Der Sandsturm
Sand. Eine gewaltige Masse aus unterschiedlichen Beigetönen, das war alles was ich noch sehen konnte, wenn ich es nur wagte die Augen zu öffnen. Zum Glück hatte mir Tao Ren wenigstens einen Schal als Mund- und Nasenschutz mitgegeben, nach einem beiläufigen "wir wollen ja nicht, dass du an dem feinen Sand erstickst".
Woran er nicht gedacht hatte, waren längere Kleider, sodass mir der Sand nicht wie Schleifpapier über die Haut prasste, oder eine Art Sichtschutz. Vielleicht war dieser Part aber auch Absicht, um mich mehr zu motivieren Sand zu bändigen, allerdings war das Ganze für meine Konzentration eher kontraproduktiv. Die Wüste machte einen verrückt, und ganz besonders während eines Sandsturms. Mal glaubte ich Wasser zu sehen, ein andermal schien es als wären dort rufende Stimmen im Heulen des Sturms. Ab und an sah ich Fratzen in der stürmischen Sandwand, gegen die ich ankämpfte. Ja, ich glaubte sogar flüchtige Silhouetten von einer Menschengruppe zu sehen. Ein Reflex von mir wollte zu ihnen laufen, aber etwas hielt mich zurück. Das hier ist dein Training, Mika, ermahnte ich mich selbst, du musst das alleine durchstehen. So hatte ich bald das ziellose Umherstapfen aufgegeben und kauerte nun an einer Stelle. Eine gewisse Paranoia packte mich, allmählich lebendig unter den Unmengen Sand um mich herum begraben zu werden, doch den Gedanken schüttelte ich schnell ab. Ich konnte Luftbändigen! Wenn es also hart auf hart kam, könnte ich mich wenigstens noch damit retten.
"Kein Luftbändigen", wiederholte ich die Worte meines neuen Lehrers in meinem Kopf, fügte aber ein kleines selbsterdachtes "nur im äußersten Notfall" hinzu. Ich nahm mir einen kurzen Moment um durchzuatmen und über meine aktuelle Lage zu reflektieren. Ich war nicht in einem Sandsturm gefangen um Däumchen zu drehen und in Panik auszubrechen.
Es stimmt, ich bin eine Luftbändigerin, erinnerte ich mich. Ich war im östlichen Lufttempel aufgewachsen, hatte gelernt mich zu konzentrieren, zu meditieren, mich auf meine Umwelt einzulassen. Das war wahrscheinlich meine beste Chance das Erdbändigen zu erlernen. Wenn ich sie hier nicht nutzen würde, wann dann?
Ich ging in die Hocke und tastete nach dem Sand vor meinen nackten Füßen. Eine Hand voll hob ich auf und ließ den Sand langsam zwischen meinen Fingern hindurch rieseln. Er fühlte sich so fein und glatt an, geschliffen durch Jahrhunderte, nein, Jahrtausende, die Folge aus einem Zusammenspiel von Wind und Stein. Durch die starken Böen wurde der Sand abgelenkt und gesellte sich zu dem Rest des Sturms, anstatt sich gleich am Boden niederzulassen. Ein Sandkorn war nicht nur ein einziger Stein, es war Teil eines größeren Ganzen und der langen Geschichte dieser Wüste. Ein Sandsturm funktionierte nur in gewissem Maße wie Luftbändigen. Luft bildet und folgt dem Strom, Sand folgt zwar dem Strom, aber nur, wenn er stark genug ist, ihn vom Boden zu bewegen. Jedes einzelne Sandkorn des Sturms, jeder Teil des Ganzen, hatte genug Energie um angehoben zu werden, nicht wie bei der Luft, bei der die, durch das Bändigen entstandenen Lücken, schnell durch frei nachströmende Luft geschlossen wurde. Der Trieb des Sand war es nicht zu fliegen, sondern zu fallen. Konzentriert schloss ich meine Augen, ignorierte die Schmerzen und das Brennen des Sandsturms auf meiner Haut. Jetzt gab es nur noch mich und den Sand, was in meiner Situation wirklich keine schwere Vorstellung war. Der weiche Sand zwischen meinen Zehen und der um mich herum wütende Sand, getragen vom Wind. Ich stand auf und konzentrierte mich auf die Bewegung des Sandes um mich herum, stellte mir die einzelnen Partikel kleinster Steine in der Luft vor. Mit einer abschwächenden Handbewegung drehte ich mich entgegen der Richtung des Sturms. Stopp, dachte ich und versuchte dabei ruhig zu bleiben. Für einen kurzen Moment dachte ich, der auf mich einpeitschende Sand wäre schwächer geworden, aber die Theorie verwarf ich schnell, denn eine harte Windböhe voll Sand traf mich von der Seite, der Sturm war immernoch derselbe.
