13 | Gorillas
• Erik Jonasson - Like a Funeral •
Zwischen Caleb und mir läuft es wieder einigermaßen normal ab. Wir haben den Vorfall und unseren kleinen Streit vom letzten Mal einfach totgeschwiegen. Es fühlt sich irgendwie seltsam an, wenn wir ganz offen miteinander reden oder selbst dann, wenn wir uns schweigend gegenüber sitzen. Vermutlich liegt es daran, dass wir uns nach dem Streit nicht mehr ausgesprochen haben.
Ich erwähne die Blutergüsse nicht, auch wenn sie mir immer wieder auffallen und dafür erwähnt er die Sache mit Alec nicht. Es ist nicht so, als würde ich es für immer für mich behalten. Ich weiß, dass ich mit jemandem darüber reden muss, aber ich weiß noch nicht wie und mit wem und bis ich diese Fragen geklärt habe, muss ich mich wohl oder übel zurückhalten.
Immer wieder frage ich mich, wie seine Eltern nichts von den Flecken mitbekommen, aber vermutlich sehen sie sich ziemlich selten im Moment, weshalb ich in den letzten Wochen auch immer öfter gebraucht werde und inzwischen schon jeden Tag vorbeikomme.
Auch Alec kommt nicht mehr vorbei. Anscheinend springt er momentan von einer Vorlesung in die Nächste, lebt im Wohnheim und wird mit mit vielen verschiedenen Klausuren und Projekten bombardiert. Jedenfalls hat Mrs. Moranis mir so viel erzählt, als ich eines Abends etwas länger geblieben bin, um noch einen Tee mit ihr zu trinken und zu quatschen. Sie hat von sich aus über Alec geredet, ohne das ich sie gefragt hätte. Und während sie über ihn gesprochen hat, habe ich Calebs Blick – der mit uns am Tisch saß – gespürt, der sich in meinen Schädel gebohrt hat. Er hat vermutlich irgendeine Reaktion von mir erwartet, welche, weiß ich nicht, aber ich habe versucht, mich zusammenzureißen und so zu tun, als wäre es mir egal.
Ich hätte gerne gewusst, was Alec studiert, aber ich habe mich nicht getraut, zu fragen. Vor allem wegen Calebs Anwesenheit am Tisch. Der Kleine glaubt sowieso schon, dass ich auf seinen Bruder stehe.
Heute habe ich eine SMS von Mrs. Moranis bekommen, in der sie mich darum bittet, Caleb heute von der Schule abzuholen, um ihn zu seinem Zahnarzttermin zu begleiten. Das Ganze hört sich einfacher an als es ist, denn ich muss mich nach meiner letzten Stunde beeilen, um pünktlich an Calebs Schule zu sein. Ich habe das Glück heute nur fünf Stunden zu haben und renne daher direkt nach dem Sportunterricht los zur nächsten Bushaltestelle. Um von meiner Schule zu Calebs Schule zu kommen, muss ich ungefähr drei Mal umsteigen – zwei Mal Bus fahren und eine kurze Strecke muss ich mit der Bahn zurücklegen, bevor ich endlich vor dem Eingang stehe.
Ich hole noch einmal mein Handy hervor und scrolle meine Nachrichten durch, um sicherzugehen, wann Caleb aus der Schule kommt und wie viel Zeit mir bleibt, um von der Schule bis zur Arztpraxis zu kommen. Caleb würde es zwar nie offen zugeben, aber er hat große Angst vor dem Zahnarzt, also wäre es toll, wenn du ihn auf dem Weg dorthin, beruhigen könntest, hat Mrs. Moranis mir noch dazu geschrieben. Ich stecke das Handy wieder zurück und lasse mich gegen die Schulmauer fallen, während mein Blick über den Schulhof und das Schultor gleitet.
Mein Blick fällt auf meine Uhr und ich seufze. Es sollte in zwei Minuten klingeln. Ich zähle die letzten Sekunden mit, bevor die laute Schulglocke ertönt und eine Sekunde später, fast so als hätten sie nur darauf gewartet, wird das Schultor aufgerissen und die ersten Schüler stürmen aus dem grauen, tristen Gebäude.
Auch wenn Caleb weiß, dass ich komme und vermutlich nach mir suchen wird, halte ich die Augen offen und bleibe wachsam. Mit den Augen versuche ich ihn in der untergehenden Menge zu finden. Aber auch fünf Minuten später, als sich die Menge endlich auflöst und nur noch einzelne Schüler aus dem Gebäude kommen, stehe ich alleine an der Mauer.
