Die Lüge
Was sollte ich tun? Was tat man überhaupt in so einer Situation?? Mein Herz hämmerte wild gegen meine Rippen und ich musste stark gegen meine Beine ankämpfen, die den Drang verspürten loszurennen. Mein Hirn lief auf Hochtouren. Irgendetwas? Die anderen waren zu weit vorne, wenn ich jetzt zu ihnen gehen würde, um sie zu warnen, würden die Verfolger die Chance nutzen und auf aus einfallen. Ich musste sie überrumpeln, das war die einzige Möglichkeit...
"Zeigt euch!", schrie ich so laut, dass es gerade noch selbstbewusst klang. Zum Glück verstanden Jun und Zena sofort, was los war und nahmen Kampfstellung ein. Die Reaktion unserer Verfolger ließ nicht lang auf sich warten. Die Gegner waren überall um uns herum. Sieben an der Zahl. Fünf bei Zena und Jun, zwei bei mir. Mit so vielen hatte ich nicht gerechnet. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass der Kampf bei Jun und Zena wohl schon begonnen hatte. Langsam drehte ich mich zu meinen eigenen Gegnern. Der eine hielt ein Messer in der Hand und war kampfbereit. Der zweite hatte keine Waffe, anhand der Kampfhaltung konnte ich jedoch erkennen, dass er wohl ein Erdbändiger war, auch wenn er etwas unsicher wirkte. Beide schienen darauf zu warten, dass ich den ersten Schritt tat. Den Gefallen würde ich ihnen nicht tun.
"Wenn ihr Geld von mit wollt, bedaure, dann muss ich euch wohl enttäuschen..." , fing ich provozierend an und grinste breit. Der Bewaffnete festigte den Griff um seine Waffe und lief auf mich zu. Ich packte seine Hand und verdrehte diese, sodass er sich nach vorne beugen musste und das Messer mit einem dumpfen Prall auf den Waldboden aufschlug. Die günstige Situation nutzte ich gleich, um ihm mit meinem Knie einen kräftigen Tritt in seinen Solarplexus zu verpassen. Blieb nur noch ein Gegner, der mich gerade verwirrt anstarrte.
"Was?", fragte ich. Das schien ihn aus seiner Schockstarre zu befreien. Er spannte sich an, stampfte einen Brocken Waldhummus aus dem Boden und schoss ihn in meine Richtung. Das Ausweichen war kein Problem. Nach jahrelangem Training hatte mein Meister mir die besten Techniken dazu gelernt. Von der Prognose von Körperbewegungen durch Muster bis hin zum alleinigen erfühlen sich nähernder Körper durch minimale Veränderungen in der Umgebung. Auch wenn ich noch lange nicht so fähig war mich selbst einen Meister auf dem Gebiet zu nennen, konnte sich das Trainingsergebnis durchaus sehen lassen. Die Leichtigkeit in der Bewegung überraschte mich selbst. Es fühlte sich anders an als sonst. Mein ganzer Körper schien leichter, die Bewegungen flüssiger. Das war mein erster Kampf gegen jemanden, der mir nicht friedlich gesinnt war (auch wenn Meister manchmal recht gruselig sein konnte), und doch entspannte mich diese dazugewonnene Leichtigkeit.
Ich griff nach dem Stab meines Vaters und löste ihn von meinem Rücken, dann rannte ich auf den Angreifer zu. Eine Wahl hatte ich nicht, mein Gegner war ein Erdbändiger und würde sicher auf Distanz bleiben. Ohne eine geeignete Fernkampfwaffe blieb mir nichts anderes übrig, als den Gegner in den Nahkampf zu zwingen. Inzwischen kam schon der zweite Felsbrocken auf mich zu. Ich wich aus, verlangsamte das Tempo aber nicht. Zum Glück schien mein Gegenüber nicht sehr erfahren im Nahkampf, er schien Panik zu schieben und konnte nicht schnell genug kontern. Ich zielte mit dem Stab auf seine Schienbeine und zog ihm so den Boden unter den Füßen weg. Gerade wollte ich ihn am Boden sichern, als ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Ich handelte aus Instinkt heraus, mein Verstand hätte so etwas nie zugelassen. Ruckartig fuhr ich herum und führte mit meiner Hand eine abweisende Wischbewegung durch. Mein neuer Gegner flog zurück. Weit zurück. Aber etwas stimmte nicht. Wie...? Ich hätte schwören können, ich hatte ihn nicht einmal berührt. Aber das war unmöglich, oder? Also wie? Ich starrte fassungslos auf meine Hand.
"Mika!"
