17 | Hass und Liebe
• James Arthur - Can I Be Him •
»Ich hasse ihn.«
Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich meinen, dass sich meine Stimme anhört, als würde ich gleich in Tränen ausbrechen und am liebsten würde ich das auch tun. Ich würde mich gerne hier und jetzt auf den Boden setzen, mich zu einer Kugel zusammenrollen, dabei vor und zurück wippen und ganz fürchterlich weinen. Ja, das klingt überhaupt nicht verrückt und seltsam aussehen, wird es erst recht nicht - hier, so mitten im Schulgang. Nein, nein. Solche Dinge sieht man hier natürlich jeden Tag.
Ich bin nicht irre, wirklich nicht, es ist einfach so, dass Alec mir meinen letzten Nerv raubt. Er ist überall wo ich bin - nicht wortwörtlich (das wäre ja noch schöner), aber er ist in meinem Kopf und das reicht mir schon aus, um durchzudrehen. Ich kann nicht schlafen, nicht richtig essen und auch im Unterricht sind meine Gedanken meistens bei genau der Person, an die ich nun wirklich keinen Gedanken mehr verschwenden sollte...und es doch die ganze Zeit über tue.
Manchmal habe ich seltsame Träume, die so realistisch sind, dass ich selbst dann, wenn ich wach geworden bin, für einen Augenblick überlegen muss, ob das, was ich gesehen und angeblich gespürt habe, tatsächlich nur ein Traum gewesen ist. Einige davon sind harmlos, aber die meisten dieser Träume sind...naja...sagen wir, nicht ganz jugendfrei. Es ist nicht so, als würde ich es träumen wollen, ich tue es einfach. Vielleicht hat sich mein Kopf mit Alec zusammen getan und sie planen seine Rache gemeinsam. Das klingt ziemlich logisch, wie ich finde.
Als ich mich an den Traum zurück erinnere, den ich heute hatte, schüttele ich schnell den Kopf, um das Bild, das ich plötzlich vor Augen habe, abzuschütteln. Mein Gesicht muss so stark glühen, dass jeder aus kilometerweiter Entfernung sehen kann, dass ich an etwas unanständiges gedacht habe. Hastig schaue ich mich um, als hätte ich Angst, dass jemand meine Gedanken lesen kann und als ich die wenigen Menschen beobachte, die an uns vorbeigehen, fällt mir ein Stein vom Herzen. Ich bin noch nie so erleichtert darüber gewesen, dass niemand meine Gedanken lesen kann. Wenn die Menschheit irgendwann einmal so weit sein sollte, dies zu ermöglichen, weiß ich schon einmal, wer nicht mehr an die Öffentlichkeit gehen sollte, geschweige denn unter Menschen. Das Beste wäre, wenn ich mich dann in einem Keller einsperre und bis zu meinem Lebensende dort verharre. Meine Gedanken würden die Menschen um mich herum nur verstören, da bin ich mir sicher.
Eigentlich hätten wir jetzt Kunst gehabt, aber zum Glück ist unsere fiese, alte Lehrerin krank genug, um nicht in der Schule aufzutauchen. Das ist immer das Schöne am Oberschüler-Dasein - dass man automatisch frei hat, wenn der Lehrer nicht da. Keine unnötigen Vertretungslehrer und ihre idiotischen Aufgaben. Aber das Beste daran ist, dass ich diese Freistunde mit meinen zwei besten Freunden verbringen kann - und Gott sei Dank ohne Sara, Aarons schmierige Freundin, die, seit die beiden zusammen sind, wie ein Kaugummi an ihm klebt und mich und vor allem Loreen, die schon seit der dritten Klasse in Aaron verliebt ist, zu Tode nervt.
