Das Haus zwischen den Welten
Langsam und mit gesenktem Kopf ging ich den Weg entlang. Tropfen prasselten in einem regelmäßigen Rhythmus auf meine Kapuze hinunter. Würde ich den Blick heben, könnte ich den grauen, wolkenverhangenen Himmel sehen. Dafür, dass seit vier Tagen offiziell Frühling war, war das Wetter immer noch ziemlich nass und kalt. Meine Hände tief in die halbwegs warmen Jackentaschen vergraben wich ich einer Pfütze aus und setzte meinen Weg nach Hause fort. Ich kannte diesen Weg in und auswendig, da ich ihn seit Beginn der ersten Klasse jeden Tag zweimal lief, praktischerweise war meine weiterführende Schule nämlich direkt neben meiner Grundschule, also ließ ich meine Gedanken schweifen. Was musste ich machen, sobald ich Zuhause war? Hausaufgaben, natürlich. Selbstverständlich hatte unser Deutschlehrer uns wieder unmenschlich viel von heute auf morgen aufgegeben und die anderen Lehrer die wir morgen haben, haben sich auch nicht gerade zurückgehalten. Und dann wird von einem verlangt, alles ordentlich und gewissenhaft zu machen und zeitgleich auch noch genug Schlaf zu kriegen. Das ist ungefähr so machbar, wie bis morgen früh vier Drachen zu fangen und zu zähmen, aber ok. Vielleicht hatte ja einer der anderen wenigstens irgendwas schon gemacht. Und sonst? Auf jeden Fall die Katze füttern und dann, wenn möglich, auch noch die Küche aufräumen. Wenigstens ist meiner Mutter bisher das Chaos in meinem Zimmer noch nicht aufgefallen, sonst wäre das garantiert auch noch auf meiner To-do-Liste gelandet. Seufzend wich ich einer weiteren, deutlich größeren Pfütze aus und wiederstand dem Drang, mit beiden Füßen hineinzuspringen. Das würde ich spätestens dann bereuen, wenn meine Socken klitschnass und meine neuen Schuhe völlig durchgeweicht wären. Auf einmal stolperte ich. Ich hatte keine Zeit mir darüber Gedanken zu machen, worüber ich gestolpert war, da ich zu sehr damit beschäftigt war, mit den Armen zu rudern, in dem verzweifelten Versuch, mein Gleichgewicht wiederzuerlangen. Letztendlich scheiterte dieses Unterfangen und ich landete Bauch voran auf dem Pflaster. Für ein paar Sekunden blieb ich einfach still liegen. Tat irgendwas weh? War irgendwas kaputt? Lohnte es sich überhaupt, wieder aufzustehen? Was, wenn ich hier einfach liegenbleiben würde? Aber als die Nässe begann, durch meine Hosenbeine an meine Haut zu dringen, machte ich mich daran, mich aufzusetzen. Allerdings kam ich nicht weit. Ich befand mich schon zur Hälfte in knieender Position, als mir etwas kleines, lilanes ins Auge fiel, das am Wegesrand lag. Ich kniete mich vollständig hin, die Nässe ignorierend, und sah es mir genauer an. Es handelte sich um etwas, dass an eine Plastikperle erinnerte, es hatte ungefähr die selbe Größe, war rund, lila und glitzerte, aber irgendetwas war seltsam. Langsam streckte ich die Hand danach aus, in dem Versuch, das Ding aufzuheben und genauer zu untersuchen, vorzugsweise Zuhause, im Trockenen. Aber sobald ich die Kugel berührte, passierten mehrere Dinge gleichzeitig. Der Regen hörte auf, dafür begann alles sich zu drehen und zwar nicht nur im Kreis sondern auch von oben nach unten, wurde immer schneller, bis ich irgendwann die Augen schließen musste und hörte dann urplötzlich wieder auf. Dies kam so unerwartet, dass ich nach hinten umfiel, was an sich nicht schlimm war, da ich ja nicht weit vom Boden entfernt war. Allerdings bestätigte es mir leider, dass das hier real war und sich gerade tatsächlich alles gedreht hatte. Schade eigentlich, es wäre deutlich einfacher gewesen, das ganze auf meinen schulbedingten Schlafmangel zu schieben und es irgendwann zu vergessen. Aber da es so aussah, als wäre das alles durchaus real, musste ich wohl mit dieser Tatsache klarkommen. Langsam öffnete ich meine Augen und sah mich vorsichtig um. Ich befand mich immer noch auf dem Boden, das war doch schonmal etwas. Allerdings hatte sich meine Umgebung komplett verändert. Ich befand mich nun in einem riesigen Zimmer, mit holzgetäfelten Wänden, gemütlichen Holzmöbeln, bestehend aus einem Schreibtisch, einem kleinen