28 | Lügen
• All Good Things - Fight •
Ich starre ihn an.
Was hat er da gerade gesagt? Ich wiederhole die Worte, die Alec eben laut ausgesprochen hat, in meinem Kopf und doch ergeben sie keinen Sinn für mich.
Meint er mich? Natürlich meint er dich, äh, mich!
Und was ist, wenn er sich nur einen Spaß erlaubt? Sich lustig über mich macht? Unsicher schaue ich ihn an, aber in seinem Gesicht kann ich nichts lesen. Er lächelt nicht. Alec sieht aus, als wüsste er selbst nicht, was er da eben gesagt hat, und vor allem nicht wieso.
Mir wird mit einem Mal ganz warm. Ich senke schnell den Blick auf den Boden, in der Hoffnung, dass er nicht bemerkt, wie rot mein Gesicht geworden ist. So viele Fragen liegen mir auf der Zunge, die ich ihm gerne stellen würde.
Ich schaue erst wieder auf, als Alec unerwartet zu lachen beginnt. Jeden Augenblick rechne ich damit, dass er mich gegen den Hinterkopf schlägt und mir verkündet, dass er sich nur lustig über mich macht, aber das tut er nicht. Ich starre ihn an, weil ich nicht weiß, was ich sagen oder wie ich reagieren soll.
Bei einem Menschen wie ihm kann man nie wissen, woran man ist. Er kann in einem Augenblick unglaublich lieb sein und ihm nächsten hackt er einem den Kopf ab und steckt ihn in seinen Nachtschrank. Ja, so ein Mensch ist Alec ganz bestimmt.
Er kratzt sich am Hinterkopf. Und als er mich ansieht, zwinge ich mich zu einem belanglosen Lächeln. Was ist wenn das alles wirklich ein Witz ist und mir anzusehen ist wie lächerlich ernst ich seine Worte, nach allem was zwischen uns war, nehme? Es wäre dumm von mir, ihm ohne Misstrauen zu glauben.
»Komm«, sagt er plötzlich. »Lass uns gehen.«
»Gehen? Wohin?«, frage ich völlig irritiert.
Alecs Satz spukt immer noch in meinem Kopf herum. Das Mädchen, das mich wirklich interessiert. Wie ein Mantra wiederhole ich diesen Satz immer und immer wieder. Das Mädchen, das mich wirklich interessiert. Das Mädchen, das mich wirklich interessiert. Das Mädchen, das mich wirklich interessiert. Doch egal wie oft ich ihn auch in meinem Kopf wiederhole, ob ich ihn sage, schreie oder flüstere, er ergibt einfach keinen Sinn für mich.
Was ist wenn er doch nicht mich meint? Aber welches Mädchen sollte er sonst meinen? Soweit ich weiß, gibt es außer Caleb, seiner Familie, mir und ein paar Studenten hier niemanden, mit dem er Kontakt hat. Ich denke nach. Eine andere Studentin kann es nicht sein, das hätte er niemals so lange geheim halten können. Ich denke nach und nach, wünsche mir, dass es kein anderes Mädchen gibt, hoffe, dass er mich meint. Doch meine Unsicherheit ist stärker als meine Hoffnung.
Alec ist kein Mensch, den man einfach so kennt und versteht. Er ist wie ein wildes Meer, das man nicht einschätzen kann. Ich stehe erst knietief in diesem Meer, traue mich aber nicht, weiter zu gehen, denn ich weiß nicht, was mich erwartet, weiß nicht, wie tief der Boden unter meinen Füßen ist, sobald ich einen weiteren Schritt wage, weiß nicht, ob ich noch im Wasser stehen kann oder im nächsten Augenblick ertrinke, ob mich ein Wasserstrudel oder eine starke Welle erfasst und verschluckt. Ich weiß gar nichts.
Er lacht, als er an mir vorbei geht. »Ich bringe dich nach Hause.«
Nach Hause? Ich schaue ihm hinterher. Mit hochrotem Kopf stelle ich fest, dass er obenrum immer noch nichts trägt. Obwohl ich mir sage, dass ich wegschauen sollte, kann ich ihn nur anstarren, als er mir den Rücken zukehrt. Ich starre auf seine nackten, breiten Schultern und die Muskeln, die sich bewegen, während er an seinem Schreibtisch herum räumt.