»Im Ernst, er denkt auch er wäre der Obermacker«, fauche ich und bleibe vor den beiden stehen. Ich stelle mich breitbeinig hin, nehme mir ein paar meiner braunen Strähnen, quetsche sie zwischen meine Oberlippe und meine Nase, um einen Bart darzustellen – auch wenn Alec keinen Bart trägt, jedenfalls keinen, der über einen Drei-Tage-Bart hinauswächst – und sage mit dunkler, tiefer Stimme:»Hey, ich bin Alec, ich bin ja sooo sexy. Es gibt keine Frau, die meinem Charme nicht verfällt.« Ich lecke mir total verführerisch – und natürlich gar nicht übertrieben – über die Lippen. »Meine Hobbys bestehen darin, Mädchen abzuschleppen und wenn sie dann kurz vor dem Sex kneifen, mache ich ihnen das Leben zur Hölle. Aber das ist okay, denn ich bin so scharf, dass die Frauen darauf abfahren. Denn alles woran sie denken, wenn sie mich sehen, ist«, ich fuchtele wie wild mit den Armen in der Luft herum, »Sex, Sex und....achja, S-«
»Aua!«
Ich drehe mich verwirrt um, als mein Arm gegen etwas Hartes trifft. Ein kleiner Junge – vielleicht ein Achtklässler – steht neben mir und hält sich mit schmerzverzerrter Miene die Nase. Ups. Ich muss wohl so in Rage gewesen sein, dass ich ihn aus Versehen mit meinem Arm getroffen habe.
»Sorry Zwerg«, murmele ich, wuschele ihm kurz durch die Haare und drehe mich wieder um, ohne ihn weiter zu beachten. Ich glaube ihn noch irgendetwas murmeln zu hören, bevor er schnaubend weitergeht.
»Wo war ich?«, frage ich und sehe Aaron und Loreen wieder an. »Ach ja, bei unserem lieben Obermacker Alec.« Ich versuche wieder die selbe, männliche Stellung einzunehmen wie zuvor und verstelle erneut meine Stimme. »Als wäre ich nicht schon geil genug, bin ich auch noch so schlau, dass ich Medizin studiere. Außerdem bin ich ein wahnsinnig guter großer Bruder. Ich verprügele einfach mal einen Gorilla, um meinen kleinen, lieben Caleb zu rächen.«
Loreen lächelt, als ich das sage, aber ich lasse mich davon nicht beirren.
»Mein Körper ist übrigens auch nicht ganz ohne.« Ich wackele mit den Augenbrauen, bevor ich meinen Bart fallen lasse und wieder zur normalen Becca werde. Verzweifelt werfe ich die Arme in die Luft. »Im Ernst? Ist dieser...dieser Typ überhaupt ein Mensch? Vielleicht ist er auch ein von Menschen entwickelter Roboter.« Plötzlich kommt mir eine Idee und meine Augen werden ganz groß. »Oh Gott, hört zu. Ich habe eine Theorie. Was ist, wenn die Moranis' nur verdeckt in der selben Firma wie meine Eltern arbeiten?« Entsetzt reiße ich den Mund auf, sehe dabei abwechselnd Aaron und Loreen an. »Was ist, wenn...wenn die Moranis' in Wahrheit Wissenschaftler sind? Und sie wollen den perfekten Menschen herstellen – naja, einen Roboter in Menschenform. Das würde so einiges erklären. Meint ihr nicht auch?«
»Du hast den totalen Dachschaden«, meint Loreen lachend und sieht Aaron an, der bloß grinsend mit den Schultern zuckt. Er sieht mit seinen blauen Augen zwischen Loreen und mir hin und her. »Sie ist schon damals so...kreativ gewesen.«
»In der Grundschule habe ich dir die meisten deiner verrückten Theorien und Geschichten auch noch abgenommen.« Loreen lacht, als würde sie sich an einen dummen Witz erinnern. Sie sieht Aaron an und tut fast so, als wäre ich gar nicht mehr anwesend. »Weißt du noch, als sie einmal ihre Mathehausaufgaben vergessen hat und meinte, dass ein UFO mit Aliens bei ihr im Zimmer gelandet sei und sie ihr die Hausaufgaben abgenommen haben, weil die Zahlen und Aufgaben angeblich eine geheime Formel ergeben hätten, um die Weltherrschaft an sich zu reißen?« Sie beugt sich vor, um mir freundschaftlich in die Seite zu boxen. »Man das hab ich dir damals echt abgekauft. Weißt du, wie sauer ich war, als mir klar wurde, dass du das nur erfunden hast?«
Ich verdrehe die Augen.