Ungeduldig tippe ich mit dem Fuß auf dem Boden herum. Vielleicht redet er noch mit dem Lehrer. Ich warte noch weitere fünf Minuten, aber er kommt immer noch nicht heraus. Viel mehr ist der Schulhof wie leergefegt. Schnaubend drücke ich mich von der Mauer und laufe etwas orientierungslos herum. Was ist, wenn ihm etwas passiert ist? Ich kaue nervös an meiner Unterlippe herum, während ich mich frage, ob ich einfach in das Gebäude herein spazieren soll, aber was dann? Woher soll ich wissen, wo ich suchen muss?
Ohne weiter darüber nachzudenken, reiße ich das Tor auf und trete unsicher in das Gebäude. Kurz überlege ich, ob ich den Hausmeister fragen soll, ob er mir helfen sucht, aber er schaut so mürrisch, dass ich mich schnell abwende und weiter laufe.
Irgendwann, nachdem ich einige Treppen auf und ab gelaufen bin und durch mehrere Gänge gelaufen bin, hole ich verzweifelt mein Handy heraus. Ich will ihn anrufen, aber dann fällt mir ein, dass Caleb sein Handy die meiste Zeit auf stumm gestellt hat. Zögernd wähle ich seine Nummer, aber wie nicht anders zu erwarten, geht er nicht an sein Telefon ran.
Als ich um die nächste Ecke laufe, höre ich ein paar Jungs lachen. Ich halte inne und gehe schnell zurück, als mir ein paar ältere, angsteinflößende Jungs auffallen, die im Gang stehen. Wahrscheinlich sind sie jünger als ich, aber sie machen mir trotzdem Angst – sie sind groß und machen einen unangenehmen Eindruck. Ich halte mich an der Wand fest und versuche um die Ecke zu spähen, um zu sehen, über wen oder was sie da lachen, ohne bemerkt zu werden.
»Komm, rück das Geld raus.« Der Junge, der in der Mitte steht, scheint der Anführer zu sein. Er ist größer und breiter, als die drei anderen, die ihn umringen und anzufeuern scheinen.
»Ich habe kein Geld dabei«, höre ich jemand anderen sagen und erst jetzt fällt mein Blick auf den kleinen, unscheinbaren Sechstklässler, der den vier Schlägertypen gegenüber steht und als ich seine Stimme höre, gefriert mein Blut zu Eis. Ich bleibe wie angewurzelt stehen.
»Ich habe kein Geld dabei, habt ihr das gehört Leute?«, äfft der größere und vermutlich auch ältere Junge ihm nach. Ohne Vorwarnung spuckt er Caleb plötzlich ins Gesicht. Der Hass in seiner Stimme ist nicht zu überhören. »Willst du mich eigentlich verarschen?«
Caleb senkt den Blick, aber das scheint den Gorilla nur noch mehr anzuspornen, den Kleinen weiter zu schikanieren. Er packt ihn mit seiner großen Hand am Kragen, hebt ihn hoch und drückt ihn gegen die Wand. Mit dem Gesicht kommt er Caleb immer näher. »Ich gebe dir eine letzte Chance. Wo ist das scheiß Geld? Deine steinreichen Scheißeltern geben dir doch sonst auch immer einen Haufen Geld mit in die Schule.«
Ich will zu Caleb rennen und ihm helfen, will den Gorilla und seine Lakaien packen und von dem armen Kleinen Jungen packen, dem Tränen über das Gesicht strömen. Wütend beiße ich mir in meine Hand, die ich zu einer Faust zusammen gedrückt habe, während auch mir plötzlich heiße Tränen über die Wange laufen. Wenn ich jetzt darüber renne, werden diese Jungs mich im Leben nicht Ernst nehmen...viel schlimmer, die Tatsache, dass Caleb von einem Mädchen gerettet wird, wird sie nur noch mehr dazu anstacheln, den Jungen für den Rest seines Schullebens zu ärgern. Dadurch, dass ich ihm zu helfen versuche, werde ich das Ganze nur noch schlimmer machen.