Enttäuscht ließ ich meine Hände sinken, doch ehe ich mich versah, fiel eine Ladung Sand auf mich herab, bedeckte meinen Kopf und meine Schultern.
Moment! Vorsichtig öffnete ich meine Augen zu dünnen Schlitzen, sodass ich etwas sehen konnte. In einem kleinen Radius um mich herum hatte sich eine kleiner Berg Sand angesammelt, der bereits wieder allmählich vom Wind davongetragen wurde. Eine Welle der Aufregung überkam mich. Bedeutete das etwa, dass-
Ich nahm schnell wieder die Haltung von zuvor ein, dieses mal mit offenen Augen, und versuchte das Gefühl und die Bewegung von vorhin zu imitieren. Mit Staunen beobachtete ich, wie der tobende Sand um mich herum zum Stillstand kam, doch in dem Platz zwischen den bewegungslos schwebenden Sandkörnern, bahnte sich der übrige Sand und der Sturm schon wieder seinen Weg. Der Fakt, dass ich weiter dem Sturm ausgesetzt war, scherte mich in diesem Moment aber kein kleines bisschen. Ich hatte Sand in der Luft gestoppt! Das bedeutete, ich hatte im entfernten Sinne Erde gebändigt!
Vor Freude sprang ich auf, nur um abermals unter dem kleinen Schwall Sand begraben zu werden, den ich bis eben noch in der Luft gehalten hatte. Halb fluchend, halb lachend befreite ich mich wieder davon. Die Wüste machte einen wohl wirklich verrückt. Jetzt hatte mich eine gewisse Experimentierfreude gepackt. Ich ließ den Sand um mich herum wieder stoppen, um ihn dann mit einem Impuls entgegen der Sturmrichtung weiterzubewegen. Der Impuls verebbte aber rasch und ich merkte, dass ich beim Sandbändigen mehr Fokus in die Aufrechterhaltung der Bewegung legen musste.
Ich versuchte mehr Techniken mit dem Sand, versuchte mich an Tao Rens Bewegungen zu erinnern. Den Sand im Sturm zu ballen, zu beschleunigen, zu lenken, es gab vieles, was ich versuchte. Je mehr Zeit ich damit verbrachte und je schneller der Sand wurde, desto vertrauter wirkte es mir mit Luftbändigen, und ehe ich mich versah, hatte ich kein Zeitgefühl mehr und meine eigentliche Aufgabe vergessen: aus dem Sturm herauszukommen.
Wo war ich? Das war eine gute Frage und ich hatte nicht wirklich eine gute Antwort darauf.
Zu meiner Verteidigung, es war nun wirklich nicht schwer sich bei einem Sandsturm mitten in der Wüste zu verlaufen. Wie sollte mir Sandbändigen da weiterhelfen? Ich versuchte mehrfach den Sand beiseitezubändigen, doch der Sandsturm war zu riesig und es kam immer wieder neuer Sand nach. Trotz meiner misslichen Lage, konnte ich aber erstaunlicherweise immer noch einen kühlen Kopf bewahren. Wahrscheinlich war es das Sandbändigen und das Luftbändigen, das mir Sicherheit gab, diese Lage wenigstens zu überleben.