Doch Aaron, der mir wohl auch gerne in den Rücken fällt, stimmt in Loreens Lachen mit ein. »Menschen ändern sich wohl nie.«
»Schön, dass ihr euch so gut über mich amüsieren könnt«, blaffe ich, stemme dabei die Hände in die Hüften. »Wie gut, dass es nur hier nicht um mich, sondern diesen wenn-ich-könnte-würde-ich-mich-am-liebsten-selbst-flachlegen-Typen geht.«
Loreen und Aaron sitzen auf der Bank und tauschen einen vielsagenden Blick aus - jedenfalls scheint er für die beiden vielsagend zu sein, denn ich kann beim besten Willen nichts aus ihren Gesichtern lesen. Aber weil ich weiß, dass sie mir sowieso nicht sagen werden, woran sie denken, frage ich gar nicht erst.
Die beiden verhalten sich schon die ganze Zeit so komisch. Seitdem ich ihnen vorhin erzählt habe, was zwischen Alec und mir passiert ist, grinsen sie nur noch dümmlich vor sich hin. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass sie mir zustimmen und mir sagen, dass sie total hinter mir stehen und auch finden, dass Alec das letzte Schwein ist, aber leider haben weder Loreen noch Aaron so reagiert. Sie haben, um ehrlich zu sein, überhaupt nicht reagiert, wenn man dieses dumme Grinsen nicht weiter beachtet, so wie ich es schon die ganze Zeit über tue.
Laut stampfe ich vor ihnen auf und ab, um meiner Wut freien Lauf lassen zu können. Jetzt zu sitzen, kommt gar nicht infrage - dazu bin ich viel zu aufgewühlt. Ich verstehe nicht, wie die beiden so ruhig dasitzen und ihre Brote essen können, während in mir ein Feuer brennt und dieses Mal hat dieses Feuer nichts mit Lust und Leidenschaft zu tun, nein, in mir brennt Hass.
»Ich will seinen verdammten Kopf nehmen und ihn-« Ich halte inne, als Loreen zu kichern beginnt und als ich mich umdrehe, um die beiden anzusehen, erkenne ich auch in Aarons Gesicht ein Grinsen. Misstrauisch beäuge ich die beiden. »Was?«
»Naja, du-« Loreen stupst Aaron in die Seite und bringt ihn damit dazu, den Mund zu halten. Das Grinsen auf ihren Gesichtern wird breiter, als sie sich einen kurzen Blick zuwerfen.
»Was?«, wiederhole ich, immer noch misstrauisch und ziehe die Brauen zusammen. »Jetzt mal ehrlich, was ist denn bitte los mit euch beiden? Habt ihr irgendetwas genommen oder warum grinst ihr so dümmlich vor euch hin?«
»Du begreifst es echt nicht, oder?« Loreen starrt mich fassungslos, aber dennoch amüsiert an. Sie scheint das Ganze echt witzig zu finden. Auch Aarons Augen blitzen belustigt auf, als er meinen irritierten Blick bemerkt.
»Was begreife ich nicht?« Ich werfe verzweifelt die Arme in die Luft, als sie beiden mich grinsend ansehen. »Herrgott nochmal, was begreife ich nicht?!«
»Du stehst doch offensichtlich total auf Alec«, kichert sie und hält sich dabei die Hand vor den Mund, als wollte sie verhindern, dass ich es bemerke, aber das ist natürlich mehr als unnötig.
Im ersten Moment starre ich sie entsetzt an. Es dauert, bis ich begreife, was sie da eben gesagt hat und als ihre Worte endlich durch mich hindurch sickern, kann ich nicht anders, als laut aufzulachen. »Ich soll auf ihn stehen? Ich? Auf Alec? Sag mal, hast du mir nicht zugehört? Denn du hast hier offensichtlich ein paar Gefühle durcheinander gebracht. Hass ist ja wohl was ganz anderes als Liebe.«
»Vielleicht hasst ihn auch, weil du weißt, aber nicht wahrhaben willst, dass du ihn in Wahrheit ziemlich gerne hast«, behauptet Loreen.
