Kapitel 4
»Furunkel hat das nur für dich aufgehoben, weil sie dachte, dass es Esspapier ist.«
Furunkel. Es war mein Spitzname, denn die Bezeichnung eines Eiterpickels passte am besten zu mir. Noch dazu hörte es sich so ähnlich an wie „Garfunkel".
Ja, Garfunkel, so nannte man mich.
Es ließ mich noch mehr lästig, es ließ mich noch mehr dick und eklig wie ein Pickel fühlen.
Ein Pickel, den man nicht haben wollte.
Niemand wollte mich haben.
Meine Augen füllten sich unausweichlich mit Tränen. Ich hatte gerade das Plakat für einen Klassenkameraden aufheben wollen, da es ihm heruntergefallen war und jetzt hatte ich den Schlamassel.
Ich war dumm.
Dumm. Dumm. Dumm. Dumm. Dumm.
Tony Sanchez war mir zuvor gekommen und war aus der Schusslinie geeilt.
Jetzt starrten alle nur mich an.
Mich und meinen Gegner. Mich und Austin.
Der Junge mit den Augen aus Eis blickte erbarmungslos auf mich herab. »Hast du dich etwa heute geschminkt?«
Doch jetzt fiel mir wieder auf, dass das was gerade zwischen uns stattfand, gar kein Zweikampf war, sondern viel mehr einer Hinrichtung ähnelte. Meiner ganz persönlichen Hinrichtung. Das Schafott in aller Öffentlichkeit.
»Ey Furunkel! Ich hab gefragt, ob du dich geschminkt hast?!«
Ja, das hatte ich. Ich wollte mich verändern. Ich wollte so sein wie alle anderen Mädchen, damit sie mich endlich in Ruhe ließen!
Sie sollten mich doch alle in Frieden leben lassen.
Sie alle. Diese oberflächlichen, körperfixierten, charakterlosen Bestien.
Ich reagierte nicht. Vielleicht zog er sich ja von selbst zurück? Vielleicht tat er das ja dieses Mal...
»Ist das Feenstaub auf deinen Augenlidern?«
doch er hörte nicht auf.
Nein, das ist magenta-farbener Lidschatten, du Vollhonk! antwortete ich ihm im Geiste.
Doch ich blieb stumm. Völlig verwirrt von einem viel zu schnell klopfenden Herzen.
»Meinst du wirklich das würde dich hübscher machen? Meinst du wirklich es gibt etwas, dass dich rettet? Niemand hier will dich, versteh das endlich.«
Niemand will mich.
»Also brauchst du dir auch gar nicht die Mühe machen. Du gehörst nicht dazu.«
Ich bin ganz allein.
Irgendwie fühlte es sich an, als würde mir Austin damit verbal die Hosen ausziehen.
Mir hatte die Farbe des Lidschattens eben gut gefallen. Was war denn bitte so falsch daran?
Das Klingeln zum Unterrichtsbeginn erlöste mich und die Lehrerin trat ein. Viel zu spät.
Aber jetzt war sie da, meine heimliche Rettung.
»Guten Morgen, meine Lieben.«
»Guten Morgen,« säuselte alle vor sich hin. Zwitscherten ihre Begrüßung, als wäre nichts geschehen - als wären wir alle eine Einheit.
Wie konnte eine Klasse bloß so fake sein?
Doch ich spielte ihr aberwitziges Schauspiel mit, denn meine Tränen hatten sich in Luft aufgelöst. Wieder einmal hatte ich es unterdrücken können, bevor es zu spät war. Ich redete mir ein, dass ich viel zu stark war, um zu heulen.
Der Glaube daran war verlockend. Dabei wusste ich bereits, dass starke Persönlichkeiten ihre Klappen aufrissen. Ich tröstete mich damit, dass ich es ihnen eines Tages heimzahlen würde.
Ja, eines Tages. Da würde ich ihnen in einer Erscheinung eines Models gegenübertreten. Sie sollten mir die Füße lecken. Doch wem machte ich etwas vor? - Das war doch alles nur kindisches Wunschdenken.
