22 | Rote Spitze
• Our Last Night - Same Old War •
Alec sei Dank, dass ich es noch rechtzeitig zur Klausur geschafft habe. Ich habe zeitgleich mit meinem Lehrer den Raum betreten, sitze jetzt hier und analysiere einen Textausschnitt aus The Great Gatsby. Die Analyse fällt mir überraschenderweise nicht schwer und auch die restlichen Aufgaben sind machbar. Es wird auf keinen Fall eine eins - dafür habe ich zu wenig gelernt - aber es wird vermutlich besser, als ich befürchtet habe.
Während ich mir stichpunktartig meine Lösungen zu den einzelnen Aufgaben aufschreibe, bevor ich sie zu einem Fließtext verfasse, erinnere ich mich daran, wie mich Loreen und Aaron angestarrt haben, als ich hechelnd durch den Haupteingang gestürmt bin. Damit nicht auffällt, dass ich keinen BH trage, habe ich einfach meine Jacke zugezogen; nicht die beste Lösung, denn nach einiger Zeit fange ich zu schwitzen an, aber ich muss wohl durchhalten, bis ich zu Hause bin.
Leider hatte ich keine Zeit den beiden zu erklären warum ich aus Alecs Auto gestiegen bin, was sie vermutlich nicht übersehen konnten, da sie vom Haupteingang den perfekten Blick auf uns hatten. In ihren Gesichtern konnte ich so viele Fragezeichen erkennen, ihnen aber keine Antwort geben, stattdessen bin ich winkend und mit einem lauten Guten Morgen an ihnen vorbei gerannt. Sara, die wie immer an Aarons Seite geklebt hat, hat mich bloß finster angeschaut. Am liebsten wäre ich stehengeblieben und hätte ihr auf den Kopf gehauen, aber dafür blieb keine Zeit.
Das alles versuche ich jetzt zu verdrängen. Ich werde den beiden später erklären, was passiert ist. Sie werden schon nicht vor Neugierde sterben. In diesem Augenblick bin ich einfach nur erleichtert, dass ich kein Blackout habe und wenigstens in der Lage bin, die Fragen zu verstehen, die auf dem Zettel stehen.
Meine Erleichterung verweilt jedoch nicht lange. Ich weiß nicht woran es liegt, als jedoch nach den ersten fünfzig Minuten jemand an die Tür klopft, zieht sich mein Magen zusammen. Unwillkürlich halte ich den Atem an und hebe den Blick. Ich presse die Lippen zusammen, als mein Herz wie wild zu klopfen beginnt. Als die Tür sich schließlich langsam öffnet, weiß ich auch, woher dieses komische Gefühl kommt.
Ich reiße entsetzt die Augen auf, als Alec selbstbewusst wie immer in den Raum tritt. Er hält die Hände hinter seinem Rücken versteckt und obwohl ich nicht sehen kann, was sich dahinter versteckt, überkommt mich eine düstere Vorahnung, was als Nächstes passiert.
»Tut mir leid, aber wir schreiben hier gerade eine Klausur«, flüstert Mr. Saltzman, mein Englischlehrer, Alec zu. »Kommen Sie doch später wieder.«
»Ich muss nur kurz einer Ihrer Schülerinnen etwas geben, sonst überlebt sie den Tag nicht«, sagt er laut genug, dass es der ganze Raum mitbekommt und in diesem Moment müsste auch der Letzte seinen Stift abgelegt haben und nach oben schauen. Innerlich stelle ich mir vor, wie es sich anfühlen mag, ihm den Hals umzudrehen. Ich glaube, ich kann mir nicht vorstellen, welche Genugtuung es mir geben würde.
Alecs Blick wandert über den vollen Raum und für einen lächerlich kurzen Moment bete ich, dass er vielleicht nicht mich, sondern jemand anderen sucht, aber die Wahrscheinlichkeit ist so gering, dass mich einfach nur tiefer in meinen Stuhl sinken lasse und meine Chancen und Möglichkeiten abwiege. Ich könnte meinen Stift fallen lassen, mich bücken und so lange unter dem Tisch verweilen, bis Alec den Raum wieder verlässt.