»Manchmal«, mischt sich Aaron plötzlich mit ins Gespräch ein, »ist Hass und Liebe nur einen Atemzug voneinander entfernt. Ein falsches Wort, eine verwerfliche Tat, eine einzige Sache kann Liebe in Hass verwandeln. Weißt du, ich sehe das so: wo Hass ist, ist meistens auch einmal Liebe gewesen.«
»Danke Mr. Ober-Schlaumeier«, antworte ich augenrollend. »Mag ja sein, dass du recht hast, aber ich bin mir da ganz sicher. Ich stehe nicht auf diesen Bastard.«
-
»Hey«, begrüße ich Caleb, als ich an diesem Tag vor der Haustür stehe. Mit meinem schweren Rucksack auf den Schultern und meiner Ausgabe von Joseph Roths Hiob, die ich für meine nächste Deutschklausur noch zu Ende lesen muss, unter dem Arm, trete ich ins Haus.
Ich bin diese Woche fast jeden Tag bei den Moranis gewesen. Jedenfalls fühlt es sich so an, als wäre ich öfter hier gewesen, als in meinem eigenen Zuhause. Es tut gut, hier zu sein. Vermutlich fällt es mir schwer, mir das selbst einzugestehen, aber ich fange an, die Zeit, die ich hier mit Caleb verbringe, zu genießen. Mag sein dass es daran liegt, dass ich zu Hause sowieso die meiste Zeit alleine bin, da meine Eltern ständig und jede freie Sekunde arbeiten und ich das Gefühl liebe, nach der Schule nach Hause zu kommen und zu sehen, dass bereits jemand auf mich wartet. In diesem Fall ist es Caleb, dem es offensichtlich auch gut tut, mich bei sich zu haben.
Manchmal erwische ich mich dabei, wie ich ihn mit mir vergleiche. Meinem zwölfjährigen Ich. Damals schon haben meine Eltern sich lieber mit ihren Kunden beschäftigt, als mit mir, aber ich kam klar damit, weil ich Loreen und Aaron hatte, die mir jederzeit zur Seite standen. Manchmal glaube ich, dass auch Calebs Eltern gar nicht wirklich wissen, was im Leben ihres Sohnes - oder auch ihrer Söhne - so vor sich geht. Sie sind bestimmt keine schlechten Eltern und erst recht keine schlechten Menschen, sie sind einfach nur besessen davon, zu arbeiten, wiegen sich so oft in dem Glauben, dass sie das Richtige tun, dass sie viel Geld verdienen um ihrer Familie etwas bieten können, dass sie den Blick für das wirklich Wichtige verlieren. Und manchmal habe ich das Gefühl, dass Alec das auch weiß, dass er spürt, dass es Caleb etwas ausmacht, dass es ihn leise und schleichend zerstört, dass seine Eltern keine Zeit für ihn haben und er diese Elternrolle so gut es geht übernimmt.
Ich bemerke, dass ich lächle, als ich an Alec denke. Dass mich der Gedanke daran, dass er diese herzliche Seite an sich hat, wenn er sie auch nur für seinen Bruder zeigt, mit Wärme durchflutet, versuche ich zu verdrängen. Das geht zu weit. Ich schüttele den Kopf. Wenn du weiterhin nur so von Alec schwärmst, kann man ja wirklich glauben, dass du auf ihn stehen würdest.
Caleb und ich haben unsere anfänglichen Schwierigkeiten überwunden, unser gegenseitiges Misstrauen beiseite geschoben und fangen nun von vorne an. Er spricht nicht mit mir, wie er es mit Alec tut, aber das ist verständlich. Dass ich Caleb vor diesen Gorillas geholfen habe, hat mir wiederum dabei geholfen, sein Vertrauen zu gewinnen. Im ersten Moment war er ziemlich sauer, weil ich seinen Bruder angerufen habe, aber diese Wut hat sich innerhalb der letzten Woche gelegt. Wir haben uns die Tage zusammen gesetzt und miteinander gesprochen. Nur wir beide.
Er hat mir verraten, dass es ihm peinlich gewesen ist, vor Alec oder mir zuzugeben, dass er in der Schule gemobbt wird und sich nicht selbst wehren kann, er aber versteht, dass ich keine andere Wahl hatte, als Alec Bescheid zu geben. Als ich ihn danach gefragt habe, wie es in der Schule läuft und ob die Schikanen aufgehört haben, hat er behauptet, dass die Jungs ihn inzwischen in Ruhe lassen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihm das glauben soll, bin aber nicht weiter darauf eingegangen, da er nicht so gewirkt hat, als wolle er dieses Thema weiter erläutern.