Die Klasse 5e.
Es hieß 70% dieser Gruppe hatte eine klare Empfehlung für den Hauptschulzweig erhalten. Doch bis zu deren tatsächlichen Eingliederung war es noch ein weiteres Jahr hin. Das sollte jetzt nicht heißen, dass ich mich weitaus intelligenter fand, es war nur eben kein Geheimnis gewesen, dass so gut wie kein Lehrer auf unsere Gesellschaft Lust hatte.
Nur Mrs Forbes hatte uns einigermaßen im Griff. Diese strahlte uns gerade an, als hätte sie das unfassbare Glück, zwei Dutzend kleine Einstein-Köpfe zu unterrichten.
Es war ein bezauberndes Lächeln. Und ich fragte mich, wie ein Lehrer nur so völlig blind sein und keine Ahnung haben konnte, was vor nur wenigen Sekunden hier stattgefunden hatte.
Unsere Klasse bestand aus 24 Schülern, darunter waren wir nur 4 Mädchen (inklusive mir). Mir war es ein Rätsel gewesen, wie man die schlimmsten Rowdys der Schule hatte zusammen in eine Klasse stecken wollen. Und darum waren wir auf der Liberton High verrufen.
Die Stimme von Mrs Forbes trat in meinen geistigen Hintergrund. Denn Austin sah so friedlich aus, wenn er etwas mit dem Füller niederschrieb. Die schwarzen Locken waren ihm ins Gesicht gefallen. Er hörte gespannt hin, hörte genau zu, was Mrs Forbes erzählte.
Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass sein Ausdruck gerade eben noch so voller Gehässigkeit gesteckt hatte. Mir war schon öfter aufgefallen, dass Austin außergewöhnlich lange Wimpern hatte.
Doch dann. Er bemerkte meinen Blick.
Nein, ich hatte mich wohl getäuscht. Oder?
Jetzt schrieb er doch etwas auf einen Zettel. Dann klemmte er diesen ins Mäppchen und stellte es auffällig in meine Richtung.
Willkürlich aneinandergereihte Zahlen.
Seine Handynummer?!
Das Herz schlug mir bis zum Hals. Doch eine innere Stimme schrie mich an und behauptete, dass dies nur ein bescheuerter Scherz sein konnte. Ein Scherz sein musste.
Allerdings konnte ich die Hand nicht aufhalten, die sich bewegte und schnell die Ziffern notierte. Es war dieser kleine, heuchlerische Hoffnungsschimmer, der mich dazu zwang. Ein kleiner Funken, der mich einfach nicht aufgeben ließ.
Allerdings schwor ich mir, dass ich ja sowieso niemals diese Nummer wählen würde.
Niemals.
♤
[Vier Jahre später]
Er wird es bereuen.
Er wird schon sehen.
Sätze, die sich in meinem Kopf in einem Dauertakt wiederholten.
»Wenn er nur wüsste, mit wem er es überhaupt zu tun hat!«
Mit Violet Garfunkel, antwortete eine gehässige Stimme in mir, besser wäre - wenn er es nicht wüsste.
Meine Hände ballten sich wieder zu Fäusten.
Egal. - Er wird dafür bitter und böse büßen müssen.
Normalerweise war ich eine gute Schülerin, jemand, der mit einem klopfendem Herzen in die Schule ging. Doch heute früh hätte ich mir am liebsten wieder die Bettdecke über den Kopf gezogen und weitergeschlafen.
Zur Hölle mit dir, McBaddy!
Ab heute würde alles anders werden.
Ab heute würde ich nicht mehr unsichtbar sein. Gestern Nacht hatte ich noch stundenlang wach gelegen und mir ausgemalt, dass bereits die gesamte Aula voll mit Kätzchen-Slips tapeziert wurde.
Heute Morgen war ich wirklich auf alles gefasst gewesen. Auf wildes Gelächter. Auf Schikane vom Feinsten. Alles.
