107. Im Zwiespalt
Adrian P.O.V.
„Du kannst weder ihr helfen noch das Kartell führen, wenn du nicht ehrlich zu dir selbst bist.", sagt Hunter ernst.
Ich schweige, lasse die Worte in der Luft hängen, als ob sie sich von selbst auflösen könnten. Doch das tun sie nicht. Sie bleiben zwischen uns und ich merke, dass selbst meine hartnäckigste Leugnung daran nichts ändert. Hunter sieht mich weiterhin ruhig an, sein Blick fest und unnachgiebig, als wüsste er, dass ich diesen Kampf in mir längst verloren habe.
Nach einer Weile bricht er die Stille. „Adrian," sagt er schließlich, und in seiner Stimme liegt eine sanfte, aber entschlossene Schärfe. „Es gibt einiges an Arbeit zu erledigen..."
Ich schaue ihn an, blinzele, wie aus einem Traum gerissen, als die nüchterne Realität in seinen Worten mich trifft. Die drückende Schwere meiner Verantwortung lastet auf mir wie eine Last, die ich nicht abschütteln kann. Ich spüre, wie sich die Fassade wieder über mein Gesicht legt, das Schutzschild aus kalter Effizienz, hinter dem ich mich verstecke – doch es fühlt sich an, als würde es jeden Moment zerbrechen. Ein Teil von mir will sich einfach nur umdrehen und zu Avery gehen. Aber das Kartell... das verdammte Kartell zieht unaufhörlich an mir, fordert von mir, verlangt meine Aufmerksamkeit und lässt mich keinen Moment für mich selbst oder für sie.
„Ja, verdammt..." murmle ich, versuche, meine Gedanken zu sammeln und die Fassung zurückzugewinnen. „Ich werde mich drum kümmern. Aber trotzdem hat Avery Priorität. Valentina und du müsst bitte einfach etwas mehr Arbeit übernehmen die nächsten Tage..."
Hunter sieht mich ernst an, sein Blick drängt mich, die Verantwortung nicht einfach abzugeben. „Ich habe schon Mühe, die Fassade mit den Clubs aufrechtzuerhalten... die Safes sind bewacht, die Clubs abgesperrt, aber wir brauchen neue Anweisungen. Es ist nur mehr eine Frage der Zeit bis das Kartell mitbekommt dass da etwas läuft. Dann braucht Mattheo gar nicht mal an die Safes rankommen, denn dann sind wir sowieso tot. Du bist der Boss. Das können nicht wir entscheiden."
Ich balle die Fäuste, mein Körper spannt sich an, und ich spüre, wie mein Kopf schwer wird, der Druck fast zu viel. „Ja, verdammt, ich weiß..." Ich greife mir angespannt an die Stirn, als ob ich den Schmerz, die Anspannung, einfach wegwischen könnte. „Fürs Erste behaltet alles so bei. Wenn du den Schutz aufhebst, werden Mattheos Komplizen vermutlich sofort angreifen. Ich kann im Moment keine weiteren Risiken eingehen..."
„Aber wie lange kö–" beginnt Hunter.
„Ich weiß es nicht!" Ich fahre ihn an, die Worte schärfer, lauter, als ich wollte. Ich spüre, wie die Fassade in diesem Moment fast zerbricht. „Ich weiß nicht, wie lange noch, verdammt... ich überlege mir etwas."
Die Worte klingen hohl, als ob sie nichts weiter als ein halbherziges Versprechen wären, das ich mir selbst mache, um irgendwie weiterzumachen. Doch innerlich weiß ich, dass ich immer wieder in diesem Zwiespalt gefangen bin – zwischen dem, was das Kartell von mir verlangt, und dem Drang mich um Avery zu kümmern, ganz egal, was ich dafür aufgeben muss.