Die letzten Tage hier waren ziemlich angenehm, da Caleb und ich jeden Tag unter uns gewesen sind, aber als ich heute hinter ihm ins Wohnzimmer trete, stöhne ich genervt auf. Der dunkle Haarschopf am anderen Ende des Raumes, der sich am Esstisch über diverse Bücher gebeugt hat, kann nur zu einer einzigen Person gehören. Eine Person, die ich gerade nicht sehen möchte, denn sobald ich ihn sehe, hüpft mein Herz wie wild herum und jedes Mal wenn das passiert, spuken Loreens Worte in meinem Kopf herum. Du stehst offensichtlich total auf Alec. Pah! Das glaubt sie doch wohl selbst nicht! Ich laufe an Caleb vorbei und bleibe direkt vor dem Tisch stehen, die Hände in die Hüften gestemmt.
»Was tust du denn hier?«, fauche ich, lasse meine Tasche auf den Boden neben dem Tisch fallen und starre Alec an. Ich weiß nicht, warum es mich so wütend macht, ihn hier zu sehen. Vielleicht liegt es an diesem ständig klopfenden Herzen, das mich zum Wahnsinn treibt, sobald ich in seine Augen sehe. Ich will nicht, dass Loreen mit dem, was sie gesagt hat, Recht behält, ich will nicht in Alec verliebt sein, ich will nicht selbstmörderisch mein Herz in die Hände eines Mannes legen, für den ich nicht mehr als ein kleiner Zeitvertreib bin, ein Zeitvertreib mit einem imaginären Hund, der Pizza heißt. Wow, das klingt vielleicht romantisch.
Er schaut endlich von seinen Büchern und Mitschriften auf, die vor ihm auf dem Tisch verbreitet herumliegen und lächelt. »Hey, ich freue mich auch, dich wiederzusehen.« Sein Lächeln hat nichts freundliches an sich und auch seine Stimme trieft nur so vor Spott und Hohn.
Ich schaue ihm in die Augen und halte den Atem kurz an. Blau, braun, blau, braun und atmen. Richtig so, Rebecca, nur nicht das Atmen vergessen - und dann wieder blau, braun, blau, braun, rechts, links, rechts, links und atmen. Super. Ich applaudiere mir innerlich selbst für meine Selbstbeherrschung und schlucke schwer. Nachdem ich mich wieder beruhigt habe, frage ich:»Jetzt mal im Ernst, was tust du Idiot hier?«
Alec zieht eine Braue in die Höhe. »Ist das nicht offensichtlich? Ich versuche zu lernen.«
»Warum denn hier?«, blaffe ich. Ich will wirklich nicht unhöflich sein und Alec auch nicht verbieten hierher zu kommen, immerhin wohnt er hier – ich will einfach nur nicht in seiner Nähe sein. Das ist alles. »Du hast doch eine eigene Wohnung im Wohnheim.«
Er verdreht die Augen. »Hast du dieses kleine Gefängnis mal gesehen? Die ganze Wohnung ist nicht einmal halb so groß, wie unser Badezimmer hier.«
Jetzt bin ich an der Reihe, die Augen zu verdrehen. Was er kann, kann ich schon lange! Ich stemme die Hand am Tisch ab und beuge mich ein wenig zu ihm vor, als ich sage:»Gibt es nicht so etwas wie eine Bibliothek an der Uni?«
»Beccs, im Ernst. Die Menschen da nerven einen Rund um die Uhr. Meinst du, man kann sich da konzentrieren?« Alec stöhnt genervt auf. »Aber wenn du mich weiterhin ablenkst, ist die Bibliothek wohl doch der bessere Platz.«
Ich seufze und drehe mich zu Caleb um, der, sobald unsere Blicke sich kreuzen, das Grinsen, das um seinen Mund herumspielt, zu verdecken versucht. Schön, dass wenigstens einer Spaß hat, auch wenn ich nicht verstehe, was genau ihn so sehr darüber amüsiert, dass Alec und ich uns jedes Mal wenn wir uns sehen, streiten müssen.