Wütend wische ich mir über die feuchten Augen. Ich presse die Lippen aufeinander, um nicht laut aufzuschluchzen, während ich nachdenke, was ich als nächstes tun soll. Einfach nur zusehen, ist auch keine Lösung. Ich gehe alle Möglichkeiten durch, doch am Ende verwerfe ich sie alle wieder. Egal was ich mache, ich kann die Situation nicht retten. Ich nicht – aber vielleicht jemand anderes. Während ich zurück zum Haupteingang renne, wähle ich schnell seine Nummer. Auch wenn sich alles in mir dagegen sträubt, ihn anzurufen - er ist der Einzige, der mir und vor allem Caleb jetzt weiterhelfen kann.
»Hallo?« Erst als ich seine Stimme höre, beruhige ich mich ein wenig. Das Zittern lässt minimal nach und als ich die Augen schließe, wird mir bewusst, wie sehr ich seine Stimme vermisst habe und dass ich, auch wenn ich es nie vor jemandem zugeben würde, sogar ihn irgendwie vermisse. Was würde ich dafür geben, wenn er jetzt, in diesem Moment, bei mir wäre.
»Hey, ich bin es«, antworte ich leise. Selbst meine Stimme zittert, als ich spreche. Ich hebe den Blick und sehe im nächsten Moment, dass der Hausmeisters mich mit einem strengen Blick beäugt. Der Mann hat lange, weiße Haare, die er im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden hat, seine Augen sind grün und liegen tief. Ein wenig verängstigt drehe ich mich um und gehe langsam wieder in Richtung des Ganges, in dem Caleb vermutlich noch mit diesen Gorillas steckt.
»Rebecca?« Ich kann hören, wie überrascht er klingt und die Tatsache, dass er meine Stimme anhand von nur vier knappen Worten erkannt hat, durchflutet mich mit so viel Wärme, dass ich am liebsten auf der Stelle auf und abspringen würde.
Hinter ihm höre ich viele verschiedene Stimmen, wirres Gemurmel und ich frage mich unwillkürlich, wo er gerade ist und gleichzeitig bin ich wütend, weil er nicht hier bei mir ist, auch wenn dieser Gedanke total lächerlich ist, denn alles was Alec mit mir in Verbindung bringt, ist eine Verrückte, die erst einmal nach Sex bettelt und der dann einfällt, dass sie kurz nach Mitternacht mit ihrem Hund Gassi gehen muss...und natürlich seine Rachegedanken.
»Hast du mich vermisst?« Er lacht leise. »Moment Mal, woher-«
»Von deinen Eltern«, unterbreche ich ihn und mache größere Schritte, als mir immer unwohler dabei wird, Caleb alleine gelassen zu haben. Mobbing ist schrecklich und aus diesem verdammten, endlosen Zirkel herauszukommen, ist nicht einfach. Am liebsten hätte ich ihm auf der Stelle geholfen, aber ich weiß einfach, dass ich es durch so eine unüberlegte Aktion nur noch schlimmer mache. Das Mobbing wird zunehmen und diese Gorilla werden immer mehr haben, um sich über Caleb lustig zu machen. Sie werden über ihn lachen und sagen:»Haha, da muss er von einem Mädchen gerettet werden, was für ein Lappen.«
»Hör mal«, sage ich und beiße mir unsicher auf meiner Unterlippe herum, weil ich nicht weiß, wie ich das Thema ansprechen soll. Auch wenn ich Alec noch nicht so lange kenne, weiß ich, dass er bei seinem kleinen Bruder immer ziemlich impulsiv reagiert. »Ich...ich habe dich nicht einfach so angerufen.«
»Jetzt bin ich aber gespannt«, meint er und ich höre irgendetwas im Hintergrund rascheln. »Egal was es ist, Beccs, beeil dich bitte. Ich höre dich zwar mindestens genauso gerne reden, wie du dich selbst gerne reden hörst, aber ich habe gleich eine wichtige Vorlesung.«
»Caleb steckt in einer Schlägerei.« Als die Bombe platzt, kneife ich die Augen zusammen, weil ich Angst vor Alecs Reaktion habe. Ich befürchte, dass er mich gleich am Telefon anschreien und mir sagen wird, dass ich die Verantwortung für den Kleinen habe und mich verdammt noch einmal auch darum kümmern soll, da ich schließlich dafür bezahlt werde. Er mag zwar noch ziemlich freundlich klingen, aber ich weiß, dass, wenn es um seinen Bruder geht, er keinen Spaß mehr versteht.