Der Warnschrei von Sayo brachte mich zurück in die Realität. Der Erdbändiger, den ich vorhin zu Boden gebracht hatte, war wieder zu sich gekommen und ein Felsbrocken raste auf mich zu. Immer noch leicht benommen wich ich etwas verzögert aus und der Brocken streifte meine Wange, gefolgt von einem stechenden Schmerz. Verdammt! Das Blut lief an meinem Kinn entlang. Ich war unvorsichtig gewesen, das durfte ich mir nicht erlauben. Mein Gegner stieß einen schmerzverzerrten Schrei aus. Sayo hatte sich fest in seinem Bein verbissen. Verzweifelt versuchte er sie abzuschütteln. Diese Chance musste ich nutzen, es hieß jetzt oder nie. Ich brauchte einfach Gewissheit. Ich atmete tief ein und aus und begann dann meine Hände in Richtung Gegner an meinem Körper vorbeizuführen. Erst langsam, dann schneller und ich endete in einer Stoßbewegung ins Nichts etwa zehn Zentimeter vor der Brust des Erdbändigers. Es funktionierte, zwar nicht einwandfrei, aber es funktionierte. Die Luft um mich herum folgte meinen Bewegungen, zirkulierte um mich, als wäre sie schon immer ein Teil von mir gewesen. Es war ein überwältigendes Gefühl. Der Angreifer knallte gegen einen Baumstamm hinter ihm. Bewusstlos. Verwirrt starrte ich auf das Ergebnis meines Experiments. Mein Leben lang war ich ein Nichtbändiger, eine Außenseiterin. Mein Leben lang hatte ich mir gewünscht bändigen zu können, hatte es immer wieder vergeblich versucht. Und jetzt? Sollte ich nicht eigentlich glücklich sein? Wenn man mich gefragt hätte, wie ich mich fühle, dann hätte ich wahrscheinlich keine Antwort geben können. Es war eine wirre Emotionenmischung: Verwirrung. Ich konnte doch nicht einfach so zur Luftbändigerin mutieren, oder? Verzweiflung. War mein ganzes Leben bisher eine einzige Lüge? Vergeudung. War ich umsonst abgehauen? Ich war schon fast erwachsen und hatte nichts übers Luftbändigen gelernt. Was hatte ich mein ganzes Leben lang gemacht? Aus irgendeinem unbeschreibbaren Grund war ich auch Traurig. Ob sich unter den ganzen negativen Gefühlen noch ein positives wie Freude finden würde, konnte ich nicht sagen.
"Mika, du-", Sayo sah mich besorgt an. Sie hatte es gesehen, oder? Aber warum war sie besorgt? Bildete ich mir das alles vielleicht nur ein?
"Sayo, wie kann das sein?", fragte ich in der Hoffnung, dass sie vielleicht eine Erklärung dafür hatte. Sayo schaute zu Boden.
"Das ganze hier wurde gerade ziemlich kompliziert, was?", murmelte sie schwach, meinem Blick ausweichend. Ich hatte keine Ahnung, was sie damit meinte. Manchmal war sie mir ein Rätsel.
Ich blickte hinüber zu Jun und Zena, die noch in ihren Kampf vertieft waren. Drei Gegner lagen schon am Boden, nur noch zwei waren übrig. Die beiden standen Rücken an Rücken und schienen keinerlei Probleme mit ihren Angreifern zu haben. Juns Flammen erwärmten den Wald und sein Spiel mit dem Feuer war so fließend und präzise, dass es schon eine gewisse Ästhetik ausstrahlte. Er war gut, richtig gut. Was sollte die falsche Bescheidenheit, als er meinte, er sei nicht wirklich ein guter Bändiger? Zena war gut wie eh und je. Sie kämpfte mit der gleichen Verbissenheit wie immer. Ich für meinen Teil würde nur stören.
Der Kampf war schnell vorbei. Die beiden warfen einen Blick zu mir hinüber und zu den zwei Angreifern, die ich außer Gefecht gesetzt hatte.
"Nicht schlecht", meinte Jun überrascht, als die beiden sich zu mir gesellten.
"Das sollte ich wohl eher von euch sagen...", erwiderte ich. Jun stutzte, als er den Schnitt an meiner Wange entdeckte.
"Bist du okay? Warte ich hab da was..."
Er kramte in seinem Rucksack herum und reichte mir eine Dose mit Wundsalbe.
"Danke...", ich musste es ihnen erzählen, das mit dem Bändigen, bevor....
"Ähm, Jun... Ich weiß nicht wie ich... Aber irgendwie-"
Mein Versuch es zu erzählen wurde von Zena unterbrochen, die sich an Juns Arm klammerte.