Doch niemand vor Ort schien von der Existenz meines Bildes zu wissen.
Niemand interessierte sich für mich.
Niemand starrte zuerst mich an und danach unangenehm lange auf das Handy.
Alles war so langweilig wie immer.
Ich war wie immer ein „Niemand".
Abgesehen davon, dass mir meine Version des „Missglückten Live-Pornos"
höchstwahrscheinlich eh niemand glauben würde.
Vorbereitet hatte ich mich auf den größten Zusammenbruch meines Lebens. Doch es war wie Austin es vorausgesagt hatte.
Würde ich schweigen, dann würde er genau dasselbe tun.
Dabei hatte ich mir schon im Kopfe ausgemalt, wie ich vor unserem Direktor auftreten würde. Mr. Trudy hätte ich detailgetreu beschreiben können, wie genau, McBaddy auf einer seiner Angestellten gelegen hätte. Austin hätte den fünften Schulverweis kassiert und wäre von der Schule geflogen.
Es wäre mein Moment gewesen.
»Hello,« begrüßte mich Austin zu meiner Überraschung, »-Kitty.«
Wo kam der denn her?
Viel zu lässig stand er da, direkt vor meinem Spint.
Wollte er mich damit etwa provozieren?
»Was tust du hier, McBaddy?« und ich verwarf schleunigst den Fakt, dass er in seiner Lederjacke einfach umwerfend aussah.
»Was ich hier tue? Hier stehen, schätze ich,« er musterte mich mit kühlen Augen.
Hast du dich heute etwa geschminkt?
»Aha.« Witzig. Nicht.
»Wie du siehst, ist alles beim Alten geblieben.«
»Tatsache,« tat ich allerdings unbeeindruckt.
Doch ich war beeindruckt.
»Ah. Du versuchst also die Harte zu spielen? Na gut, in Ordnung. Du musst wissen, ich habe nachgedacht und meine Meinung über dich... geändert. Ich traue dir nicht, denn ich glaube dieses Geheimnis ist doch viel zu... krass für dich. Du wirst irgendwann schwach werden. Doch vielleicht überzeugt dich ja das,« er klopfte zweimal auf meinen Spint.
»Was?«
Er trat an mir vorbei. »Bis dann, Kitty-Cat!«
Ich öffnete mein Metallfall und schloss es kurz darauf wieder. Ach du heilige Scheiße.
Da waren Scheine. Und zwar jede Menge davon.
Wie viel Geld war da bitte drin?
Dachte er etwa, ich wäre käuflich?
Und wie war Austin denn an den Code meines Spints gekommen?
»Steck dir dein beschissenes Geld sonst wohin, McBaddy,« wisperte ich und knallte den Spint wieder zu.
Genau. Das war die Nachricht, die ich ihm antworten würde. Sofort packte ich Zettel und Stift und benutzte das Metall des Spints als Unterlage. Ich zeichnete. Daraus wurde ein Strichmännchen mit überbreiten Schultern und einem hässlichen Drei-Tage-Bart, welcher mehr als nur ungepflegt aussah und Überlänge hatte. Natürlich sollte es Austin darstellen.
Mit einem Arm steckte dieser sich ein Bündel Scheine in den Hintern.
So. Darauf fehlte nur noch der passende Spruch: „McBaddy ist geil auf Geld, bis ihm der Arsch abfällt.", „Mr. McBad*As", bezifferte ich abschließend das Männchen.
Haha. Jetzt siehst du nicht mehr so cool aus.
McArsch!
Da fiel mir ein, dass ich doch eigentlich nur eine mickrige 1-Zeilen-Botschaft an McBaddy's Schließfach pinnen wollte.
Doch das war besser. Viel besser.
In einer ruhigen Sekunde platzierte ich es an seiner Metalltür. Perfekt.
Doch was würde ich nun mit dem ganzen Geld aus meinem Spint anfangen?