»Wissen deine Eltern, dass er hier ist?«, frage ich den Kleinen, der die Lippen aufeinander gepresst hat. Caleb nickt. »Er...er ist nur zum Lernen hier und...«
»....warum bin ich dann noch hier?«
Ich verbringe gerne Zeit mit Caleb, wirklich, aber wie schon gesagt, solange Alec hier ist, würde ich am liebsten auf dem Absatz kehrt machen und das Weite suchen.
Alec lacht hinter mir, was mich sofort dazu bringt, mich umzudrehen und ihn anzusehen. Mit zusammengezogenen Brauen starre ich ihn an. »Was? Ist das wieder eine von deinen miesen Ideen, um mir eins auszuwischen? Denn falls dem so ist, bin ich schneller weg, als du-«
»Wenn es nach mir ginge, wärst du ganz bestimmt nicht hier«, meint Alec mit einem schelmischen Grinsen im Gesicht. Belustigung blitzt in seinen Augen auf. Er findet das Ganze hier offensichtlich zum Lachen. Das alles ist nur ein lächerliches Spiel für ihn, um sein Ego wieder aufzubauen – er verletzt mich mit Worten und ergötzt sich hinterher daran, dass ich mich wirklich von ihm verletzen lasse.
»Ach und warum bin ich dann hier?« fauche ich wütend. Ich versuche mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich seine Worte wirklich verletzen.
Alec schaut an mir vorbei, vermutlich zu seinem kleinen Bruder, bevor sich seine Mundwinkel zu einem sanften Lächeln heben und er mich wieder ansieht. »Frag mich nicht wieso, aber ich vermute mal, Caleb fängt an, dich zu mögen.«
Ich drehe mich so schnell zu Caleb um, dass ich sein rotes Gesicht sehen kann, bevor er dazu kommt, es zu bedecken. Meine Augen werden ganz groß. Nein, das kann nicht sein. Ist das wieder einer von Alecs Streichen, in denen Caleb nur mitspielt oder meint er das Ernst? Natürlich weiß ich, dass Caleb mir eine zweite Chance gegeben hat und natürlich bin ich nicht so blind, um nicht zu bemerken, dass er anfängt, mich zu mögen - dass er mich aber gerufen hat, obwohl sein Bruder zu Hause ist und ich hier eigentlich ziemlich überflüssig bin, nur weil er mich mag, haut mich aus den Socken.
»Caleb?«, frage ich ruhig. Es kostet mich all meine Kraft, denn am liebsten würde ich auf ihn zurennen, ihn in meine Arme reißen und erdrücken, aber ich versuche alles, um mich zusammenzureißen und so locker wie möglich zu klingen. »Stimmt das?«
Caleb streicht sich über das Gesicht, als müsse er sich sammeln, bevor er meine Frage beantworten kann. Dabei sieht er mir nicht einmal in die Augen, doch irgendwann bricht er endlich das Schweigen und nickt langsam. »Du...du bist ganz in Ordnung.«
Ein breites Grinsen wächst auf meinem Gesicht heran, aber bevor ich etwas sagen kann, verdüstert sich Calebs Blick ein wenig, fast so, als würde sich ein Schatten um seine Züge legen. »Aber was du damals über mich gesagt hast, nehme ich dir immer noch übel...ein bisschen.«
»Oh.« Ich schaue leicht überrumpelt von ihm zu Alec, der sich wieder über seine Bücher gebeugt hat und so tut, als würde er nicht zuhören, es aber – seinem Grinsen nach zu urteilen – doch tut. Am Ende sehe ich wieder Caleb an. Ich muss ziemlich zerknirscht und reumütig aussehen, denn plötzlich lacht Caleb mir ins Gesicht. Verwirrt runzele ich die Stirn.
