zauberland. Einen Film, den ich schon unzählige Male gesehen habe und immer wieder schauen könnte. Manchmal braucht es nur einen alten Kinderfilm und den Menschen, den man liebt, und alles scheint wenigstens für kurze Zeit wieder schön zu sein.
Ich versuche alle negativen Gedanken auszublenden. Die Gedanken an meinen Abschluss, an Alecs Geheimnis, das nicht länger geheim ist, und an die ständigen Streitereien zwischen meinen Eltern, die unnötiger nicht sein könnten.
Alec scheint es immer schlechter zu gehen. Jedes Mal wenn ich ihn sehe, scheint er dünner geworden zu sein. Er beklagt sich oft über Kopf- oder Rückenschmerzen, aber wenn ich ihm sage, dass er damit zum Arzt soll, lehnt er ab. Auch seine Muskeln scheinen fast dauerhaft angespannt zu sein. Vor allem wenn er lernt, fällt mir auf, wie angespannt seine Schultern sind. Sobald ich ihn darauf anspreche, schiebt er es auf den Prüfungsstress, den er im Moment hat. Aber wir beide wissen, dass das nicht die Wahrheit ist.
Irgendwann, während des Films, drehe ich mich zu Alec, ziehe ihn am Kragen seines schwarzen Band-Shirts, das er heute trägt, und beiße ihm sanft in die Unterlippe, bevor ich ihn richtig küsse. Ich will ihn so leidenschaftlich und wild küssen, dass ich gar keine Gelegenheit habe, um an irgendetwas anderes, als seine weichen Lippen, zu denken, daran zu denken, wie sich seine Hände auf meinem Körper anfühlen.
Während seine Hand unter mein Hoodie fährt, läuft der Film im Hintergrund weiter. Es fühlt sich seltsam an, ihn zu küssen und zu wissen, dass zwischen uns ein Geheimnis steht, das so groß ist, dass es uns auseinander reißen könnte. Alec scheint sich von Minute zu Minute immer weiter von mir zu distanzieren, nicht körperlich, sondern anders. Als würde er eine Mauer zwischen uns aufbauen und sich langsam, ohne Worte, von mir verabschieden.
Ich drücke mich immer enger an ihn, reibe meinen Körper an seinen, will nicht, dass er sich von mir distanziert, aber egal wie dicht ich ihm auch auf die Pelle rücke, ich spüre immer noch diese riesige Kluft zwischen uns, die immer größer wird.
Als er meine nackte Taille grob umklammert, um mich fester an sich zu drücken, lache ich leise an seinen Lippen, obwohl mir wohl eher zum Heulen zumute ist. Ich möchte nicht so fühlen; ich möchte nicht das Gefühl haben, dass er sich von mir abwendet, aber es lässt sich einfach nicht abschütteln.
Seine warmen Finger fahren sanft über meine Haut. Jedes Mal wenn er mich berührt, könnte ich explodieren. Es fühlt sich unglaublich an.
»Du bist eine gute Ablenkung, Alec Moranis«, sage ich mit einem Grinsen und drehe mich wieder weg, so dass ich den Film weiter verflogen kann. Alecs Hand liegt immer noch unter meinem Hoodie, aber das stört mich nicht, ganz im Gegenteil. Die kleinen Kreise, die Alec mit seinen Fingern auf meiner Haut zeichnet, beruhigen und trösten mich.
Er dreht den Kopf zu mir und sieht mich verwirrt an. »Eine Ablenkung wofür?«
»Zu meinem Alltag«, seufze ich und vergrabe mein Gesicht an seiner Brust, damit er mich nicht länger ansehen kann. Ich kralle meine Fingernägel in sein Shirt und atme den Duft seines Deos ein, das an ihm klebt.
»Hey«, flüstert er leise und streicht durch meine Haare. »Willst du darüber reden?«
Überrascht hebe ich den Blick und starre ihn an. Als mir klar wird, dass er das ernst meint, schüttele ich langsam den Kopf. Er versucht nicht, mich zum Reden zu drängen, er bietet mir einfach nur an, mit ihm darüber zu reden.
Ein Lächeln schleicht sich auf meine Lippen. Für eine Sekunde denke ich über sein Angebot nach. Ich stelle mir vor, wie er reagieren würde, wenn ich ihn auf seine Mutter anspräche, aber ich weiß, dass er noch nicht bereit ist, um darüber zu reden, also halte ich den Mund.