»Oh.« Ich bin mir sicher, dass man meinem seltsamen Lachen anhört, wie nervös und verwirrt ich mich in diesem Augenblick fühle. Dass er keine Antwort von mir erwartet und so tut, als hätte er den Satz eben nicht gesagt, trifft mich schwer. »Na klar.«
Ich will gerade auf die Tür zugehen, als er mich zurückruft.
»Warte.«
Erwartungsvoll drehe ich mich zu ihm um; hoffe, dass er mir sagt, dass wir über das sprechen sollten, was er eben gesagt hat.
»Ich muss nur eben ein paar Sachen packen.«
Meine Hoffnung bricht in sich zusammen.
»Okay«, sage ich.
Er bückt sich, um das Album aufzuheben, das bis eben noch auf dem Boden gelegen hat und legt es zurück in den Schrank. Während ich langsam zurück zum Bett gehe und mich nervös an die Kante setze, folgen meine Augen jeder seiner Bewegung. Dieses Mal steckt er das Album unter einen Stapel Klamotten. Wenn ich nicht wüsste, dass er es dort versteckt hätte, würde ich nie auf die Idee kommen, dass es dort ist. Warum möchte er nicht, dass ich es mir ansehe?
Ich beobachte ihn dabei, wie er schließlich eine Sporttasche aus seinem Schrank holt und neben mich aufs Bett wirft. Er zieht ein paar T-Shirts und zwei Hemden heraus, zwei Hosen und Boxershorts, um sie dann hinterher zu werfen. Alec läuft durchs Zimmer, steuert auf seinen Schreibtisch zu. Er wirft die Laptoptasche neben die Sporttasche auf das Bett und legt ein paar Bücher und Ordner dazu.
»Was wird das?«, frage ich mit einem Blick auf die ganzen Bücher. Physiologie des Menschen, der Mensch – Anatomie und Physiologie, Biochemie und Molekularbiologie des Menschen. Ich kann nur ein paar der Titel lesen, aber das reicht mir vollkommen aus, um mir sicher zu sein, dass ich nie im Leben Medizin studieren möchte. Mal davon abgesehen, dass mir jedes Mal, wenn ich Blut sehe, schlecht wird, kann ich mit Biologie genauso viel anfangen wie mit Mathe – nämlich gar nichts.
»Was?« Er hebt sein T-Shirt auf, das er sich vorhin, bevor Levin kam, über den Kopf gezogen und auf den Boden geworfen hat und zieht es wieder an. Vermutlich sollte ich ihn nicht dabei anstarren, damit er sich nicht noch toller fühlt, als er es ohnehin schon tut, aber ich möchte mir die Chance nicht entgehen lassen, meinen Blick über seine markanten Muskeln wandern zu lassen. Ich schlucke und presse dann die Lippen aufeinander. Obenherum freizügig hat er mir besser gefallen, stelle ich schmollend fest, nachdem er das T-Shirt schließlich übergezogen hat.
Ich löse den Blick von seinem Oberkörper, um ihm wieder in die Augen zu sehen. »Die ganzen Bücher. Wozu nimmst du die mit?«
Er fährt sich durchs Haar. Seine Haare stehen immer noch in alle Richtungen ab, so als wäre er gerade erst aufgewacht und egal wie oft er auch versucht, sie zu bändigen, es wird einfach nicht besser. Alec scheint das ebenfalls aufzufallen, denn irgendwann gibt er auf und seufzt. »Ich werde die freien Tage über lernen müssen.«
»Wieso?«
Er reibt sich über die müden Augen, die, wie mir vorhin in der Mensa schon aufgefallen ist, von dunklen Ringen umrahmt sind. »Hab mich die letzten Tage nicht so wirklich um die Uni gekümmert und jetzt einiges nachzuholen.«
In dem Moment in dem er das sagt, zieht er die Schublade von seinem Nachtschränkchen auf. Er fischt die Tabletten, die ich zuvor erst entdeckt habe, heraus, schaut stirnrunzelnd auf den fast leeren Inhalt und zieht dann die zweite Schublade auf. Mit großen Augen beobachte ich, wie er eine zweite, identische Schachtel herausholt und beide in die Tasche wirft.
Die Neugierde in mir gewinnt die Oberhand, also frage ich so beiläufig wie ich nur kann:»Was ist das?«
Alec folgt meinem Blick. Als er sieht, dass ich die Tabletten anstarre, verengen sich seine Augen. Er nimmt die beiden Schachteln und steckt sie in die Seitentasche seiner Sporttasche, während er antwortet:»Nichts.«
»Tabletten?«, hake ich weiter nach. Natürlich weiß ich inzwischen, was es ist, aber ich wünschte, Alec würde es mir von sich aus erzählen. Obwohl ich mir sicher bin, dass er es nicht tut, wächst in mir ein kleines Fünkchen Hoffnung; die Hoffnung, dass er sich mir anvertraut.