Zu meiner Überraschung lacht er plötzlich. »Und?«, fragt er völlig ernst. »Ich habe ihm gezeigt, wie man richtig zuschlägt. Er wird sich schon vor einem kleinen Zwerg behaupten können.«
»Du verstehst das nicht, Alec«, beeile ich mich zu sagen, weil ich das Gefühl habe, dass er gleich auflegen wird, denn die Stimmen im Hintergrund werden immer lauter. Er wird in seine Vorlesung gehen und in frühstens zwei Stunden herauskommen. »Caleb hat es dir nicht erzählt, aber er wird vermutlich schon länger von diesen Jungs gemobbt.«
Alec lacht auf, aber es klingt nicht gerade freundlich. »Ach und dir vertraut er sich an? Rebecca, du verstehst hier etwas nicht – Caleb würde mir nie etwas verheimlichen. Also wenn das irgendein billiger Streich sein soll-«
»Bitte«, flehe ich ihn an, als mir wieder die Tränen in die Augen steigen. »Du musst mir glauben. Ich sage die Wahrheit. Du musst mir unbedingt sagen, was ich tun soll. Ich bin vollkommen verzweifelt. Sie sind zu viert und älter und größer...« Ich wische mir wieder über die Augen. »Einer von ihnen ist ein Gorilla. Ich habe Angst alles nur noch schlimmer zu machen, wenn ich dazwischen gehe.«
Stille. Es ist ungewohnt ruhig an der anderen Leitung. Ich höre Alec nicht einmal atmen. Vielleicht braucht er Zeit um sich zu sammeln? Ich beschließe, ihm ein paar Minuten zu geben, aber als er immer noch nicht spricht, frage ich unsicher:»Alec?«
»Rebecca. Im Ernst, wenn das ein Witz ist, dann Gnade dir Gott.« Seine Stimme klingt seltsam gepresst, so als dulde sie keine Widerrede. »Hör mir zu, du gehst da jetzt sofort zurück und lässt dir etwas einfallen.«
»Ich?«, frage ich entsetzt. Wenn ich so kreativ wäre, mir selbst etwas einfallen zu lassen, hätte ich ihn doch nicht erst angerufen. »Was soll ich mir denn einfallen lassen?«
»Was weiß ich«, stöhnt er und klingt verzweifelt. Überrascht hebe eine Braue. Ich habe ihn noch nie so erlebt. »Versuch sie auseinander zu reißen.«
»Aber wenn ich dazwischen gehe, werden sie Caleb erst recht auslachen!«
»Deshalb sagte ich ja, dass du dir etwas einfallen lassen sollst. Frag die Jungs nach irgendetwas, tu so als würdest du Caleb nicht kennen. Hauptsache du machst irgendetwas.« Ich höre eine Tür zuknallen und zucke zusammen, bis mir auffällt, dass der Knall aus meinem Hörer kam. »Und dann beschäftigst du sie so lange, bis ich da bin.«
»Was?«
»Ich fahre jetzt los. Wenn ich auf die Geschwindigkeit scheiße, bin ich vielleicht in zehn oder fünfzehn Minuten da.« Im Hintergrund höre ich, wie der Motor gestartet wird. Alec will seine Vorlesung schwänzen, hierher fahren und dann auch noch die Verkehrsschilder missachten? Wenn er dabei geblitzt wird, gibt es Ärger.
»Was ist mit deiner wichtigen Vorlesung? Was hast du vor?«, frage ich und kann die Panik in meiner Stimme nicht verbergen.
Ich höre Alec schnauben und dieses Mal klingt seine Stimme weiter weg. Vermutlich fährt er schon. »Ich zeige den Arschlöchern, wie es ist, wenn man von Älteren verprügelt wird.«
»Das kannst du nicht machen!«, schreie ich in den Hörer. Die Aussicht auf ein Duell mit diesen halbstarken Affen erfüllt mich nicht gerade mit Glück.
