Die Erde
Kies.
Es kostete mich ein paar Anläufe, um mein Unterbewusstsein davon zu überzeugen, dass die kleinen Steine nur viel gröberer Sand waren. Bald bändigte ich Kies wie Sand und dann auch kleinere Steine wie feinen Kies.
Eine weitere kleine Hürde war der Übergang zu größeren Brocken, doch auch die konnte überwunden werden. Überraschender Weise durch mein bisheriges Wissen aus meinen Zeiten im Dojo von Meister Wei Shan. Die Kampfhaltungen und Techniken, die ich damals gelernt hatte und mich überhaupt nicht weitergebracht hatten, waren auf einmal doch nützlich. Langsam löste ich mich von der lockeren Haltung des Sandbändigens, hinüber zu einer strengeren Form des Erdbändigens. Der Fokus lag auf Körperspannung, Willenskraft und Gleichgewicht, um eine Verbindung zur Erde unter meinen Füßen herzustellen.
Tao Rens Erdbändigen war mindestens so beeindruckend wie sein Sandbändigen. Scheinbar mühelos schleuderte er Felsen durch die Luft und stieß Säulen aus dem Boden. Auch wenn ich jetzt schon sagen konnte, dass ich Sandbändigen dem herkömmlichen Erdbändigen jederzeit vorziehen würde, konnte ich mich glücklich schätzen, von ihm lernen zu können. Wahrscheinlich wollte ihn das Imperium deswegen einziehen. Es war kein Geheimnis, dass die Imperialen es auf talentierte Bändiger abgesehen hatten. Jeder begabte Kämpfer, der sich ihnen anschloss, war eine Verstärkung der eigenen Ränge und eine Schwächung der "einfachen Bevölkerung".
Tao Ren katapultierte einen Felsen in meine Richtung. Ich festigte meinen Stand, indem ich durch Bändigen meine Füße im Sand vergrub. Meine Konzentration lag nun auf dem herannahenden Brocken und ich streckte die offene Hand aus danach, nur um sie zur Faust zuschnellen zu lassen. Der Stein zerbarst in eine Wolke aus Sand, die ich um mich herumbändigte und in Tao Rens Richtung zurückschickte.
"Wenn du keinen Sand hast, kannst du dir jederzeit welchen machen", erinnerte ich mich an Tao Rens Training.
Der Sand wurde jedoch schnell von meinem Gegner zu Boden geschickt. Ich löste meinen Fuß aus dem Sand und stampfte gen Boden, kickte einen Felsen auf Tao Ren zu. Er festigte seinen Stand und leitete den Felsblock prompt zu mir zurück. Rasch ging ich in die Knie und hievte meine Handflächen nach oben. Vor mir tat sich eine Erdmauer auf, an der der Brocken stumpf zerschellte. Ich lugte an der Mauer vorbei, um einen vielleicht ausnahmsweise zufriedenen Tao Ren vorzufinden. Er nickte nur kurz, hatte aber anscheinend nichts zu sagen, was wahrscheinlich als positive Reaktion zu werten war.
"Wollte Mika nicht Sandbändigen lernen? Das geht jetzt doch eher in Richtung Erdbändigen?"
Das war Yazhens Stimme. Dort, an der Seite des Feldes, saß der Sandbändiger und beobachtete unser Training mit neugierigem Gesichtsausdruck. Da ich so vertieft in mein Training war, hatte ich ihn kaum bemerkt. Wie lange war er schon hier?
"Naja, warum nur eines üben, wenn man auch eine Kombination aus beidem lernen kann?", versuchte ich mich herauszureden.
Yazhen, der mir die Antwort offenbar nicht ganz abkaufte, zuckte nur mit den Schultern, und wandte sich Tao Ren zu.
"Aber schön, dich mal wieder Erdbändigen zu sehen. Du hast ja für eine ganze Weile deine Finger davon gelassen. Beinahe hätte ich vergessen wie gut du bist."
Tao Ren wandte seinen Blick ab und schenkte dem Kommentar keinerlei Beachtung.
"Mika, weiterüben."
Ich seufzte, und hier hatte ich gehofft, eine kleine Pause einlegen zu können. Mein Training gestaltete sich allerdings anders als zuvor: ich durfte jetzt selbstständig trainieren, während Tao Ren mit Yazhen am Rand des Übungsplatzes stand und sich unterhielt. Allerdings gelang es meinem Lehrer trotz der Nebenbeschäftigung jeden noch so kleinen Haltungsfehler oder Fehltritt zu bemerken und mich mit laut zugerufenen Verbesserungsvorschlägen zu bombardieren. Als ich den Fehler machte und versuchte mich in das Gespräch der beiden einzuklinken, bekam ich nur eine auffordernde Handbewegung von Jun, doch mit meinen Übungen fortzufahren, bevor ich auch nur die Möglichkeit hatte das Thema zu erhaschen.