"Hey Jun, du kannst echt gut bändigen. Wie wärs, wenn du mir schon ein paar Tricks zeigst? Ich weiß, dass ich zuerst Wasserbändigen lernen sollte, aber schaden kann das doch nicht..."
Sie zog ihn mit sich den Pfad weiter entlang. Ich weiß nicht, ob es Einbildung war, aber ich hätte schwören können, sie hätte mir über seine Schulter hinweg ein verschmitztes Grinsen zugeworfen.
Ich öffnete den Deckel der Dose mit der Salbe und schmierte sie auf meine Wunde. Es brannte höllisch...
...
In dem Dorf angekommen nutzte Zena ihren Status als Avatar, um uns eine Bleibe zu verschaffen. Auch wenn sie dabei ziemlich arrogant rüberkam, konnte ich mich darüber definitiv nicht beschweren. Jun und Zena waren auf der Suche nach einem Platz zum Trainieren und ich blieb mit Sayo alleine zurück. Nachdem ich das Dorf kurz erkundet hatte, das sich aus nicht mehr als ein paar Häusern zusammensetzte, hatte ich keinen Plan, was ich jetzt noch tun könnte. Nachdem wir uns eine Zeit lang angeschwiegen hatten, meldete sich Sayo kleinlaut: "...Du könntest doch selber trainieren...". Das war wie ein Schlag in die Magengrube. Es weckte die Erinnerungen an den Kampf im Wald. Ich hatte die Chance verpasst es den anderen beiden zu sagen. Was würden sie denken oder vielmehr was würde Jun denken? Was Zena über mich dachte war mir so ziemlich egal, mehr als hassen konnte sie mich ja sowieso nicht. Wenn ich es jetzt erwähnen würde, würde Jun sicher denken, ich hätte ihn von Anfang angelogen. Man wurde nicht von einem Tag auf den anderen zum Luftbändiger. Ich konnte es mir selbst nicht erklären. Das einzige was klar war, war die Tatsache, dass mir niemand glauben wird. Das ganze änderte aber nichts daran, dass ich eine Luftbändigerin war. Ich war eine Luftbändigerin. Eine Luftbändigerin... Und zum ersten Mal seit dem ich das heute herausgefunden hatte, verspürte ich etwas wie Neugier. Ich wollte wissen, wozu ich jetzt fähig war. Ein bisschen Training konnte ja nicht schaden, oder?
Nach einer kurzen Suche fand ich einen Ort, der sich zum Training eignete. Es war eine größere Lichtung im Wald, durch die ein Fluss führte. Die tief stehende Sonne warf ein Lichtspiel auf die plätschernde Wasseroberfläche. Ich setzte mich an das Ufer und meditierte kurz, wobei ich alle meine Sinne auf die Luft um mich herum richtete.
"Mika, ich glaube das reicht schon völlig...", drängte Sayo. Vielleicht könnte sie mir ja ein bisschen helfen, als Luftgeist meine ich.
Zunächst versuchte ich ein Gespür für das Bändigen zu bekommen. Ich spielte mit den Reaktionen der Luft auf meine Bewegungen. Es fühlte sich fantastisch an. Wenn ich mich aufs Bändigen konzentrierte, dann war die Luft nicht mehr nur etwas ungreifbares, sie schien fast lebendig. Eine beeinflussbare Laune der Natur. Für den Bruchteil des Bändigens war die Luft ich und ich war die Luft. Die Bewegungen Schienen so natürlich und vertraut, wie ein Instinkt, den ich mein Leben lang unterdrückt hatte. Mir war, als wäre etwas zu mir zurückgekommen, das eigentlich zu mir gehörte. Als wäre ein großes Loch in meiner Seele geflickt. Als wäre ich nach Jahren endlich wieder ich selbst.
"Du führst dich auf, als hättest du die falschen Pilze gemampft und wärst jetzt auf dem Weg ins Schlaraffenland...", merkte Sayo noch einer Weile an, "Willst du nicht mal aus deinem Euphorietrip aufwachen und anfangen wirklich zu trainieren? Sonst zerstörst du noch den halben Wald bevor du überhaupt angefangen hast...". Sie setzte ihren vielsagenden Blick auf.
"Ja, schon gut. Keine Sorge, ich fang ja schon an."
Ich hatte den klaren Vorteil, dass ich die Luftbändiger immer beobachtet und heimlich selbst trainiert hatte. Immer in der Hoffnung wenigstens eine kleine Brise erzeugen zu können. Mir waren die Trainingsmethoden so vertraut. Zena konnte ich nicht fragen, zum einen aus Stolz, zum anderen weil ich es ihr nicht erzählen konnte. Wenn Yong doch nur hier wäre, er hätte mir sicher geholfen...