»Und ob ich das kann.«
Ich seufze, während ich mich orientierungslos in den Schulgängen umsehe und hoffe, dass ich den richtigen Weg gehe. »Alec, das sind Kinder.«
»Und Caleb ist mein Bruder.«
Nachdem Alec aufgelegt hat, habe ich mich wieder an die Mauer gedrückt und warte. Auf was ich warte, weiß ich nicht – vielleicht auf eine glorreiche Idee, die hoffentlich schnell vom Himmel fällt. Aber leider fällt keine Idee vom Himmel, viel mehr fällt Caleb auf den Boden, als der Gorilla ihn, nachdem er ihn gefühlte Stunden gegen die Wand drückt, einfach loslässt und als ich Caleb aufstöhnen höre, schaffe ich es nicht länger tatenlos herumzustehen.
Ich atme tief ein und aus und trete aus meinem Versteck. Betont glücklich gebend, gehe ich auf die fünf Jungen zu. Vier von ihnen starren mich an, als wäre ich verrückt und der fünfte – der kleine Caleb – sieht mich im ersten Augenblick überrascht und im nächsten Moment warnend an. Er möchte nicht, dass ich mich einmische, weil er Angst hat, dass sie ihn dann erst Recht auf dem Kieker haben werden. Aber ich zwinkere ihm nur unauffällig zu, gehe an ihm vorbei und sehe die vier Schlägertypen an.
»Hey«, sage ich, immer noch betont fröhlich.
Gorilla zieht seine Brauen zusammen und sieht mich an, als würde er mich am liebsten lang ziehen und über die nächste Wäscheleine werfen. Ich schlucke schwer, während mein Blick zu Caleb herüber huscht, der immer noch auf dem Boden liegt. Auf seiner Stirn pocht eine fies-aussehende Beule. Oh Gott. Ich schaue wieder zu Gorilla, der trotz unseres Altersunterschiedes größer ist als ich, was nicht gerade zu meiner Beruhigung beiträgt.
»Was willst du?«, zischt er, kommt immer näher an mich heran und spuckt bei jedem Wort, das er sagt. Ich trete angewidert zurück und strecke meine Hand aus, um ihn von mir fernzuhalten. Noch nie hatte ich so viel Angst vor einem Kind.
»Ähm...ich...«
Gorilla beugt sich weiter vor, wodurch ich nur noch unruhiger und nervöser werde. Mein Blick fällt wieder auf Caleb, der stöhnend auf dem Boden liegt und versucht, sich das Blut, das ihm aus der Nase läuft, wegzuwischen. Der Hass, den ich diesem Gorilla-Jungen gegenüber verspüre, wächst ins Unermessliche, als ich Caleb da so sitzen sehe.
Ich denke an Alec, der gleich hier sein wird und diese Kinder, die aussehen wie halbstarke Affen, verprügeln möchte, auch wenn er dafür im besten Fall nur eine Anzeige kassieren wird – und dann fällt mir etwas ein.
»Ich suche Pizza«, sage ich so ernst, wie ich nur kann und seltsamerweise kann ich das inzwischen ziemlich gut. Ich sehe wie Caleb mich anstarrt, als wäre ich völlig lebensmüde und vielleicht bin ich das ja auch, denn plötzlich kommen die drei Jungs, die eben noch ein wenig Abseits gestanden haben, immer näher.
Alle fünf Jungs – Caleb inklusive – starren mich völlig verstört an, als wäre ich diejenige hier, die sich grundlos prügelt. Aber das ist gut so, wenn sie mich für verstört halten, glauben sie vielleicht ich wäre komplett verrückt und bekommen Angst, also spiele ich das Spiel weiter. So zu tun, als hätte ich eine Schraube locker, kann ich überraschend gut.
»Was guckst du so bescheuert?«, frage ich und beiße mir im nächsten Moment auf die Unterlippe, als aus Gorillas Brust ein tiefes Brummen kommt. Vielleicht bin ich damit zu weit gegangen. Ich versuche, darüber hinweg zu sehen und mein Schauspiel fortzusetzen. »Hilf mir lieber Pizza zu finden!«
»Wovon redet sie da?«, fragt einer der Lakaien und starrt mich dabei unentwegt an, so als hätte er mich direkt gefragt, dabei galt seine Frage offensichtlich einem seiner Freunde.
»Habt ihr Pizza gesehen?«, wiederhole ich meine Frage ungeduldig und muss mich wirklich zusammenreißen, um nicht laut loszulachen, als ich ihre Blicke sehe. Ich versuche mir vorzustellen, wie das hier für jemanden Außenstehendes aussehen muss und komme zu der Erkenntnis, dass ich mir das vermutlich nicht vorstellen kann.
»Was?«, fragt Gorilla.