Letzten Endes war meine Rettung davor, bis in alle Ewigkeit Steine umherzuschleudern, das zunächst unbemerkte Erscheinen von Jun auf dem Trainingsplatz.
"Woah!", hörte ich eine Stimme zu meiner Rechten ausrufen, und ich fuhr herum, um den Feuerbändiger dabei zu ertappen, einem Brocken auszuweichen, der mir ausgekommen war.
"Das ist doch mal ein Fortschritt!", er lachte, den Schweiß seiner Nahtoderfahrung noch auf der Stirn stehend.
Überrascht ließ ich von den restlichen Felsen ab, die dumpf auf den Boden prallten.
"Oh, was führt dich hierher?", fragte ich verdutzt.
"Freut mich auch dich zu sehen", scherzte er, "Immerhin bist du die letzten Tage scheinbar hier eingezogen."
"Fühlt sich wirklich fast so an", stimmte ich ihm zu.
"Jedenfalls dachte ich mir, wenn ich sowieso schon trainiere, kann ich das eigentlich auch hier tun und dabei mal nach dem Rechten sehen. Aber es scheint besser zu laufen, als erwartet."
Nach meinem früheren kläglichen Versuchen im Erdbändigen, musste ich sagen, ich hatte es auch nicht erwartet. Dass ich es letzten Endes doch geschafft hatte, brachte mich zum Schmunzeln. Mit einer kleinen Handbewegung nutzte ich den Sand, um meinen Stab, den ich am Rand des Geländes abgelegt hatte, zurück in meine Hand zu bändigen.
"Wenn du so weitermachst, dann bin ich schon bald an der Reihe dir Feuerbändigen beizubringen", merkte er verschmitzt an, seine Vorfreude darauf war nicht zu bestreiten. Es überraschte mich nicht, immerhin hatte er ja bereits bei unserer ersten Begegnung davon erzählt, dass er unbedingt dem Avatar das Bändigen beibringen wollte. Woher diese Motivation kam hatte ich noch nicht so richtig verstanden, aber es schien ihm sehr wichtig zu sein.
"Während du trainierst, kann ich ja kurz mal meine Beine hochlegen und dir dabei zuschauen. Vielleicht lerne ich ja schon was durchs zuschauen", schlug ich ihm vor und machte mich auf den Weg mir meine wohlverdiente Pause zu holen und mich zu Tao Ren und Yazhen zu gesellen. Die beiden unterbrachen ihr Gespräch.
"Jemand scheint schon genug zu haben", kritisierte Tao Ren, die Arme vor der Brust verschränkt.
"Komm schon Ren, jeder braucht mal eine Pause. Datteln?", Yazhen reichte mir eine Schale mit getrockneten Datteln herüber und ich griff dankend zu.
"Die Grundlagen sind jetzt schon mal vorhanden. Du darfst dich jetzt deswegen nur nicht zurücklehnen, weil wir noch einiges zu tun haben", fuhr Tao Ren mit seiner Lektion fort, Yazhens Kommentar außer Acht lassend.
"Also wenn du zu wenig zu tun hast, kannst du mir ja auch eine kleine Einheit Auffrischungstraining im Erdbändigen geben", warf Yazhen ein, ein breites Grinsen auf seinem Gesicht.
Tao Ren schnaubte, doch nach einer kleinen Pause antwortete er: "Sicher. Nachdem ich mich um diesen Fall hier gekümmert habe", er deutete in meine Richtung, "Ich kann mich nur um einen Problemfall auf einmal kümmern. Soviel besser du im Sandbändigen auch bist, so viel schlechter bist du im Erdbändigen. Fast, als hättest du noch nie festen Boden unter deinen Füßen gehabt."
"Autsch", Yazhen verzog scherzhaft das Gesicht, als hätte er Schmerzen, "Ja, fester Boden ist eine Seltenheit in der Wüste, aber so schlecht ist mein Erdbändigen auch nicht."
"Also brauchst du doch kein Auffrischungstraining?", Tao Rens Mundwinkel zuckte kurz nach oben.
"Luft nach oben gibt es noch mehr als genug. So leicht wirst du mich nicht los, Ren", vergewisserte Yazhen ihm amüsiert.