Er legt den Kopf schief, mustert mich misstrauisch. »Vitamine.«
»Vitamine?«
»Ich habe Eisenmangel. Noch irgendwelche dummen Fragen?«
Autsch. Ich wusste, dass es dumm war, zu glauben, dass er sich mir öffnen wird, doch dass er mir einfach so ins Gesicht lügt, schmerzt mehr, als es sollte. Mein Magen zieht sich zusammen und dieses Mal ist es kein schöner, süßer Schmerz, der durch meinen Körper fährt, nein, dieses Mal ist der Schmerz hässlich.
Ich versuche mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. »Wenn was ist, kannst du gerne mit mir darüber sprechen.«
Er lacht auf, aber es klingt alles andere als freundlich. »Ja sicher.«
Als wir aus dem Wohnheim treten, höre ich plötzlich jemanden nach Alec rufen. Die Stimme kommt mir bekannt vor, aber nicht so bekannt, dass ich mir vorstellen könnte zu wem sie gehört.
»Heeeey, die Bluse kenne ich doch irgendwoher.« Ein großer, schlaksiger Junge mit braunen Haaren und einer dicken, schwarzen Brille im Gesicht stellt sich mir mit einem breiten Grinsen in den Weg. Er zupft an meiner pinken Bluse und schaut dann von mir zu Alec und schließlich wieder zu mir. »Ich dachte die würde dir gehören, Alec.«
Als ich zu Alec schaue, der bloß die Augen verdreht, wird mir klar, dass es sich bei diesem Jungen um Levin handelt; dem Jungen, der vorhin an Alecs Tür geklopft und uns, in dem was wir getan haben, unterbrochen hat. Mir wird so warm im Gesicht, dass ich glaube, meine Wangen würden jede Sekunde vor lauter Druck platzen.
Levin zwinkert mir zu. »Ich wollte es ihm vorhin nicht sagen, aber ich glaube nicht, dass pink seine Farbe ist. Dir steht die Bluse definitiv besser.«
Ich kichere.
»Lungerst du hier die ganze Zeit herum, um uns abzufangen?« Alec funkelt Levin wütend an, diesen scheint das aber wenig zu beeindrucken. Die beiden scheinen sich wohl schon länger zu kennen, denn ich bin mir sicher, dass jeder andere bei Alecs Blick schreiend davon gelaufen wäre.
»Vielleicht.« Levin schmunzelt. »Ich wusste, dass du mir etwas verheimlichst, also habe ich mich auf die Lauer gelegt.«
Alec verdreht als Antwort bloß die Augen.
Levin schaut wieder zu mir und lächelt, während er den Blick über mich fahren lässt, als müsste er mich genau unter die Lupe nehmen. »Du siehst genau so aus, wie ich mir dich vorgestellt habe.«
»Was?« Überrascht hebe ich die Brauen.
»Du siehst total aus wie Alecs Typ.«
»Du weißt gar nicht was mein Typ ist«, zischt Alec und bevor ich reagieren könnte, greift er nach meinem Handgelenk und zieht mich hinter sich her.
»Man sieht sich!« Levin winkt uns zum Abschied lachend zu, aber Alec dreht sich nicht noch einmal um. Er steuert einfach nur auf sein Auto zu. Dafür winke ich Levin zu, als wir uns immer weiter entfernen.
Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich meinen, Levin wäre so etwas wie ein guter Freund von Alec. Auch wenn Alec es nicht zeigen mag, sagt alleine die Tatsache, dass er Levin nicht schon längst den Kopf abgerissen hat, dass er ihn ganz gut leiden kann.
Die gesamte Fahrt über reden wir nicht mehr miteinander, wofür ich überraschenderweise ziemlich dankbar bin. Das Radio läuft und obwohl es ruhig zwischen uns ist, herrscht keine peinliche, bedrückende Stille, sondern einfach nur eine normale, ruhige Stille. Und das ist mir auch recht so, denn sobald ich ins Auto steige, wird mir plötzlich schlecht.
