Kapitel IV - Der Nebel
Scarlett Lockhart stand am Rande des Abgrunds und ließ den Blick über die Szenerie vor sich schweifen. Vor ihr öffnete sich das Tal zum Fuß des Berges Grimm, dessen Steilwände in den Knochenforst übergingen. Die Baumkronen erstreckten sich dort wie ein rauschendes Meer aus Blättern und Schatten, umspielt von einem wabernden, gräulichen Dunst. Beinahe hätte man es einfach nur für Rauch oder schlichten Nebel halten können. Doch jeder in Grimmhold wusste es besser.
Scarlett kniff die Augen zusammen und folgte den Strömungen der gräulichen Nebelschwaden. War dort ein Schatten? Hatte sich etwas bewegt? Ein Schauer rann ihren Rücken hinab und die junge Frau fröstelte. Dann wandte sich die Rotgewandete um und ließ den Blick über den Berg schweifen. Nur wenige Seilbahnen bildeten einem Wurzelgeflecht gleich die Verbindung hinauf zur Unterstadt von Grimmhold. Über den Hang des Vulkans, dessen Schlund sich nach oben hin öffnete und um den die Luftschiffe kreisten, erstreckte sich die Stadt Grimmhold.
Die Oberstadt, mit ihren früher weiß getünchten Bauten, hatte ihren früheren Glanz eingebüßt, hob sich jedoch immer noch wie eine schimmernde Krone auf dem nahen Gipfel hervor. Die sogenannte Dornenhecke – zahlreiche Seilbahnen und Wege für die Dampffahrzeuge und Beförderungsmittel – verband die ausladenden Gebäude mit den verblassten, von Dampf und Rauch ergrauten Palisaden zu allen möglichen Punkten. Dort oben fand man den Höhepunkt der Technik. Dort residierten die hohen Herrschaften – sicher und vor allem weit entfernt vom wabernden Tod am Grund des Landes. Mit den Köpfen über den Wolken und den hoch gereckten Nasen.
Scarlett rümpfte die Nase und ließ den Blick sinken. Darunter fand man die einfacheren Häuser der ‚Mittelschicht'. Von hier konnte sie die zahlreichen Wasserläufe sehen, die ringförmig um den Berg angelegt worden waren und diesem Teil ihren Namen gaben: ‚Der Ring'.
Schindelgedeckte Bauten aus Stahl und Stein, zahlreiche Schienenläufe auf und über den Straßen. Ein Wirrwarr, mit darin verborgener Ordnung. Dort summte und brummte das Leben, denn es war das schlagende Herz Grimmholds. Schmiede und Erfinder präsentierten ihre Werke und Erfindungen, Händler verkauften ihre Güter von Stoffen über Metalle. Schreibmaschinen klickten, Kassen rangen und ratterten. Die Marionetten wurden mit ihren Diensten angepriesen, Diener-Puppen aus Holz und Metall. Im Ring von Grimmhold klickten die Mechanismen, surrten die Dampfmaschinen und kein Tier oder Wispern eines Vogels war unter dem Lärm zu vernehmen.
Grauer Dampf und Rauch hüllten einen großen Teil des darunterliegenden Teils des Berges ein. In der Unterstadt fanden sich alle, die im Leben weniger Glück hatten. Geflüchtete aus den umliegenden Dörfern. Überlebende des Unglücks, die alles verloren hatten und nicht mehr besaßen, als ihr Leben und die Kleidung am Leib. Sie lebten in den heruntergekommenen Häusern, Kellern oder Fabriken.
Die ehemals rötlichen Schindeln der meisten Bauten waren geschwärzt vom Rauch der Raffinerien, und das schrille Pfeifen und Hämmern der Dampfkessel begleitete einen manchmal wie ein Dämon durch den Schlaf. In der Unterstadt schuftete man den Großteil des Tages und versuchte den nächsten zu erleben. Viele waren Minenarbeiter, Kesselflicker, Schornsteinfeger oder Schneider. Noch mehr waren Diebe oder ‚dreckiges Gesindel'. Ja, es stimmte: Dreckige Arbeit war hier an der Tagesordnung. Jedoch nicht, weil sie es gern taten... sondern weil sie keine Wahl besaßen.