Vielleicht wird er auch nie bereit dazu sein, meldet sich eine Stimme in meinem Kopf, aber ich schüttele den Gedanken schnell wieder ab.
Ab und zu schaue ich zu Alec rüber, während wir einen zweiten Film schauen. Wieder einen Kinderfilm - Rapunzel neu verföhnt. Obwohl der Film recht witzig ist, sieht Alec alles andere als glücklich aus. Aber er scheint auch nicht wirklich auf den Film zu achten, es sieht eher so aus, als wäre er in Gedanken versunken. Normalerweise hätte er meinen Blick schon längst gespürt, aber dieses Mal nimmt er mich gar nicht wahr. Worüber er wohl nachdenkt? Ich kann es mir denken, aber ich will es nicht. In diesem Moment wünschte ich, Sara hätte die Klappe gehalten. Sie hatte nicht das Recht, es mir zu erzählen. Einerseits bin ich ihr dankbar, aber ein anderer Teil von mir, der der viel größer ist, verabscheut sie dafür. Alec hätte derjenige sein müssen, der es mir verrät, wenn er so weit ist, und nicht sie.
Plötzlich dreht Alec das Gesicht zu mir und sieht mich an. Ein Hauch von einem Grinsen huscht über sein Gesicht. »Wie lange beobachtest du mich schon?«
Ich lächle und küsse ihn auf den Mund. »Lange genug.«
»Lange genug um...?« Verwirrt zieht er die Brauen zusammen.
»Spielt doch keine Rolle.«
Auf einmal scheint er seine volle Aufmerksamkeit auf mich gelenkt zu haben, denn er rutscht näher an mich heran, ohne mich aus den Augen zu lassen, so nah, dass sich unsere Hüften aneinander drücken. Das Bett quietscht unter seiner Bewegung.
Er streicht eine Strähne hinter mein Ohr und sieht mir dabei in die Augen. »Nein, sag schon.«
Sag schon! Sag schon! Die Stimme meines Vaters taucht plötzlich in meinem Kopf auf. Ich weiß immer noch nicht, worum es im gestrigen Streit meiner Eltern ging, aber ich weiß, dass es seit Wochen so zugeht. Manchmal, wenn ich dabei bin, streiten sie sich um Kleinigkeiten. Wer macht den Abwasch? Wer muss den Müll heute heraustragen? Meistens melde ich mich am Ende freiwillig, einfach nur, damit sie endlich aufhören, zu streiten.
Wenn mein Vater von der Arbeit nach Hause kommt, verbreitet er sofort schlechte Laune im Haus. Genauso wie meine Mutter. Die beiden streiten sich so lange und laut, bis ich versuche dazwischen zu gehen, und sobald ich zwischen ihnen stehe, haben sie eine neue Zielscheibe und nörgeln nur noch an mir herum. Ich bin kaum noch zu Hause, mein Bett ist die meiste Zeit unbenutzt und ich esse abends nicht mehr mit ihnen. Den beiden ist nicht bewusst, dass ihre ständigen Streitereien, wenn sie sich denn mal zu Hause blicken lassen, der Grund dafür sind.
Inzwischen wohne ich abwechselnd bei Aaron, Loreen oder Alec. Mein eigenes Zuhause betrete ich nur noch selten. Nach der Schule setze ich mich die meiste Zeit in die Bücherei oder ein Café und lerne dort. Manchmal fahre ich auch nach der Schule zu Caleb und spiele ein paar Runden mit ihm an seiner Konsole, besser werde ich aber trotzdem nicht.
Alec sieht mich immer noch an. Wahrscheinlich ist ihm das gar nicht bewusst, aber die Art und Weise wie er mich ansieht, macht mich unglaublich unruhig. Ich schließe die Augen, um seinem neugierigen Blick zu entgehen, und sage:»Es ist nicht wichtig. Wirklich.«
Er legt seine Hand auf meinen Oberschenkel, aber ich setze mich so ruckartig auf und ziehe meine Beine an die Brust, dass Alec seine Hand wieder zurückzieht.
An meiner Unterlippe nagend, starre ich auf den Bildschirm seines Laptops. Der Film scheint in den Hintergrund gerutscht zu sein und plötzlich wünschte ich, wir würden nicht mehr über mich reden, sondern einfach nur weiter den Film sehen.
