Die Sackgasse
Nein! Nicht jetzt!
Sayo war noch nicht zurück! Gerade, wenn ich sie am meisten brauchte. Unsanft wurde ich durch die Gänge gezerrt, ohne dass irgendjemand auch nur Anstalten machte, meine Fesseln etwas zu lockern, sodass ich selbst gehen konnte. Die beiden Imperialen, die mich mit sich führten, würdigten mich keines Blickes, redeten nicht mal untereinander. Die gesichtslosen Metallmasken, die die Züge der beiden bedeckten, ließen sie noch viel kälter und undurchschaubarer wirken. Zu versuchen ein Gespräch anzufangen, um die beiden abzulenken und so Zeit zu schinden, wäre bestimmt wirkungslos. Wir blieben vor einer großen Metalltür stehen. Einer der Beiden zog den Schlüssel heraus, während der andere sich ohne ein Wort von uns entfernte. Die Tür schwang laut quietschend auf und ich wurde unsanft in den Raum geschoben. Das Zimmer war klein und spärlich durch Lampions an der Seite beleuchtet, was in Kombination mit dem dunklen Metall der Wände eine unbehagliche Atmosphäre schuf. In der Mitte stand ein Stuhl aus Metall, der fest am Boden verankert schien. Sowohl an der Rückenlehne, als auch an der Kopfstütze und den Stuhlbeinen waren Riemen angebracht. Mir war klar, dass dieser, nicht sehr bequem wirkende Stuhl wohl für mich bestimmt war. Der ganze Raum schrie regelrecht: "Gehirnwäsche". Jetzt war ich also in einer Sackgasse angelangt und wusste nicht mehr weiter. Meine einzige Hoffnung hier wieder rauszukommen war Sayo. Vielleicht hatte sie etwas herausgefunden. Aber es war nirgends eine Spur von ihr zu erkennen, geschweige denn zu fühlen. Wenn das so weiterging, würde wohl mein Hirn zu imperialem Matsch verarbeitet werden. Würde ich dann überhaupt noch meinen Namen wissen? Wäre es dann noch von Bedeutung meinen Namen zu wissen?
Hinter mir fiel die Tür ins Schloss, was mich heftig zusammenzucken ließ. Mir war klar: jetzt war abgeschottet ich von Sayo. Kurz gesagt, ich war geliefert. Langsam fühlte ich, wie Panik in mir aufstieg und die Überhand über meinen Körper übernahm. Mir war auf einmal so kalt. Verzweifelt versuchte ich meine Hände vom Zittern abzuhalten. Der Imperiale ergriff gewaltsam meine Schulter, drückte mich fest in den Stuhl und zog die Gurte so fest zu, dass sie in meine Haut einschnitten. Weder meinen Kopf, noch meine Arme und Beine konnte ich nunmehr bewegen. Es gab kein Zurück mehr, ich saß in einer katastrophalen Sackgasse. Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, wie der Imperiale seine Maske abnahm. Darunter kam das Gesicht eines Mädchens zum Vorschein, vielleicht ein wenig älter als ich - wenn überhaupt. Sie hatte riesige Augenringe, als hätte sie nächtelang wach gelegen, und ihr Blick war so kalt, dass er mir meine noch verbleibende Hoffnung nahm. Kalt von all dem, was sich hier Tag für Tag zutrug, kalt von dem, was sie selbst den Leuten hier antat. Ich merkte, dass es sie nicht im Geringsten scherte, was mit mir oder auch den ganzen anderen Gefangenen hier passierte.
Kein Mitleid, keine Reue, kein Erbarmen.
"Mika!", schlich sich eine vertraute in mein Gehirn. Sayo! Wie? Wo? Die Tür war doch zu! Ein vertrauter Luftzug umgab mich. Sie war hier. Eine ungeheure Erleichterung erfüllte mich, als wäre mir eine riesige Last von den Schultern genommen.
"Ach Mann! Da verschließen die Imperialen Schweine die Tür! Denken die, es wäre spaßig sich durch kleine Luftspalten zu zwängen? Hab erstmal einen Schreck bekommen, als ich zurückgekommen bin und du nicht mehr in deiner Zelle warst! Bin dann deiner Spur bis hierher gefolgt, dachte, ich wäre vielleicht zu spät. Aber ich bin, wie's aussieht, gerade rechtzeitig."