Ich schaue zu Caleb, der seinen Mund mit der Hand bedeckt, damit keiner bemerkt, dass er leise lacht. Und irgendwie spornt mich sein Lachen erst recht dazu an, weiterzumachen.
»Na Pizza!« Ich verdrehe genervt die Augen und fahre mir durch die Haare, um sie wirrer und mich dadurch verrückter aussehen zu lassen. »Hast du eigentlich was an den Ohren? Ihr kennt ihn doch. Immerhin kennt er euch auch.«
Gorilla wirft einen Blick zurück und schaut seine Freunde an. Ich kann seinen Gesichtsausdruck nicht sehen, aber die Lakaien schauen mich komisch an und alleine dieser Blick war es wert, das hier zu tun. Am liebsten würde ich mein Handy zücken und ein Foto schießen, aber das traue ich mich dann doch nicht.
Seufzend verschränke ich die Arme vor der Brust. »Jetzt tut doch nicht so, als würdet ihr Pizza nicht kennen.«
»Was für eine Pizza?«
Ich packe Gorilla an seinem Ohrläppchen und ziehe ihn so nah an mich heran, dass ich ihm problemlos ins Ohr flüstern kann. »Hör zu, sag mir wo Pizza ist oder es gibt Stress. Sofort.«
»Lass mich los. Du bist ja total verrückt!«, stöhnt Gorilla und packt sich ans Ohr, das von meinem Griff rot geworden ist. Ich hoffe es pocht und tut ihm weh. Da soll mal einer sagen, dass Mädchen nicht zugreifen können.
Ich gehe auf ihn zu, als er vor mir zurück tritt und packe den Saum seines T-Shirts, das ich sofort nach oben ziehe. »Pizza? Bist du hier?«, frage ich, als ich unter seinem T-Shirt nachschaue. Ich fahre mir verzweifelt durch die Haare, um das Ganze noch authentischer wirken zu lassen, dann drehe ich mich zu den anderen Jungs um und brülle:»Steht hier nicht so faul herum! Los, geht Pizza suchen!«
»Okay, okay«, sagt einer von ihnen und runzelt die Stirn. »Wie sieht Pizza denn aus?«
Ich tue so, als würde ich nachdenken und sage dann:»Klein, Haarig und ziemlich helles Fell. Ach ja und er hat einen Schwanz. Der ist verdammt groß, wenn ihr mich fragt.«
»Die ist doch komplett verrückt«, ruft Gorilla und zum ersten Mal heute sehe ich Angst in seinen Augen. Ich muss mich zusammen reißen, um nicht laut los zu kichern, als er zurück tritt, sich umdreht und davon läuft. Keine zwei Sekunden später laufen seine Freunde ihm hinterher. Ich warte, bis sie um die nächste Ecke verschwunden sind und ihre Schritte immer leiser werden, bevor ich mich zu Caleb umdrehe und ihn immer noch am Boden liegen sehe. Trotz der dicken Beule in seinem Gesicht, grinst er mich an. Ich strecke ihm meine Hand entgegen, um ihm aufzuhelfen.
»Hast du Pizza vielleicht gesehen?«, scherze ich, als er nach meiner Hand greift.
Er zeigt mir lachend den Vogel. »Du bist echt verrückt.«
»Das höre ich öfter. Danke«, antworte ich grinsend und versuche ihn zu stützen, als er leicht humpelt.
Wir laufen wieder zurück zum Haupteingang, an dem mürrischen Hausmeister vorbei und als wir über den Hof laufen, habe ich schon völlig vergessen, dass ich Alec vorhin noch angerufen habe. Doch dann hält plötzlich ein schwarzer Range Rover mit quietschenden Reifen am Seitenstreifen und lenkt meine volle Aufmerksamkeit auf sich.
»Oh nein«, höre ich Caleb stöhnen, bevor ich ihn sehe.
Alec scheint uns nicht sofort zu sehen, als er wütend aus dem Auto steigt und die Tür mit einem lauten Knall hinter sich zuschlägt. Als er das Auto verriegelt, schaut er auf und dann fällt sein Blick auch schon auf mich. Er runzelt die Stirn, bis sein Blick von mir zu seinem Bruder, den ich immer noch stütze, gleitet. Plötzlich wird sein Blick düster und ich erschaudere, als er schließlich mit schweren Schritten auf uns zukommt.
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