»Wer ist das?«, höre ich ein Mädchen fragen, das in der Reihe vor mir sitzt. Sie wirft ihre honigblonden Haare nach hinten und schaut dann ihre Freundin an. Das Mädchen, das neben ihr sitzt, beugt sich kichernd zu ihr. »Ich weiß auch nicht, aber er sieht echt gut aus.«
Und als hätten diese beiden kichernden Mädchen den Startschuss gegeben, beginnt im nächsten Moment das Getuschel und Gekichere, das sich über den ganzen Raum verstreut. Wenn ich nicht so entsetzt darüber wäre, ihn hier zu sehen und mich davor fürchten würde, was er als nächstes vorhat, würde ich mich vielleicht freuen.
Als Alecs Blick schließlich meinem begegnet, bin ich am Ende mit den Nerven. Ich halte den Atem an, während ich das Blut durch meinen Körper rauschen höre. Das Getuschel der anderen rückt in den Hintergrund, meine Klausur verschwindet komplett von der Bildfläche; alles woran ich denken kann, sind seine Augen, die mit einem angriffslustigen Funkeln auf mir liegen. Einerseits habe ich Angst vor dem, was als Nächstes passieren wird, andererseits rede ich mir ein, dass er nicht so gemein sein kann und mich vor der halben Stufe und meinem Englischlehrer bloßstellen wird. Das wagt er nicht.
Es zuckt um seine Mundwinkel und in dem Moment, in dem er auf mich zukommt, weiß ich, dass es vorbei mit meinem ach-so-schönen Leben ist. Ich überlege mir, welchen Spruch ich gerne auf meinen Grabstein eingravieren lassen würde und ob ich meinen Eltern und Caleb noch einmal sagen kann, dass ich sie lieb habe, bevor ich komplett ins Gras beiße, als Alec plötzlich grinsend vor meinem Tisch steht. Ich will die Augen schließen und vergessen, dass ich hier sitze, aber ich kann nicht.
Er streckt die Hand aus, die er bis eben noch hinter seinem Rücken versteckt gehalten hat. Entsetzt weiten sich meine Augen, als ich meinen weinroten, mit Spitze bestickten BH sehe. Mein Blick wandert von dem BH in seinen Händen zu ihm. Das Grinsen auf seinem Gesicht zeigt mir nur, welche Genugtuung ihm das hier gibt und welche Genugtuung es mir geben würde, ihm mit einer Bratpfanne eins über den Schädel zu ziehen.
Ich beiße mir auf die Unterlippe, während ich versuche, die Blicke der anderen zu ignorieren, die an uns hängen, wie ein lästiges Kaugummi.
Der BH baumelt an seinem Zeigefinger herum, was seltsamer nicht aussehen könnte und wenn das Ganze nicht so unglaublich peinlich wäre, würde ich vielleicht sogar lachen, aber im Moment ist mir eher zum Heulen zumute.
Ich verwette meinen Kopf darauf, dass der gesamte Raum mit angehaltenem Atem das Schauspiel zwischen uns mitverfolgt - vermutlich selbst Mr. Saltzman, der sich eigentlich schon längst dazwischen gedrängt und Alec herausgeschickt haben sollte. Am liebsten würde ich Alec den verdammten BH aus der Hand reißen und ihn ihm um die Ohren werfen, aber ich bin viel zu geschockt, um mich überhaupt zu bewegen.
Alec lehnt sich schmunzelnd an meinen Tisch. »Den hast du heute Nacht bei mir vergessen, Prinzessin.«
»Der...der gehört mir nicht«, platze ich heraus. Ich starre von ihm zu den anderen, die uns alle mit offenstehendem Mund anstarren; ich kann es ihnen nicht einmal verübeln, immerhin bin ich genauso geschockt wie sie. Hätte er nicht warten können, bis ich die Klausur zu Ende geschrieben habe? Nein, natürlich nicht, sonst wäre es nicht Alec.
»Komisch«, sagt er und hält sich den BH an seine Brust. »Meiner ist das auch nicht.«
Einige der Leute lachen über Alecs Witz, aber ich kann ihn nur weiterhin anstarren; zu betäubt, um etwas zu sagen oder zu tun.
Er legt den BH auf meinen Tisch, beugt sich ohne Vorwarnung zu mir vor und küsst mich völlig überraschend auf die Stirn. »Noch viel Glück bei deiner Klausur, Baby«, flüstert er und doch bin ich mir sicher, dass viele derjenigen, die um uns herum sitzen, es hören und verstehen können.