So hatte sie mich also gefunden. Mit einem Mal fühlte ich mich sicherer. Wenigstens waren wir jetzt zu zweit hier. So musste ich zumindest nicht alleine meine Menschlichkeit verlieren.
Die Imperiale hatte sich inzwischen mir gegenübergestellt und fixierte mich mit ihren Augen. Irgendetwas an der Art, wie sie das machte, verhinderte, dass ich wegschauen konnte. Ich war in dem eisigen Blick gefangen.
"Nicht, Mika! Schau ihr nicht in die Augen!"
Als ob ich das nicht wissen würde. Aber ich konnte mich unmöglich losreißen, wie erstarrt ließen sich meine Augen keinen Millimeter bewegen.
"Geht nicht, was...?" Sayos Stimme klang besorgter als zuvor.
"Na gut, Mika. Was ich jetzt machen werde, mache ich total ungern, weil es eigentlich gegen meine Ideale und meine Würde ist. Doch vielleicht..."
Ein ungeheurer Druck erfüllte auf einmal meinen Kopf, als drohe er jeden Moment zu bersten. Dann wurde meine Umgebung in ein tiefes, kontrastloses Schwarz getaucht und langsam, ganz langsam verstummten die Geräusche des Gefängnisses komplett... Ich fiel in eine gähnende Leere.
...
Eine sanfte Brise wehte durch meine Haare und ich spürte das Gras unter meinen Händen und wie es meinen Nacken kitzelte. Schnell schlug ich die Augen auf und blickte in einen Himmel, wie ich ihn noch nie zuvor gesehen habe. Über mir sah ich die Sterne und, als würde die Sonne überall gleichzeitig untergehen, ging der Himmel von einem sternenbedeckten Nachtblau in ein helleres Blau und schließlich in rot-orangene Töne über, den ganzen Horizont entlang. Es sah fantastisch aus. Ich lag auf einer großen Wiese, in der Mitte eines Kreises aus Bäumen, durch deren Blätter die Strahlen des kuriosen Abendhimmels drangen. Wenn das Gehirnwäsche war, könnte ich mich dran gewöhnen...
"Hallo?", schrie ich unsicher, "Kann mir jemand sagen, wo ich hier bin?".
"Du bist in einer Art Zwischenwelt. Das hier ist das, was passiert, wenn deine und meine Traumwelt zusammengeschmissen werden...", meldete sich eine bekannte Stimme neben mir. Ich fuhr herum und da saß Sayo und schaute zum Horizont, in dieselbe Richtung, in die ich vor einer Sekunde noch geschaut hatte. Wieso hatte ich sie nicht bemerkt?
"Also ist das hier keine Gehirnwäsche...", meinte ich verlegen.
"Nein, ist es nicht."
Sayo musste kichern.
"Hätte ich mir eigentlich denken können. Es ist viel zu schön"
Ich lächelte zu Sayo hinüber, doch diese schaute mich ernst an.
"... Nur schade, dass gerade die schönen Sachen so gefährlich sein können", flüsterte sie betrübt, "Diese Welt ist eine, in der man sich verlieren kann. Sie erzählt die subjektive Wahrheit, spiegelt die glücklichsten, aber auch die schrecklichsten Erinnerungen derer, die in ihr gefangen sind hundertfach wieder. Man kann damit alles über den andere und auch über sich selbst erfahren, wenn man nur lange genug drinnen bleibt. Aber dann läuft man Gefahr, sich selbst zu verlieren, in Glück und Schmerz. Ich kenne Leute, die so zugrunde gegangen sind... Die Wahrheit ist eben nicht immer das Angenehmste.".
"Warum hast du mich dann hierhergebracht?", fragte ich verwirrt.
"Weil es die einzige Möglichkeit war, dich vor der Gehirnwäsche zu schützen. Dieser Zustand bedeutet vollkommene geistige Abwesenheit. Hier kann einen nichts von außen stören. Du könntest sterben und würdest es nicht mal merken. Ich hab viel Gesehen, in dem Gefängnis hier. Mit dieser Gehirnwäsche ist nicht zu spaßen! Den Leuten werden jegliche Erinnerungen entzogen, bis sie zum Schluss nur noch leere Hüllen sind, die dann nach draußen gebracht werden, um mit neuen Idealen gefüllt zu werden. Die Leute, die hierher gebracht werden, sind hier, um Kampfmarionetten der Imperialen Schweine zu werden."