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12:05 Uhr
Ich sitze vor Averys Zimmertür auf dem Boden, den Laptop auf den Knien, die Augen auf den Bildschirm gerichtet, aber meine Gedanken sind unruhig. Ich versuche mich wirklich auf die Arbeit zu konzentrieren, Geschäftspartnern rechtzeitig zu antworten damit niemand Verdacht schöpft, aber es ist fast unmöglich wenn meine Gedanken nur um Avery kreisen.
Plötzlich höre ich Schritte auf der Treppe, und als ich den Kopf hebe, sehe ich Martha, die ein Tablett mit dem Mittagessen in den Händen hält. Ich klappe sofort den Laptop zu und stelle ihn zur Seite.
„Mr. Sanchez," sagt sie leise, ihre Stimme voller Mitgefühl, als sie mich dort sitzen sieht. „Ich wollte Ms. Smith das Essen bringen."
Ich schüttle den Kopf und stehe auf, gehe zu ihr, um das Tablett entgegenzunehmen. „Ich übernehme das, Martha. Danke."
Sie mustert mich kurz, ihre Augen ruhen prüfend auf meinem Gesicht, als wolle sie mehr in mir lesen, als ich zugeben möchte. Doch sie sagt nichts, nur ein leichtes Nicken, und übergibt mir das Tablett.
„In Ordnung," murmelt sie. „Rufen Sie mich, wenn Sie etwas brauchen."
Ich sehe ihr nach, wie sie die Treppe wieder hinuntergeht, bevor ich mich umdrehe, das Tablett in der Hand, und tief durchatme, um die Gedanken zu ordnen. Dann klopfe ich vorsichtig an Averys Tür.
Einen Moment herrscht Stille. „Avery...ich bins..", sage ich leise.
Nur kurz darauf öffnet Avery die Tür einen Spalt. Für einen Moment sehe ich die leichte Angst in ihren Augen.
„Darf ich reinkommen?", frage ich sanft. Auf ihrem Gesicht bildet sich ein leichtes Lächeln, dann nickt sie.
Ich gehe vorsichtig ins Zimmer, Richtung Nachtkästchen, um das Tablett abzustellen, doch dann stocke ich. Das Frühstück, das Martha ihr am Morgen gebracht hat, steht noch unberührt da – die Tasse mit kaltem Tee, der Teller mit dem Brötchen, das sie nicht einmal angerührt hat.
Ich spüre, wie sich ein Knoten in meiner Brust bildet. Ein Gedanke drängt sich auf, den ich lieber verdrängen würde, doch er lässt mir keine Ruhe: Wie lange hat sie eigentlich nichts mehr gegessen?
Ich beginne, in meinem Kopf die letzten Tage durchzugehen, versuche mich daran zu erinnern, wann ich sie das letzte Mal wirklich habe essen sehen. Ein flaues Gefühl breitet sich in meinem Magen aus, als mir klar wird, dass ich es nicht weiß. Die Sorge um sie wird noch drückender, und für einen Moment stehe ich einfach da.
Ich überlege, ob ich etwas sagen soll, doch ich entscheide mich dagegen. Ich denke nicht, dass das eine guter Weg ist um an die Sache ranzugehen.
Stattdessen stelle ich das Tablett einfach auf der Kommode neben der Tür ab. Ich bleibe einen Moment stehen, sehe sie an während sie sich auf den Rand des Bettes setzt. Ihre Augen mustern mich.
„Ich lasse dich jetzt wieder allein, okay? Wenn du was brauchst..." Die Worte kommen stockend, weil ich nicht wirklich weiß, was ich ihr noch sagen soll, außer dass ich für sie da bin.
Gerade als ich mich umdrehen will um zu gehen, höre ich sie leise meinen Namen sagen. „Adrian.."
Ich bleibe stehen, die Hand bereits auf der Türklinke, drehe mich langsam zu ihr um. Sie sieht mich nicht direkt an, ihre Augen wandern nervös zur Seite, und ich kann die Anspannung in ihren Schultern sehen, die zögerliche Art, wie sie die Worte formt.