»Schon okay«, meint er und macht eine wegwerfende Bewegung. »Du hast dich immerhin entschuldigt und es nicht so gemeint. Außerdem war die Aktion in der Schule letztens echt cool.«
Ich hebe eine Braue, nicht sicher, ob Caleb das ernst meint oder er sich vielleicht doch eher lustig über mich macht. Aber bevor ich etwas darauf erwidern kann, mischt sich Alec von hinten mit ein:»Ach ja, die Sache mit unserem lieben Hund Pizza.«
Ich drehe mich um und folge Calebs Blick, als seine Augen sich an seinen großen Bruder heften. Er sieht überrascht aus und wirkt mit einem Mal ziemlich aufgeregt. »Hat sie dir davon erzählt? Das war echt krass, wie sie von dieser Pizza angefangen hat, oder? Als hätte sie diese Lüge schon einmal benutzt. Ich habe ihr fast abgekauft, dass es ihn gibt.«
Alecs Augen wandern zu mir, als er mit einem Grinsen sagt:»Ja, sie kann wirklich überzeugend lügen.« Dem fiesen Unterton in seiner Stimme ist zu entnehmen, wie ernst er das meint - nämlich überhaupt nicht.
Ich schließe kurz die Augen, um zu verarbeiten, wie peinlich diese Situation ist. Alec scheint es darauf anzulegen, jedes Mal auf unser erstes Treffen anzusprechen und mich mit meinem seltsamen Rückzieher aufzuziehen - als wäre mir die ganze Sache nicht schon peinlich genug. Dass mir damals nichts besseres als die lächerliche Ausrede mit meinem Hund eingefallen ist, ist ja schon traurig genug, dass mir dann aber auch kein besserer Name als Pizza eingefallen ist, ist trauriger als das Ende von Titanic.
»Haben wir uns genug über Pizza unterhalten?«, frage ich und versuche dabei nicht zu bissig zu klingen, weil ich nicht möchte, dass Caleb einen Verdacht schöpft. »Ich finde, wir sollten etwas unternehmen, Caleb. Du und ich.«
»Da lehnt sich jemand aber ganz weit aus dem Fenster.«
Ich werfe Alec einen wütenden Blick zu und sehe dann wieder Caleb an. »Lass uns raus gehen. Heute kann die Schule etwas vernachlässigt werden, meinst du nicht auch? Worauf hättest du Lust? Zoo? Bowlen? Äh...mehr fällt mir nicht ein.«
»Kino wäre cool«, meint Caleb und seine Augen beginnen zu leuchten. Zufrieden schaue ich zu Alec, der plötzlich seine Sachen zusammenpackt.
»Wohin gehst du?«, frage ich irritiert.
»Nach oben.«
»Wieso?«
Er zeigt auf sein Buch. »Um zu lernen?«
»Sei nicht so ein Spielverderber«, sage ich und stupse ihn dabei spielerisch in die Seite. Vermutlich wünscht er sich gerade, in seinem Wohnheim zu sein und nicht hier.
»Weißt du Rebecca, es gibt Menschen, die hart für ihre Träume kämpfen«, meint er und wirkt mit einem Mal total ernst. Ich sehe ihn überrascht an. »Ich kann es mir nicht leisten durch die Prüfungen zu fallen.«
»Komm schon«, murmele ich. »Komm mit. Spiel wenigstens unseren Chauffeur. Ich will nicht mit dem Bus fahren müssen. Es regnet.«
»Ich kann nicht.« Er sieht mir fest in die Augen. »Wenn ich durch diese Prüfung falle, dann-«
»Bitte.«
Alec und ich schauen zu Caleb. Der Kleine beachtet mich nicht, stattdessen schiebt er die Unterlippe vor und sieht seinen Bruder mit großen Augen an. Überrascht sehe ich wieder Alec an, der plötzlich unsicher auf seiner Unterlippe herumkaut. Es kommt mir so vor, als würde er mit sich selbst kämpfen. Auf der einen Seite steht seine bevorstehende Prüfung und auf der anderen sein Bruder, für den er vermutlich alles tun würde. Gespannt beobachte ich das Szenario, dass sich vor mir abspielt. Die Emotionen und Gedanken, die sich in diesem Moment in Alecs Gesicht abspielen, sind so einfach so lesen, dass es mich ein stücktweit mit Wärme durchflutet.
»Kannst du uns nicht wenigstens fahren? Ich würde so gerne Passengers sehen.«
Alec seufzt und lächelt Caleb an. »Na gut, ich fahre euch.«
-
Ich habe Alec noch versucht, mit in den Film zu zerren, aber er hat beteuert, dass er noch eine Seite auswendig zu lernen hat und im Auto auf uns warten wird.