Sie stockte und wir schwiegen uns an.
Zwischen den Bäumen sah ich einen großen Fuchs, der hinter etwas herzujagen schien. Sein Fell bestand aus roten Ahornblättern, die raschelten, als er sich bewegte. Mitten im Lauf fiel etwas neben ihm auf den Boden. Ich erschauderte, als ich merkte, was es war: sein Auge. Er drehte sich auf der Stelle um, schnupperte daran und nahm es vorsichtig in den Mund. Dann schluckte er es hinunter. Erschrocken sog ich die Luft ein, was ihn zu mir herüberschauen ließ. Wenige Sekunden darauf ploppte das Auge wieder in der leeren Augenhöhle auf. Der Fuchs musterte uns noch kurz, dann verschwand er hinter einem der Bäume.
Einige Minuten starrte ich noch auf die Stelle, an der er verschwunden war und fragte Sayo schließlich: "Wer war das?". Sie antwortete nicht, aber ihr Blick sagte alles. Sie wollte definitiv nicht darüber reden. Das machte mich nur noch neugieriger, aber ich wusste genau, dass aus Sayo nichts rauszubringen war, egal wie sehr man auch nachhakte.
Mein Blick schweifte über die Landschaft. Das hier war also eine Welt, die sich aus Sayos und meinem Unterbewusstsein zusammensetzte. Wenn ich hier aus dem Baumkreis herausginge, könnte ich also alles über Sayo und mich erfahren, auch über den Fuchs von vorhin. Antworten... das war so verlockend! Vielleicht gab es hier drin ja auch irgendwo die Lösung auf die Frage, warum ich auf einmal bändigen konnte. Oder vielleicht könnte ich die ganzen Details zu den Abenteuern sehen, von denen mir Sayo immer erzählt hatte. Hinter mir knackste etwas und ich drehte mich um. Da stand ein kleines Mädchen an einen Baum gelehnt mit dem Rücken zu uns und schaute in den Himmel, als würde sie auf etwas warten. Sie war wahrscheinlich etwas jünger als ich und trug rote Feuerbändigerkleider. Sie rief etwas unverständliches in die Luft, es klang mehr wie ein Name, und dann sah ich, wie im Himmel ein prächtiger Vogel auftauchte. Sein Gefieder leuchtete in warmen Rot- und Gelbtönen und sein Schrei war anmutig. Ein kleiner Phönix. Er flog auf das Mädchen zu und fing an, es wild zu umkreisen, womit er dieses zum Lachen brachte. Sie drehte sich um ihre eigene Achse und ließ den Phönix dabei um sich tanzen. Dann bemerkte sie in der Drehung meinen Blick und erstarrte.
"Wer ist das?", fragte ich Sayo, ohne den Blick von dem Mädchen zu wenden.
"Niemand den ich je kennengelernt habe", meinte Sayo nach kurzem Überlegen, "sie muss wohl-". Sie unterbrach sich selbst, als wäre ihr etwas klar geworden, etwas eingefallen. Das Mädchen musterte uns von oben bis unten, dann schien ein Lächeln über ihr Gesicht zu huschen, sie machte auf dem Absatz kehrt und rannte davon, lachend, dicht gefolgt von dem Phönix. Gerade wollte ich aufstehen und ihr hinterherlaufen, da erhob Sayo die Stimme: "Tu es nicht. Ihr nachzugehen ist gefährlich! Du würdest dich verlaufen, verlieren! Wahrheit ist immer verlockend... auch wenn sie manchmal nicht das Angenehmste sein kann. Selbst für mich gibt es so viele Ungewissheiten, auf die ich hier eine Antwort finden könnte. Am liebsten würde ich auch einfach diese Welt und all ihr Wissen auf mich wirken lassen, aber es geht nicht...". Sie hielt kurz inne und fuhr dann fort: "Außerdem müssen wir hier schon fast wieder raus. Du musst wissen, hier verfliegt die Zeit regelrecht, die Gehirnwäsche müsste also schon fast wieder vorbei sein. Damit alles klappt... Tu so, als wärst du hohl im Gehirn, das dürfte überzeugend sein!". Ich schaute sie mit großen Augen an.