Nachttisch, der neben einem großen, gemütlich und weich aussehenden Bett steht, einer altertümlichen Kommode und einem ausladenden Kleiderschrank, einem goldgerahmten, runden Spiegel, der über der Kommode hing, ein paar Bücherregalen, Bildern von Blumenfeldern, die überall an der Wand verteilt gingen und einem Dachfenster. Außerdem schnurrte eine schwarz-weiße Katze, die in der Mitte des Zimmers auf dem Teppich lag, auf dem ich auch gerade saß, friedlich vor sich hin. Langsam stand ich auf und machte vorsichtig ein paar Probeschritte in Richtung Tür. Gut, schien alles noch zu funktionieren. Ein Blick durch die Tür offenbarte einen winzigen Flur mit einer schmalen, ebenfalls hölzernen Treppe, die sich offenbar ins Erdgeschoss hinunterwandt. Von unten wehte ein herrlicher Geruch nach Pfannkuchen und heißem Kakao hinauf. Ohne wirklich darüber nachzudenken, begann ich meinen Weg nach unten. Dort folgte ich einfach meiner Nase, bis ich vor einer hellen Tür stand, auf der 'Küche' stand. Noch bevor ich darüber nachdenken konnte, ob ich vielleicht klopfen sollte, öffnete sich die Tür und eine ältere Dame quietsche erschrocken auf. Instinktiv wich ich ein wenig zurück, doch die Frau tauschte ihren erschrocken Gesichtsausdruck in Sekundenschnelle gegen rin herzliches Lächeln aus. „Oh, wie schön, ich hatte gar nicht mitbekommen, dass neuer Besuch da ist. Komm doch rein, die Pfannkuchen sind gerade fertig“. Ihre Stimme klang irgendwie vertraut und sie wirkte so freundlich und begeistert und dabei so selbstverständlich, dass ich nicht nein sagen konnte. Dementsprechend saß ich dann an einem Freitagnachmittag in der Küche einer wildfremden Frau, die mit ihren kurzen weißen Haaren, ihrer eher kleinen Größe, ihren bunten Kleidern und der runden Brille wie das absolute Klischee einer Oma aussah, umhüllt von dem Geruch von Pfannkuchen und fühlte mich auf eine seltsame Art entspannt, sicher und irgendwie Zuhause. Als die Pfannkuchen fertig waren, stellte die Oma sie mir mit einem Lächeln hin. Sie waren sogar schon mit Zimt & Zucker bestreut. Ich hatte sooo viele Fragen, aber jetzt gerade gingen die Pfannkuchen vor. Nachdem ich drei Stück gegessen hatte, blickte ich auf. Nach ein paar Sekunden hatte ich genug Mut gefunden um die Frage, die schon seit meiner Ankunft hier in meinem Kopf rumschwirrte, zu stellen: „Entschuldigen Sie, wo bin ich hier eigentlich?“ Das brachte die ältere Dame zum Lachen. „Aber Kind, du brauchst mich doch nicht siezen. Und um deine Frage zu beantworten, das hier ist das Notfallseelsorgeheilhaus. Hier kommen alle her, die gerade einfach nicht mehr können und dringend eine Pause brauchen. Das Haus merkt, wann jemand eine Auszeit braucht und sorgt dafür, dass die Person das Portal findet. Während du hier bist, vergeht dort draußen keinerlei Zeit, du kannst dich also vollständig entspannen. Und wenn man das Portal einmal gefunden hat, kann man es jederzeit finden, sobald man dringend eine Pause braucht oder auch einfach der Realität für eine Zeit entfliehen möchte.“ Vor staunen stand mir der Mund offen. Ich erinnerte mich, dass mein Rucksack oben stand, das hieß also, dass man Dinge mit in diese Welt nehmen konnte. Und das wiederum hieß, dass ich nie wieder Stress wegen Hausaufgaben haben würde! Ein Lächeln breitete sich über mein ganzes Gesicht aus. Ich bedankte mich mehrfach, räumte den Teller weg und ging wieder nach oben, wo ich mir ein Buch schnappte und mich auf das Bett warf, was tatsächlich so gemütlich war, wie es aussah. Nach ein paar Seiten gesellte sich die Katze zu mir. Seit diesem Tag komme ich oft in das Haus zwischen den Welten. Manchmal begegne ich dort anderen, die eine Pause benötigen. Aus irgendeinem Grund gibt es immer genau die richtige Anzahl Zimmer. Warum, weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass ich unendlich froh bin, das Portal gefunden zu haben und dass ich mir ein Leben ohne dieses Haus nicht mehr vorstellen kann oder will.
1243 Wörter
Abgabe: 14:57 Uhr (hatte mich mit Schule etwas verplant)
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