Genauso wenig, wie sie eine Wahl besaß.
Scarlett schüttelte den Schauer ab und richtete ihren Blick wieder auf das Ziel vor ihr. Die Befehle mussten zur Station Grandmother und wenn sie Glück hatte, fand sie etwas über Raines Verschwinden heraus. Scarlett leckte sich über die plötzlich trockenen Lippen und verlagerte das Gewicht von einem Bein auf das andere. Dann griff sie an ihren Gürtel, und zog den Greifer heraus, den sie an einer der dicken Kabelstränge befestigte, die nach unten in den Forst führten. Klickend rastete die Verankerung ein, dann zog sie den Ring am Greifer nach unten und führte den schmalen Lederriemen an ihren Gürtel, um den Karabiner dort einzuhaken.
Ihr Herz pochte wilder. Schneller. Es stolperte und taumelte.
Hatte die Immunisierung wirklich funktioniert?
Was, wenn es plötzlich nicht mehr wirkte?
Wenn das der Grund war, dass man nichts mehr von den Rotmänteln aus dem Wald hörte?
Scarletts wurde schwindlig unter diesen Gedanken.
"Sei nicht so feige. Was würde dein Bruder von dir denken?", murmelte sie zu sich selbst. Scarlett schüttelte den Kopf und ihre roten Locken sprangen aufgeregt wie kleine Feuerfunken umher. Dann richtete sie ihren Blick entschlossen auf den unwegsamen Wald vor ihr.
"Warte auf mich, Raine. Ganz gleich, wo du bist. Ich finde dich. Das schwöre ich dir", raunte sie ihr Versprechen, doch der Wind verschluckte ihre Worte, als sie die Schutzbrille über ihre Augen zog. Die runden Schutzgläser in der kupferfarbenen Fassung sperrten Rauch und Wind hinter sicherem Glas aus, als sie sich über den Rand des Abhanges schwang und surrend in die Tiefe rauschte. Direkt hinein in den wabernden Tod, der den Berg wie ein Seidentuch umschlang.
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Scarlett klammerte sich an die beiden Griffe des Greifers, die einem Lenkmechanismus an einem Hochrad oder einem der Schienengleiter ähnelten. An dem Drahtgespann raste Scarlett in die Tiefe. Wind zerrte und riss an ihr, schmiss ihre Kapuze zurück und zerrte an dem roten Mantel und den Kaskaden roter Strähnen, als wären sie eine Flagge an einem Fahnenmast.
Schließlich tauchte ihr Körper in das graue Meer aus Nebel und verschlang sie. Einige Momente unter ihrem pochenden Herzschlag fand sich um sie herum nichts als grauer Dunst und Schatten, dann zogen die Silhouetten der ersten Bäume an ihr vorüber. Schließlich kam der Kahlschlag und die Landeplattform in Sicht.
Ein großer, mit zahllosen Federn gefüllter Auffang-Sack, welcher an einen Blasebalg erinnern mochte, fing ihren Körper auf und Scarlett stieß ein stöhnendes 'Uff' aus. Die aufgeplusterte Lederhaut empfing sie mehr oder weniger weich und entließ sie danach wieder auf sicheren Grund, indem Scarlett ihr Gewicht verlagerte. Mühsam krabbelte sie zum Rand, ehe sie daraus nach unten rutschte.
Unter ihren Stiefeln knirschte der trockene Boden. Scarlett balancierte sich auf den schmalen Kufen ihrer Sieben-Meilen-Stiefel aus und fand wieder sicheren Stand. Es war das erste Mal, dass sie völlig auf sich gestellt und außerhalb der gesicherten Gebiete von Grimmhold sein würde.
In ihrer Brust pochte der wilde Klang von Aufregung und Furcht und vermischte sich zu einer Symphonie, die ihn ihren Ohren rauschte. Die Luft hier unten war dick und schwer, sodass Scarlett zu den Riemen ihrer Atemmaske griff.
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