Mir ist schon den ganzen Tag über so schlecht, aber als ich neben Alec im Auto sitze, wird es nur noch schlimmer. Mein Magen dreht sich, als säße ich nicht in einem Auto, sondern in einer Achterbahn, die immer und immer wieder einen Looping fährt. Als wäre die Tatsache, dass ich mich am liebsten übergeben würde nicht schon schlimm genug, brennt mein Gesicht auch noch.
Nach zehn Minuten ist mir so warm, dass ich die oberen Knöpfe meiner Bluse öffne und mir Luft zufächle. »Ist dir auch so warm?«
Alec schaut stirnrunzelnd zu mir herüber. »Nein. Ich habe nicht einmal die Heizung angestellt.«
Oh nein, bitte nicht. Mir ist so warm, dass meine Bluse völlig nass und durchgeschwitzt ist. Wir haben Ende Oktober und ich schwitze, als wäre ich gerade einen Marathon gelaufen. Was läuft hier falsch?
»Rebecca? Ist alles in Ordnung?«
»Ja«, flüstere ich atemlos und lege meine Stirn gegen die kühle Scheibe. Wenn ich nicht neben Alec in diesem gottverdammten Auto sitzen würde, hätte ich mir schon längst die Kleider vom Leib gerissen. »Mir ist nur so...warm.«
Alec löst eine Hand vom Lenkrad, um sie mir an die Stirn zu legen. Ich starre ihn an, als er die Stirn runzelt. »Du bist ja richtig heiß.«
Ich kichere leise, lege dann die Stirn wieder an die kühle Scheibe, die mir wenigstens ein wenig Trost spendet. »Danke. Du aber auch.«
Er geht nicht auf mein Kompliment ein. Sein Gesicht wirkt steinhart, als er wieder auf die Straße schaut. »Hast du dich etwa erkältet?«
»Hmm...kann sein.«
»Kann sein?«
Ich seufze und denke nach, auch wenn sich alles vor mir dreht und ich an nichts anderes als einen kühlen Pool denken kann, in den ich jetzt am liebsten springen würde. »Loreen ist neulich krank gewesen. Ich hätte sie nicht besuchen sollen, hab mich wohl angesteckt.«
»Was hatte sie?«
Ich zucke nur müde mit den Schultern. Warum muss Alec so viel Fragen? Mein Kopf fühlt sich an, als würde man mit einem Presslufthammer auf ihm herum bohren. Ich habe Mühe, mich auf Alecs Stimme und seine Worte zu konzentrieren. Ich schließe die Augen, um dieses verdammte Schwindelgefühl loszuwerden.
»Eine Gastroenteritis?«
»Eine was?« Ich reiße die Augen auf und starre Alec an. Seine Augen irritieren mich mehr als sonst. Das blaue Augen verschmilzt mit dem braunen, sein Kopf dreht sich, in einem Augenblick hat er zwei Augen, im anderen auf einmal vier, sechs, acht, zehn. Wow. Jetzt weiß ich wirklich nicht mehr, in welches Auge ich schauen soll. Ich bin so verwirrt, dass ich den Blick abwende und auf das Armaturenbrett starre, um mich auf einen Punkt zu konzentrieren.
Alec seufzt. »Eine Magen-Darm-Grippe?«
Magen-Darm-Grippe?
»Oh ja...kann sein. Ich glaube das war's«, murmele ich, als der Wagen endlich vor meinem Haus zum Stehen kommt. Ich öffne den Gurt, kann es gar nicht mehr abwarten, endlich nach Hause zu gehen und unter eine kalte Dusche zu springen. Doch als ich die Tür aufreißen will, hält Alec mich zurück. »Warte, ich helfe dir.«
Ich lache. »Nein, passt schon. Ich schaffe das. Im Ernst. Halb so schlimm. Danke für's Fahren.« Ohne auf eine Antwort zu warten, reiße ich die Tür auf. Die kühle Nachtluft, die mir ins Gesicht peitscht, tut so unglaublich gut, dass ich leise seufze. Noch nie war ich so dankbar für etwas so simples. Dass mir immer noch schlecht ist und ich das Gefühl habe, in einem Karussell zu sitzen, das nicht aufhört, sich zu drehen, ignoriere ich.
Als ich den ersten Fuß auf den Boden setzen will, knicke ich plötzlich um. Alles passiert so schnell, dass ich kaum reagieren kann. Ich verliere das Gleichgewicht, versuche noch, mich an etwas festzuhalten, schaffe es aber nicht mehr und falle im nächsten Moment auf den harten Asphalt.
Ich höre Alec noch nach mir rufen, doch dann wird alles schwarz.
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