"Ich hatte nicht erwartet, dass es einfach werden würde", erwiderte der Erdbändiger unbeeindruckt.
Mit einem Ohr die Konversation verfolgend genoss ich meine Verschnaufpause. Jetzt da ich mich nicht mehr bewegte und die Aufregung verebbte, merkte ich erst, wie sehr meine Muskeln schmerzten. Mein Blick schweifte zu Jun, der mit eleganten Bewegungen das Feuer in seinen Händen tanzen ließ. Sein Ausdruck war vollkommen fokussiert und voller Selbstbeherrschung, als wäre er von der Außenwelt abgeschottet. Die raschen Feuerschwärme brachten die Luft über dem Übungsgelände zum flimmern, sodass die Schwüle einem den Schweiß in den Nacken trieb. Feuerbändigen, schnell und unberechenbar, und bald durfte ich mich selbst darin versuchen.
...
"Warum willst du eigentlich unbedingt dem Avatar das Bändigen beibringen?", fragte ich Jun neugierig. Wir waren auf dem Weg zurück zu Tao Rens Haus und hatten noch ein paar Geschäfte besucht, um den Lebensmittelvorrat aufzustocken. Das hatte etwas mehr Zeit in Anspruch genommen als erwartet, da die Sandbändiger sehr dazu neigten zu verhandeln.
Jun sah mich überrascht an, dann lachte er kurz auf.
"Das ist eine lange Geschichte, und wahrscheinlich sind meine Gründe etwas kindischer, als du erwartest", antwortete er verlegen.
Ich zuckte mit den Schultern.
"Wir haben Zeit. Und ich werde mich auch nicht über deine 'kindischen' Absichten lustig machen."
Jun atmete hörbar auf.
"Na schön, ich erzähl es dir. Wo fange ich da am besten an?", sein Blick schweifte zur Höhlendecke, von der langsam Sand herabrieselte, "Als ich noch ein Baby war, wurde ich vor dem Tor der Schmiede meines Ziehvaters gefunden. Ich trug einen Brief bei mir, der erzählte, dass meine Mutter im Kampf gegen das Imperium gefallen sei und ich niemand anderen hatte, der sich um mich sorgen könnte. Damals handelte das Imperium noch verdeckter und vielen war noch nicht klar, was das eigentliche Ziel des Kaisers war. Eine der wenigen, die es damals schon durchschaut hatten, war Avatar Hiko und ihre Vertrauten. Ihr Plan, sich gegen das Imperium zu stellen scheiterte und sie fielen allesamt im Kampf, unter ihnen meine Mutter. Die Geschichte, dass der Avatar vom Imperium niedergestreckt wurde, verbreitete sich wie ein Lauffeuer und säte erste Zweifel auch unter jenen, die vor den Absichten des Imperiums bislang die Augen verschlossen hatten. Die wahren Abgründe, in denen sich die Imperialen bewegten, wurden nach und nach deutlicher und so erzählte mir mein Vater die Geschichte. Meine Mutter wurde meine Kindheitsheldin und mein Vater musste mich zurückhalten, um es nicht im ganzen Dorf und vor den anderen Kindern herumzuposaunen."
Jun lachte bei der Erinnerung auf, seine Augen vor Nostalgie funkelnd.
"Damals wusste ich noch nicht, wie gefährlich es sein konnte, sich offen gegen das Imperium auszusprechen. Aber ich schwor mir meinen eigenen Teil zu der Geschichte meiner Mutter, die ich nie wirklich kennenlernen konnte, beizutragen. Ich wollte so wie meine Mutter an der Seite des Avatars kämpfen-."
Jun sah zu mir hinüber, sein Ausdruck war nun ernster als zuvor. Es hatte mit einem Kindheitstraum begonnen und wurde in die Tat umgesetzt, nur wahrscheinlich nicht so, wie er es sich als Kind vorgestellt hatte, denn es kam mit einem Preis. Ich kannte das Gefühl nur zu gut. Auch ich hatte einen naiven Traum, dem ich gefolgt war und hatte ihn letzten Endes umgesetzt, als ich aus dem östlichen Lufttempel geflohen war. Nie hätte ich mir vorstellen können, was mich wirklich erwarten würde. So viel Vernichtung und Tod. Aber ich bereute meine Entscheidung, weggelaufen zu sein, trotz alldem nicht.
"Bereust du es?", die Worte verließen unbeabsichtigt meinen Mund.
Jun sah mich erstaunt an, doch schüttelte entschlossen den Kopf.
"Ich habe es niemals bereut."
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