Ihm es einfach zurückgeben? Das würde doch für zu viel Aufmerksamkeit in der Schule sorgen?
- Nein. Ich wartete auf den Moment, wenn er auf mich zukommen würde, nachdem er meine Zettelchen-Botschaft erhalten hatte.
Dies musste für ihn garantiert in einer ruhigen Minute geschehen, denn niemand durfte ja von seinem dreckigen, kleinen Geheimnis erfahren.
»Glaube ja nicht du hast bereits gewonnen, McLoser.«
♤
»Alles klar McBaddy, oder sollte ich lieber sagen McBadAss?« das Lachen gehörte Tony Sanchez.
Tony war ein hellblonder Typ aus dem Football Team. Seit der fünften Klasse hing er mit Austin ab. Ob er es seiner Beliebtheit wegen tat oder wegen des Geldes, darum ließ sich streiten. Nebeneinander wirkten sie nämlich wie Tag und Nacht. Tony war der scheinbar gut aussehende Traum aller Schwiegermütter, während Austin dagegen wirkte wie ein abgebrühter Auftragskiller. Doch keiner von ihnen war weniger attraktiv.
Sie benahmen sich wie die aller besten Freunde, ob Schein oder nicht, sie verbrachten viel Zeit miteinander und das hatte sich seit damals wohl nicht geändert.
»Ach' halt einfach die Fresse, Ton-Ton,« würgte Austin hervor.
Mit einem Blick auf die Hinterbank, erkannte ich, dass sie heute im Chemiekurs wieder nebeneinander saßen. Direkt daneben weitere ihrer trotteligen Football-Genossen.
Wenn ich Tony ansah, musste ich immer an eine alte Situation denken: „Violet Garfunkel mag Esspapier".
Heute würden selbst mir bessere Mobbing-Sprüche einfallen. Wobei ich ihn damals eher zum Mitläufer-Team gezählt hatte. Doch da war diese eine kleine Tatsache, die mich seither immer noch erschütterte. Denn egal wie hell er heute strahlte, er war damals keiner derjenigen gewesen, die weggesehen hatten, sondern jemand der gerne dabei zusah.
Doch auch an ihm schien heute meine eigentliche Identität vorbeigegangen zu sein. Besser ist das.
»Was? McBadass? Wer schreibt denn sowas?« brummte jetzt einer der Anderen.
Meine Ohren flackerten.
Anscheinend hatte so gut wie das ganze Football Team von meiner kleinen Zettelchen-Botschaft Wind bekommen.
Wieder schlug Tony mit der Faust auf den Tisch, während er und ein weitere Kollege von ihnen ins Lachen versanken.
Austin verrollte nur die Augen.
Es musste wohl schwer sein so zu tun, als würde es ihn nicht kümmern. Denn hin und Wieder spürte ich seinen brennenden Blick.
Es war wie ein Stich im Nacken.
Natürlich wusste er, dass er dies mir zu verdanken hatte.
»Diese Zeichnung war einfach zu witzig, Austin. Ach' komm schon. Man kann nicht immer nur Austeilen und erwarten, dass nie was zurückkommt,« er schlug ihm auf die Schulter.
Ja, genau. Hör auf Tony, der hat Recht!
Die Jungs konnten so ausgelassen sein, da Mr Bricks gerade den Unterrichtssaal verlassen hatte. Seit mehreren Minuten war er verschwunden und unsere Chemie-Stunde pausiert worden.
»Sorry Jungs,« Austin erhob sich von seinem Platz. Er glitt förmlich durch die Tischreihen, bis er meinen Platz erreichte. Alle Nackenhärchen stellten sich auf, als er geradezu unauffällig flüsterte: »Komm in fünf Minuten vor die Tür... wenn du dich traust.«
Was soll das denn sein? Eine Drohung?
Ich wäre doch ziemlich bescheuert, wenn ich mich auf diese einließ! Aber wohl auch ziemlich bescheuert... wenn ich nur einen Funken Angst zeigen würde, oder?
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