Der Film ist in Ordnung gewesen. Ich wäre im Leben nicht freiwillig rein gegangen, aber dafür, dass ich das für Caleb getan habe, ist es okay gewesen. Er hat es sich so sehr gewünscht und ihn so aufgeregt herum hüpfen zu sehen, hat mich glücklich gemacht. Caleb wirkt oft älter als er eigentlich ist. Ich bezweifle, dass er einfach nur frühreif ist. Irgendetwas sagt mir, dass noch mehr dahinter steckt. Noch viel mehr. Ich würde ihn gerne fragen wieso er so ist, wie er ist, aber ich glaube nicht, dass er sich mir anvertraut und irgendwie habe ich das Gefühl, dass Alec weiß, was los ist. Ich weiß, dass ich nicht das Recht habe nachzufragen, also halte ich den Mund und genieße die Momente in denen Caleb endlich mal das glückliche Kind in sich aufblitzen lässt, denn das ist er - er ist ein Kind.
Als Caleb und ich schließlich aus dem Film kommen, schwärmt Caleb noch von den ganzen actionreichen Szenen, den Special Effekten und allem, wovon ich keine Ahnung habe, doch um ehrlich zu sein, höre ich sowieso nur noch mit einem Ohr zu, denn meine Augen haben in dem Moment, als wir über den Parkplatz zu Alecs schwarzem Range Rover laufen schon etwas ganz anderes in Angriff genommen.
Alec lehnt lässig an seinem Auto, während zwei Mädchen vor ihm stehen und mit ihm reden – dass sie ihn nur nach dem Weg fragen, bezweifle ich, da ich nicht glaube, dass man bei einer einfachen Wegbeschreibung so viel zu lachen hat, wie diese beiden Mädchen, die mir auf der Stelle unsympathisch sind. Das dringende Bedürfnis ihm auf der Stelle den Kopf abzureißen, wächst ihn mir, als er einem der Mädchen die Hand auf die Schulter legt und sie anlächelt. Ich mach dich kalt, du verfluchtes Arschloch.
Als er meinen Blick schließlich bemerkt und er uns auf sich zukommen sieht, scheint er sich von den Mädchen zu verabschieden, denn im nächsten Augenblick drehen sie sich zu uns um und als sie uns sehen, wenden sie sich winkend von Alec ab. Der beachtet die beiden Mädchen aber nicht länger, stattdessen klebt sein Blick an Caleb und mir.
»Scheinst ja erfolgreich beim Lernen gewesen zu sein«, höhne ich und obwohl ich versuche, nicht eifersüchtig dabei zu klingen, scheitere ich kläglich an meinem Versuch. Ich beiße mir auf die Unterlippe und verfluche mich innerlich dafür, dass ich meinen Mund nicht halten konnte. Er wird es schon nicht bemerken, rede ich mir ein, doch im nächsten Moment grinst Alec und das letzte Fünckchen Hoffnung zerplatzt wie eine Seifenblase. Scheiße, er hat es bemerkt.
»Wenn du wüsstest, wie erfolgreich.« Er fährt sich mit der Zunge über die Lippen und ich weiß, dass er das nur tut, um mich in den Wahnsinn zu treiben, also tue ich so, als wäre es mir egal. Als wäre mir egal, dass er mit anderen Mädchen auf der Straße flirtet, als wäre mir egal, dass ich seinen Mund, über den er mit seiner Zunge fährt, am liebsten küssen würde, bis sich meine Lippen wund und taub anfühlen.
Loreens Worte spuken wieder in meinem Kopf herum, als ich vorne neben Alec ins Auto steige. Ich versuche, das seltsame Ziehen in meinem Brustkorb zu unterdrücken. Ich kann nicht verliebt in Alec sein. Das ist unmöglich. Ich bin nicht eins dieser dummen, naiven Mädchen, das sich in einen Typen verliebt, der sie schlecht behandelt. Nein, so bin ich definitiv nicht. Mir ist egal mit wem Alec flirtet und mit wem nicht. Soll er doch mit der halben Stadt flirten. Das ist mir sowas von egal.
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