Wie ich, kaut Alec nervös auf seiner Unterlippe herum, die, wenn er so weitermacht, jeden Augenblick zu bluten beginnt. »Alles in Ordnung? Habe...habe ich etwas falsch gemacht?«
Ich sage nichts. Ich will ihm antworten, aber ich weiß nicht, was ich sagen soll, wie ich meine Gefühle in Worte fassen kann. Alles ist einfach nur seltsam. Ich weiß nicht, was ich fühle und ich weiß nicht, wieso ich so fühle, wie ich fühle. Es fühlt sich an, als hätte jemand ein Loch in meinen Körper gebohrt. Was ist das für ein Gefühl? Bin ich traurig? Fühlt sich so Leere an? Innere Unruhe? Ist es wegen Mom und Dad? Wegen Aaron und Loreen oder doch wegen Sara? Vielleicht ist es auch wegen Alec? Oder einfach alles zusammen? Wie soll ich Alec erklären, was los ist, wenn ich selbst nicht einmal weiß, was ich fühle?
»Bitte rede mit mir.«
Du redest auch nie mit mir, will ich ihm am liebsten an den Kopf werfen, als mich kurz die Wut überkommt, aber ich beiße mir auf die Zunge. Das wäre nicht fair. Alec will mir nur helfen. Menschen sind nun mal verschieden und handeln bei Problemen unterschiedlich. Manche fressen alles in sich hinein, brauchen ihre Ruhe, um selbst damit klar zu kommen und andere brauchen jemanden, an deren Schulter sie sich ausheulen können, jemanden, dem sie sich anvertrauen und bei dem sie Trost suchen können. Während Alec zu den Menschen gehört, die alles verschweigen, zähle ich mich selbst zu der zweiten Variante von Mensch.
Alec hebt die Brauen. »Hast du vielleicht deine Tage oder habe ich wirklich etwas getan?«
Ich lache. Jungs schieben immer alles auf die Periode. Stimmungsschwankungen, schlechte Laune, Heißhunger. »Nein, ich...ich habe nicht meine Tage. Es...es ist nur...meine Eltern. Sie kommen nach Hause, haben schlechte Laune, streiten sofort und lassen alles an mir aus. Ich weiß nicht, was los ist, ob sie unzufrieden mit ihrem Leben sind und deshalb einen Sündenbock suchen, an dem sie ihren Frust auslassen können, aber ich halte das nicht mehr aus. Es ist schwer, ihnen Zuhause aus dem Weg zu gehen. Ich...es nervt einfach nur. Sie nerven mich in letzter Zeit.«
Eigentlich hatte ich nicht vorgehabt, es ihm zu erzählen, geschweige denn, so viel auf einmal zu reden, und obwohl es guttut, dass alles endlich mal gesagt zu haben, bereue ich meinen letzten Satz sofort. Ich liebe meine Eltern, egal wie oft sie sich im Moment streiten oder ihren Frust an mir herauslassen, denn am Ende weiß ich, dass sie mich lieben. Sie sind über achtzehn Jahre lang für mich da gewesen, und sind es immer noch, und nur weil sie in letzter Zeit immer schlechte Laune haben, heißt das nicht, dass sie schlechte Eltern sind.
Alec nimmt meine Hand in seine. »Ich verstehe dich. Ich weiß, wie sehr Eltern manchmal nerven können, aber vergiss nicht, dass du alles für sie bist. Rede mit ihnen über das Problem zwischen euch, sonst...« Er presst die Lippen aufeinander und zögert. »Sonst wirst du vielleicht bereuen, es nicht getan zu haben.«
Ich warte darauf, dass er weiterspricht, dass er mir vielleicht von seiner Mutter erzählt, aber das tut er nicht. Keine Ahnung, was in mich gefahren ist, aber für einen Augenblick habe ich das Gefühl gehabt, dass er es mir endlich beichten wird. Er hat so ausgesehen, als würde er jeden Moment die Bombe platzen lassen, aber er sitzt einfach nur da, die Lippen aufeinander gepresst, und starrt die Wand an, als würde er über seine eigenen Worte nachdenken.
»Danke«, sage ich leise und drücke seine Hand, obwohl er wahrscheinlich wieder so vertieft in seine Gedanken ist, dass er mich nicht mehr hören kann.
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