Ich bin viel zu geschockt, um zu reagieren. Aber Alec scheint das nicht zu stören, das Grinsen auf seinem Gesicht hat schon beinahe etwas teuflisches an sich. Für eine Sekunde glaube ich sogar Hörner auf seinem Kopf zu sehen, aber da scheint meine Fantasie mir nur wieder fiese Streiche zu spielen. »Bis später.«
Bis später? Völlig irritiert starre ich ihn an. Wenn ich könnte, dann würde ich etwas sagen. Wenn ich könnte, dann würde ich ihm ins Gesicht spucken. Wenn ich könnte, dann würde ich jetzt aufstehen und ihm diese Peinlichkeit heimzahlen...aber ich kann nicht. Ich sitze wie gelähmt auf meinem Stuhl.
»Ich spiele heute deinen Chauffeur.« Er zwinkert mir zu, wendet sich zur Tür und hebt die Hand zum Abschied, ohne sich noch einmal umzudrehen. Während ich mir vorstelle, wie ich ihm einen verfaulten Fisch an seinen verdammten Hinterkopf werfe, sinke tiefer in meinen Sitz. Der Wunsch, von meinem Stuhl verschluckt zu werden, wächst ins Unermessliche.
Mr. Saltzman räuspert sich, als die Tür ins Schloss fällt und alle wieder zu Tuscheln beginnen. Sein Blick fällt von mir auf den BH, der nun auf meinem Tisch liegt, bevor er ihn schnell abwendet und die anderen mahnend ansieht. »Es wird nicht mehr geredet.« Er schaut auf seine Uhr. »Ihr habt noch etwa drei Stunden Zeit, also nutzt sie auch.«
Einige Augen kleben noch an mir, selbst, als die Meisten wieder zu schreiben beginnen. Ich versuche die Blicke zu ignorieren und mich auf meine Klausur zu konzentrieren, anstatt mir die Frage zu stellen, wie Alec es geschafft hat, meine Mutter dazu zu überreden, ihn auf mein Zimmer zu lassen.
Nach der Klausur renne ich so schnell, wie ich noch nie zuvor in meinem Leben gerannt bin. Nicht nur, weil ich vorhabe, mir Alec vorzuknöpfen, sondern auch, weil mir die Blicke meiner Mitschüler unangenehm werden. Sie starren mich an, als wäre ich eine Sehenswürdigkeit und ich möchte auf keinen Fall das Gerüchte-Opfer der nächsten Wochen und Monate sein.
Ich laufe durch die Schule, bis ich zum Haupteingang komme und danke dem Herren, dass ich weder Aaron noch Loreen begegnet bin, denn ich wüsste nicht, wie ich ihnen diese Situation von heute Morgen erklären sollte und sie einfach abschütteln, würde schwierig werden.
Als ich durch die Tür stürme, sehe ich Alecs Auto auf der Stelle. Ich balle die Hände zu Fäusten zusammen, als die Wut in mir aufkeimt und mich zu übermannen droht. Ohne weiter darüber nachzudenken, renne ich auf den Wagen zu und reiße die Tür auf. Alec hat nicht einmal Zeit, um aufzuschauen, als ich ihn mit meinem BH bewerfe.
»Ist das der Richtige gewesen?«, fragt er lachend, nimmt ihn in die Hand und wedelt mit dem BH herum. »Du hattest so viele in deinem Schrank, ich konnte mich gar nicht entscheiden. Aber der ist echt sexy.«
»Du hast mich vor der ganzen Klasse bloßgestellt!« Ich reiße ihm den BH aus den Händen, nur um ihn noch einmal damit zu schlagen. »Wie konntest du nur?«
»In ein paar Monaten hast du deinen Abschluss und wirst keinen von denen wiedersehen«, sagt er. »Also, wen interessiert es?«
»Mich!«, zische ich, während ich den BH schließlich zitternd vor Wut in meinen Rucksack stopfe. »Mich interessiert, was andere von mir denken!« Ich hole tief Luft, versuche mich zu beruhigen. »Mein Lehrer und alle anderen denken jetzt wir hätten was miteinander. Ist dir das klar?«
»So ganz Unrecht haben sie ja nicht damit.«
Am liebsten würde ich ihn schlagen, aber ich weiß, dass er meine Energie nicht wert ist. Er ist keinen einzigen Atemzug wert, rede ich mir ein, schlage die Autotür aus einem einfachen Impuls heraus zu und gehe über den Parkplatz in Richtung der Bushaltestelle. Wenn er denkt, dass ich jetzt mit ihm ins Auto steige, hat er sich komplett geschnitten.
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