"Und dann?", fragte ich.
"Der Rest ergibt sich von selbst. Ich werde jetzt die Verbindung kappen, OK? Bereit?"
Das sagte sie zwar, gab mir aber nicht mal die Zeit zu antworten. Meine Sinne schalteten sich wieder ab und mit einem Mal saß ich wieder in dem Gurtstuhl.
Meine Augen brannten höllisch, ich schien sie wohl die ganze Zeit aufgehalten zu haben. Zwanghaft versuchte ich nicht gleich wie verrückt zu blinzeln, sondern nur gelegentlich. Schließlich wollte ich ja nicht gleich meine Tarnung verlieren. Vor mir hatte die Frau wieder ihre Maske aufgesetzt und machte sich an meinen Gurten zu schaffen. Es war ein tolles Gefühl, wie die Schnallen sich lockerten. Anschließend beobachtete sie mich eindringlich. Meine ganze Konzentration lag darauf, meinen eigenen kalten Blick zu bewahren. Erschwert wurde das Ganze durch den plötzlichen Drang zu niesen, den ich mit aller Kraft zurückhielt. Dann, sie nickte kurz zufrieden, begann sie in ihrer Tasche herumzukramen und holte einen Schlüsselbund hervor. Sie begann meine Fesseln aufzuschließen. Ich konnte mein Glück kaum fassen, der Plan schien soweit aufzugehen. Anscheinend gab ich eine überzeugende hohle Birne ab (...darüber könnte und würde ich mir später Gedanken machen müssen).
"Steh auf!", befahl mir die Frau, als sie fertig war. Sie konnte ja doch sprechen, welch ein Wunder. Ich stand so emotionslos wie möglich auf drehte mich in ihre Richtung. Die Frau begann im Schrank neben sich herumzuwühlen. Sie schien etwas zu suchen. Mein Blick richtete sich aber auf etwas ganz anderes, was in der Ecke des blechernen Kastens untergebracht war. Mein Gleiter! Um den Stab gehängt, baumelte mein Beutel. Meine ganze Konzentration war auf meinen neuen Fund gerichtet. Ich brauchte ihn! Nur wie? Mir war klar, jetzt war die Zeit zu Handeln.
"Folge mir!", kommandierte die Frau mich wieder rum. Konnte sie haben! Gerade wollte sie die Tür öffnen, da legte ich ihr schnell die Hand über den Mund und schlug sie mit der Handkante zum Nacken vorübergehend bewusstlos. Ich schickte ein kurzes Dankgebet an meinen Meister. Was ich ohne dieser Techniken wohl täte...? Aber ich musste schnell handeln, bevor sie wieder zu sich kam. Sich ihre Imperiale Ausrüstung zu borgen war sicher nützlich. Also zog ich diese über meine Luftbändigerkluft. Die Maske war noch unbequemer als gedacht und so fragte ich mich, wie die maskierten Imperialen es die ganze Zeit mit ihr aushielten. Der Schlüsselbund war das Herzstück meines Ausbruchplans, ohne ihn ginge nichts.
Nachdem ich mich in eine überzeugende Imperiale verwandelt hatte, nahm ich die Fesseln und legte sie der Frau an, nur für den Fall, dass sie aufwachte. Ich suchte den Schrank nach etwas ab, das sie davon abhalten würde um Hilfe zu schreien, aber da waren größtenteils nur persönliche Gegenstände anderer Gefangener. Als ich dort also nichts fand, riss ich ein Stück des Hosenbeins der Frau ab und Band es um ihren Mund.
"Leg sie in den Schrank, falls jemand reinkommt...", schlug Sayo vor.
Mit Mühe und Not passte die Frau noch in den Schrank. Schnell nahm ich noch meinen Stab und Beutel heraus, schloss dann ab und stellte mich vor die Ausgangstür, wobei ich mich schon mal mental auf meinen großen Auftritt als Imperiale vorbereitete.
"Sayo, wenn ich da draußen bin, musst du mir immer Bescheid geben, ob die Luft rein ist, verstanden?"
Sie musterte mich skeptisch: "Was hast du vor? ... Doch nicht etwa?". Sie schien ganz und gar nicht damit einverstanden, aber das konnte mich jetzt nicht mehr von meinem Plan abbringen.
"Ja! Wir werden sie befreien!"
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