„Möchtest du... vielleicht ein bisschen hier bleiben?" Ihre Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern, als würde ihr diese Frage unangenehm sein, als hätte sie lange überlegt, ob sie sie überhaupt stellen soll.
Mir wird sofort warm ums Herz, und ich spüre, wie ein Lächeln über mein Gesicht huscht. Ich nicke langsam. „Natürlich bleibe ich..." sage ich.
Ich sehe, wie sie nervös die Hände ineinander verschränkt und sich leicht auf die Lippe beißt. Die Anspannung in ihren Schultern ist unverkennbar, und ich möchte alles tun, um diesen Ausdruck von ihrem Gesicht verschwinden zu lassen.
„Ist es okay, wenn ich mich auf die Couch setze?" frage ich sanft, und sie blickt kurz auf, bevor sie leicht nickt.
„Ja, natürlich.", sagt sie leise.
Langsam gehe ich zur Couch und lasse mich nieder, versuche, möglichst entspannt zu wirken und keine hektischen Bewegungen zu machen. Sie rutscht bis zur Kopfseite des Bettes, zieht die Beine an und umschlingt sie mit den Armen, als würde sie sich selbst schützen wollen.
Mein Blick wandert zu Zeus, der es sich am Fußende ihres Bettes gemütlich gemacht hat und uns mit treuen Augen beobachtet.
„Zeus scheint sich hier oben bei dir wirklich wohlzufühlen," sage ich schließlich mit einem kleinen Schmunzeln. „Ich glaube, er findet es bei dir gemütlicher als irgendwo sonst im Haus."
Avery blickt kurz zu Zeus. Ein winziges Lächeln erscheint auf ihren Lippen, und ich sehe, wie ein Hauch von Wärme in ihren Augen aufblitzt.
„Weißt du, als du mich heute bei unserem Spaziergang gefragt hast was mein Traumberuf wäre..." beginne ich und lehne mich entspannt zurück, ein kleines Lächeln auf den Lippen. „...das hat mich zum nachdenken gebracht. Und dann fiel mir ein was als Kind immer mein Traumberuf war.."
Sie sieht mich neugierig an, und ich merke, wie die Anspannung für einen Moment nachlässt.
„Als Kind...war ich fest davon überzeugt dass ich Pirat werde."
Sie blinzelt überrascht, und ein kurzes Lachen entkommt ihr. Sie hält sich schnell ihre Hand vor den Mund und sieht mich grinsend an. „Tut mir leid...ich wollte nicht lachen."
„Machst du dich etwa lustig über meinen Traumberuf?", sage ich und greife mir theatralisch auf die Brust, als hätten mich die Worte tief getroffen, während sie ihren Zweck, sie zum Lächeln zu bringen, erfüllt haben.
Sofort schüttelt sie hektisch den Kopf.
„Nein...gar nicht...", sagt sie, man sieht ihr an dass sie angestrengt das Lachen unterdrückt. „Erzähl weiter. Pirat also, hm?"
„Ja. Pirat," fahre ich fort und setze eine dramatische Miene auf. „Ich hab als Kind stundenlang im Garten ‚Schätze' vergraben, alte Spielsachen und Münzen, die ich im Haus zusammengesucht hatte. Meine Mutter und mein Vater waren nicht gerade begeistert, als ich die teuren Silberlöffel des Hauses im Garten vergraben habe und nicht mehr gefunden habe."
Avery lacht leise, das erste echte Lachen, das ich seit Tagen von ihr höre, und es erfüllt den Raum mit einer Wärme, die auch mich erfasst.
„Also ja...Irgendwo da draußen gibt es noch eine halbe Silberbesteck-Sammlung meiner Eltern, die vergraben ist und darauf wartet, dass jemand sie findet."