Ich versuchte mich an verschiedenen Bewegungsfolgen. Unterschätzt hatte ich das ganze vielleicht ein wenig... Ich brauchte immer einige Anläufe, bis es in etwa so aussah, wie es sollte, aber mit jeder Technik gewöhnte ich mich mehr und mehr an die Natur der Luft. Nach und nach verstand ich ihre Reaktionen, was das Training etwas erleichterte. Am meisten Probleme hatte ich definitiv mit dem Stab meines Vaters. Den Gleiter mittels Bändigen aus- und einzuklappen war nicht ohne (ich hatte es schon mal Manuell versucht, aber das endete nicht so gut...). Mal hielt ich ihn falsch und die Flügel peitschten mir ins Gesicht, mal klappte nur ein Flügel aus, mal die unteren Flügel nicht... Es dauerte eine ganze Weile bis ich den Dreh raus hatte.
Der erste Flugversuch, an den ich mich wagte, ging nach hinten los. Ich schaffte es gerade so nicht in den Baum vor mir zu krachen und landete stattdessen eher weniger elegant im Fluss. Das Wasser war eisig, aber zum Glück nicht sonderlich tief. Triefend schleppte ich mich ans Ufer und legte mich auf den, noch von der Sonne warmen, Waldboden. Nach einer Weile fiel mir ein, dass ich ja jetzt auch andere Möglichkeiten hatte mich zu trocknen... Ich hopste aus dem Liegen auf meine Beine, was Dank Luftbändigen erstaunlich leicht war, und ließ die Luft durch meine Kleider fahren. Innerhalb von wenigen Sekunden waren sie komplett getrocknet. Ich grinste selbstgefällig. Das war mal echt praktisch! Dann schnappte ich mir sofort wieder den Gleiter und startete den nächsten, zum Scheitern verurteilten, Flugversuch.
...
Die Sonne war schon lange untergegangen, als ich aufhörte zu trainieren. Ich lag erschöpft neben Sayo am Flussufer und betrachtete den klaren Sternenhimmel. Das Aufstehen war eine Qual, aber ich konnte ja schlecht hier schlafen. Außerdem fragten sich die anderen bestimmt schon, wo ich blieb. Sayo, eine optimale Navigatorin, führte uns wieder zurück zum Dorf. Alleine wäre ich verloren gewesen.
Am Waldrand angekommen vernahm ich hektische, vehemente Stimmen und beschloss fürs erste in Deckung zu bleiben.
" - hier weg! Um Mitternacht werden sie dich holen, wenn du nicht wegläufst! Tauch unter! Besorg dir eine neue Identität! Alles ist besser als das!"
"Mutter, ich kann nicht! Was ist mit dir? Ich weiß nicht, was die vom Imperium mit dir machen werden, wenn sie erfahren, dass... Du bist meine einzige Familie!"
"Zur imperialen Armee zu gehen... das ist ein Suizidkommando! Niemand weiß, was die mit euch machen... Niemand ist je zurückgekommen! Du bist wichtiger als ich! Hast noch so viel vor dir, kannst so viel aus deinem Leben machen... Dass du frei bist, ist alles, was ich will! Pfeif auf die Idioten vom Imperium! Pfeif auf das, was mit mir passieren wird! Ich kann dich nicht verlieren, so wie deinen Vater! Eher sterbe ich! Manchmal wünschte ich, man hätte dir nie das Erdbändigen beigebracht. Dann wärst du nie so gut geworden, dass sie dich einziehen! Hier drinnen hast du Proviant, frische Kleider und Geld. Nimm Mara mit, sie ist eine gute Bärenkatze und wird dich beschützen! Komm nicht zurück, mir wird es schon gut gehen! Und jetzt lauf, mein Junge, bevor sie kommen!"
Die Stimme der Frau zitterte, auch wenn sie versuchte es zu unterdrücken. Sie hatte Tränen in den Augen. Der Junge, etwa in meinem Alter, drückte seine Mutter noch einmal feste und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Dann lief er los. Kurz bevor er außer Sichtweite war drehte er sich noch ein letztes Mal zu seiner Mutter um. Er weinte.
...
Auf dem Weg zu unserer Unterkunft bekam ich das Bild der Mutter mit ihrem Sohn nicht mehr aus dem Kopf. Es brannte sich fest in mein Hirn ein, ohne, dass ich etwas dagegen tun konnte.
Ich ging an Jun und Zena vorbei, die sich an einen Tisch gesetzt hatten und sich unterhielten. Jun rief mir etwas zu, aber ich war mit meinen Gedanken ganz woanders. Ich ging aufs Zimmer und legte mich auf mein Bett.
Es dauerte Ewigkeiten, bis ich einschlafen konnte.
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