Ich durfte nur nicht Luftbändigen, oder? Eine Idee begann in meinem Kopf zu brodeln und ich setzte mich in den Schneidersitz um mich zu konzentrieren.
Ein kleiner gedanklicher Griff in die Geisterwelt, ein kleiner Griff nach meiner Verbindung zu einer alten Bekannten.
Und dort war sie, die Aura des Wolfgeists, etwas weit weg für mich, aber ein Katzen-, ich meine Wolfssprung für einen Geist.
"Mika!?!"
Nur einen Bruchteil einer Sekunde später merkte ich eine Unregelmäßigkeit in dem Sandsturm rechts von mir und eine riesiger Wolf manifestierte sich. Ihr Fell war nicht wie sonst weiß, sondern Sandfarben und sie musste zunächst kräftig Sand aushusten. Dann erblickte sie mich am Boden.
"Mika! Wo zum Henker warst du?", sie musste wieder husten, "Und wie siehst du eigentlich aus?", mit jedem Huster wurde ihr Fell wieder weißer und der Sandhaufen vor ihr größer, "Das nächste Mal warnst du mich vor, bevor du mich in einen Sandsturm rufst, der Sand stört bei der Manifestation!"
"Ich hoffe doch, es wird kein nächstes Mal geben. Und ich könnte dich auch fragen, wo du warst", entgegnete ich mit einem breiten Schmunzeln.
"Ich? Ich war hier und da. Bin den Füchsen von der Bibliothek aus dem Weg gegangen und der Besserwisser-Eule auch. Dann hab ich gemerkt, dass ihr weg wart und hab euch gesucht. Für einen Moment hab ich mir eingebildet, ihr wärt unterm Sand begraben worden und hab Panik geschoben. Aber das hab ich mir wohl eingebildet, sonst wärst du ja nicht hier. Wo sind eigentlich die anderen?- Nicht, dass ich mir Sorgen machen würde!"
Ich musste lachen, "So falsch liegst du da gar nicht. Aber kannst du mich zuerst hier aus dem Sandsturm bringen und ich zeige dir danach alles?"
Sie sah mich schief an.
"Du kannst doch selbst hier raus, du hast doch deinen Gleiter."
"Es ist so eine Art Wette."
Sayo verstummte für einen Moment.
"Manchmal zweifle ich an deinem gesunden Geisterverstand."
...
Es brauchte nicht viel mehr als einen kleinen Sprung von Sayo um uns über den Sandsturm hinweg zu befördern. Sie landete sanft im Wüstensand, gefolgt von einer Staubwolke, die schon fast selber an einen Sandsturm erinnerte.
Ich sprang von Sayos Rücken und sie schrumpfte sich wieder auf eine normale Wolfsgröße, wobei sie sich schüttelte, um noch verbleibende Sandreste loszuwerden. Schließlich warf sie mir einen kritischen Blick zu.
"Du hast Staub angesetzt."
Ich sah an mir herab. Meine Klamotten waren an jeder freien Stelle mit einer dicken Schicht Sand bedeckt.
"So bin ich in der Wüste perfekt getarnt."
Ich konzentrierte mich auf den Sand auf meiner Kleidung und stieß ihn schnell mit Sandbändigen von mir ab, indem ich meine Fäuste zusammenschlug.
Sayo beobachtete mich für eine Weile, bis sich plötzlich ihre Augen vor Verblüffung weiteten.
"Moment! Das war kein Luftbändigen?!"
Das breite Grinsen auf meinem Gesicht konnte ich mir nicht verkneifen.
"Genial! Ich dachte schon du wärst einfach ein hoffnungsloser Fall, aber du hast es ja doch geschafft."
Meine Augenbraue zuckte leicht, denn ich wusste nicht, ob ich das als Kompliment nehmen sollte.
Sayo bleckte ihre weißen Fangzähne, was ihre Interpretation eines Grinsens war.