Sie schüttelt lachend den Kopf, und ich merke, wie ihre Schultern sich ein wenig entspannen. Die Atmosphäre wird ruhiger, und ich spüre, dass sie sich ein wenig öffnet, selbst wenn die Worte unausgesprochen bleiben. Ihr Blick ist entspannter, fast schon müde, weshalb ich mich entschließe einfach weiter zu sprechen.
„Naja und wenn ich als Kind nicht gerade das Silberbesteck meiner Eltern vergraben habe, habe ich viel Zeit bei meinen Großeltern verbracht.."
„Die in Kolumbien?", hakt sie nach. Sie löst ihre Arme die sie um ihre Beine geschlungen hat und lehnt sich bequem seitlich in die Kissen auf ihrem Bett.
„Ja..", sage ich und nicke. „Obwohl sie zehn Stunden Flugzeit entfernt gewohnt haben, waren wir relativ oft dort. Mein Vater hatte immer wieder berufliche Termine in Kolumbien."
Avery sieht mich gebannt an, weshalb ich weiterspreche.
„Sie haben wirklich einfach gelebt. Leben sie immer noch. Sie haben ein kleines Haus auf dem Land, keine teuren Möbel, nichts. Nur die Natur, die Tiere und ein kleines Feld. Meine Großmutter hat mir immer erzählt, dass das einfache Leben das Herz ruhig hält."
Avery blickt mich an, die Müdigkeit tief in ihrem Gesicht zu sehen. Doch sie lächelt, und ich spüre, wie sie sich immer weiter in die Kissen sinken lässt, fast so, als könnte sie sich in meinen Worten verlieren.
„Ich war ständig draußen, wenn wir bei ihnen waren..." fahre ich fort, ohne große Pausen, weil ich merke, dass meine Stimme sie beruhigt. „Mein Großvater hat mich mit aufs Feld genommen. Für ihn war es Alltag, aber für mich war es ein Abenteuer. Ich saß auf den Kühen, als wären es Pferde, während er sich kaputtlachte und rief, ich solle bloß nicht runterfallen."
Avery schmunzelt leicht, ihr Kopf sinkt tiefer ins Kissen. Es wirkt fast, als würde die Erinnerung an meine Kindheit sie auch für einen Moment in eine andere Welt entführen. Weg von dem Schmerz und der Angst die sie hier verfolgen.
„Abends haben wir oft am Küchentisch gesessen, meine Großmutter hat gekocht, immer das gleiche einfache Essen, aber es hat mir besser geschmeckt als alles, was ich je in irgendeinem Luxusrestaurant bekommen habe," sage ich, die Worte ruhiger und langsamer. Ich merke, wie Averys Kopf zur Seite sinkt, ihre Augen sich schwer schließen, nur ab und zu blinzelt sie noch, wie im Halbschlaf.
„Mein Großvater hat mir beigebracht, wie man eine Kuh melkt, das habe ich nie besonders gut hinbekommen, und trotzdem hat er es mich jedes Mal machen lassen..."
Ich bemerke, dass sie jetzt fast vollkommen ruhig atmet, die Worte verhallen in der Stille des Raumes. Die Anspannung in ihrem Gesicht hat sich gelöst.
„Die Zeit bei meinen Großeltern war immer wie Urlaub für mich. Es gab dort nicht viel, aber gleichzeitig war dort alles was ich brauchte.."
Ich sehe sie für einen Moment einfach nur an, verliere mich in diesem Anblick etwas.
„Irgendwann werde ich dir dort alles zeigen...", flüstere ich, mehr zu mir als zu ihr.
Ich werfe einen letzten Blick auf Avery, die jetzt tief und gleichmäßig atmet, als hätte sie den Schlaf gefunden, den sie schon so lange brauchte. Das letzte, was ich jetzt tun möchte, ist, sie daraus zu reißen.
Also lehne ich mich zurück, beschließe, hier zu bleiben, so lange, wie sie es braucht. Solange, bis sie wieder wach ist – und solange, bis ich sicher bin, dass sie den Schlaf bekommen hat, den sie verdient.
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