"Komm wir ge-", ich wurde von einer gewaltigen Sandmauer unterbrochen, die sich abrupt zwischen mich und Sayo zog.
"Du musst vorsichtiger sein. In der Wüste gibt es zwar wenig wilde Tiere, aber solche, die dich auseinandernehmen, bevor du auch nur schreien kannst."
Vollkommen verwirrt drehte ich mich zu dem Neuankömmling um. Tao Ren sah mich vorwurfsvoll an, während er immer wieder seinen Blick zur Mauer schweifen ließ.
"Tao Ren, du musst wirklich nicht-"
"Schhh! Ich kann den Wolf nicht mehr hören."
Im nächsten Moment kam Sayo in einem hohen Satz über die Sandmauer gesprungen und stellte sich knurrend Tao Ren gegenüber.
Dieser holte schon wieder zum nächsten Zug aus.
Mir war klar, ich musste schnell reagieren, wenn ich nicht meinen Lehrer verlieren wollte.
Blitzartig griff ich meinen Stab und zog eine Schneise aus Luft zwischen Sayo und die herandonnernde Sandwelle.
"Stopp! Alle beide!"
Während Tao Ren mich ansah, als wäre ich wahnsinnig geworden, beschwerte sich Sayo nur.
"Er hat damit angefangen und mir beinahe eine Sandmauer ins Gesicht geklatscht!"
Der Sandbändiger war offensichtlich verwirrt über die neue Stimme in seinem Kopf, denn er schreckte alamiert zurück.
Ich atmete erleichtert auf. Wenigstens schienen die beiden sich nicht mehr gegenseitig an die Gurgel gehen zu wollen.
"Tao Ren, das ist Sayo. Sie ist ein Luftgeist und eine gute Freundin. Wir kennen uns schon sehr lange."
"Nicht nur eine gute, die beste!", korrigierte mich Sayo, immer noch etwas trotzig.
"Sayo, das ist Tao Ren. Mein neuer Lehrer."
Sayo setzte sich demonstrativ in den Sand und funkelte ihn an, um zu zeigen, dass die Geschichte mit der Mauer noch nicht gefressen war. Tao Ren starrte nur kühl ohne einen Kommentar zurück.
"Wie hast du mich gefunden?", fragte ich schließlich, zu Tao Ren gewandt, in der Hoffnung das Thema etwas zu ändern.
"Ich habe doch gesagt, dass ich dich abhole, oder?"
Nachdenklich zögerte ich etwas.
"Nicht, dass ich wüsste."
"Hab ich das vergessen zu erwähnen? Wie dem auch sei, hast du etwas bei der Lektion gelernt?"
Er deutete auf den Sandboden.
"Es ist ähnlich, wie gestoppten Sand zu kontrollieren. Man muss nur etwas mehr Energie dazugeben", fügte er als Hinweis hinzu.
Ich nickte kurz und konzentrierte mich auf den Sand auf dem Boden, stellte mir vor ihn hochzuheben. Mit einer flinken Bewegung ließ ich ihn in einer Spirale um mich herum hochfliegen und stoppte ihn in der Luft.
Tao Ren nickte ausdruckslos.
"Damit kann man definitiv besser arbeiten. Ich wusste, dass es nur eine etwas gewagtere Trainingseinheit braucht."
Ich runzelte die Stirn. Das nannte er 'etwas' gewagter?
"Und was hast du noch gelernt?", fragte er schließlich erwartungsvoll.
Ein fragender Ausdruck machte sich auf meinem Gesicht breit. Was meinte er damit? Hatte er etwa erwartet, dass ich gleich normales Erdbändigen mit dazu lerne?
Nachdem ich nur den Mund öffnete, aber keine Antwort auf seine Frage entwich, zog sich nun zum ersten Mal, seit ich ihn kannte ein kleines Schmunzeln auf sein Gesicht.
"Ganz einfach. Leg dich nicht mit einem Sandsturm an."
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro