Das Meeresungeheuer
Ich starrte in die weit aufgerissenen Augen der riesigen Drachenschlange und war vor Schock wie gelähmt, hin und hergerissen von dem Verlangen einfach nur so schnell ich konnte wegzuschwimmen und einem kleinen Fünkchen Neugier, das mich daran hinderte. Ja, ich wusste, was sich die Leute über das Ungeheuer erzählten, aber das Gefühl, das ich schon damals bei der Überfahrt hatte, war immer noch fest in mir verankert. Es sträubte sich einfach dagegen in dem gigantischen Wesen vor mir etwas schlechtes zu sehen, selbst jetzt, da es mir direkt in die Augen sah. Seine bernsteinfarbenen Schlitzaugen musterten mich aufmerksam.
Ruckartig bewegte sich die Meeresschlange und schnellte durch das Wasser, ohne mich dabei auch nur einmal aus den Augen zu lassen. Die plötzliche Bewegung traf mich unerwartet, sodass ich fast die Kontrolle über meine Luftblase verlor. Die Schlange schlängelte sich zu mir hoch, was wieder einen Schub Panik in mir auslöste. Als ich wegschwimmen wollte war es schon zu spät, denn das Wesen hatte mich bereits wie eine Spirale umkesselt.
Schließlich wandte es sich wieder genauer zu mir, bis ich merkte, dass sein Gesicht nur noch wenige Zentimeter von dem meinen entfernt war und seine riesigen Schlitzaugen mich nun prüfend musterten. Ich wagte es kaum mich zu bewegen, geschweige denn zu atmen, während mein Herz bis zum Hals pochte. Nur keine hastigen Bewegungen! Vorsichtig riss ich mich zusammen und starrte zurück in die Augen der Schlange, unter dem Versuch meine Unruhe zu verdecken. Sie sollte nicht merken, dass ich Angst hatte.
Aber anstatt mich anzugreifen verharrte sie in ihrem Starren, was mich verwirrt zurückließ. Fragend suchte ich in ihren Augen nach einer Antwort. Doch anstatt dieser fand ich vor allem eines: Trauer. Mit einem Mal erschien mir das Meeresungeheuer unheimlich traurig. Aber konnte das sein? Gefesselt von dem Blick der Schlange merkte ich kaum, wie ich fasziniert meine Hand hob und nach ihrem drachenähnlichen Kopf ausstreckte. Das geschah aus dem Bauch heraus, wie ein Reflex, und als ich realisierte was ich tat, da berührte meine Hand bereits die kühlen Schuppen an der Stirn des Wesens.
Vor Überraschung verharrte ich so, aber was mich noch mehr verblüffte war die Tatsache, dass die Schlange nicht zurückzuckte oder mich gar angriff, denn auch sie blieb beinahe regungslos.
"Ich habe dich schon erwartet, Kleine...", hallte eine Stimme in meinem Kopf wieder, die mich nun wirklich unerwartet traf. Erschrocken versuchte ich meine Hand von der Stirn der Schlange zu nehmen, aber etwas hielt sie davon ab.
"Du hast-", ich verschluckte mich an meinen Worten.
"... Du musst mich nicht fürchten, denn ich werde dir nichts tun... fürs erste zumindest hätte ich keinen Grund dafür...", fuhr die Schlange fort. Skeptisch wanderte mein Blick zu ihren Augen, während ich nach Antworten suchte.
"Du... hast mich gerufen, nicht wahr?", fragte ich überrascht.
Das Meeresungeheuer schloss für eine kurze Zeit die Augen.
"Ja, das habe ich... Gut beobachtet. Man nennt mich Meiyen... So hat mich der nördliche Wasserstamm schon seit Jahrtausenden genannt...", es sprach wirklich langsam, als würde es sich jedes gesagte Wort genau überlegen, "Nun zu dir, junger Avatar... Ich habe dich zu mir gerufen, weil ich dir helfen kann. Was du zur Zeit am meisten brauchst sind Informationen und die kann ich dir sehr Wohl geben..."
Fassungslos starrte ich die Schlange an.
"Du willst mir helfen? Einfach so?", fragte ich noch einmal nach, denn das ganze hörte sich irgendwie nicht ganz so simpel an, wie es Meiyen gerade dargestellt hätte.
"Natürlich fordert der Dienst auch seinen Tribut, aber darauf komme ich später zurück... Wie ich dir helfe, so wirst auch du mir später helfen. Ich hoffe du bist in diesem Fall verlässlich, denn ich kann - und das willst du sicher nicht erleben - sehr nachtragend sein..."
Ich zuckte unter ihrem dem Blick zusammen.
"Über welche Art von Informationen reden wir hier?", fragte ich zögerlich. Das ganze hier war mir nicht sonderlich geheuer.
"Welche Informationen, fragst du? Es geht ums Imperium... wo sie sich am Nordpol aufhalten... was sie vorhaben... alles!", meinte die Schlange grinsend.
"Woher weißt du das alles?", meinte ich verblüfft.
Meiyen schien das wohl als leichte Beleidigung aufzufassen, denn es schnaupte empört: "Woher ich das weiß? Ich weiß über alles, was am Nordpol geschieht Bescheid! Also willst du die Informationen oder etwa doch lieber hier weiter Zeit mit nervigen, sinnlosen Fragen verschwenden?".
"Sinnlose Fragen? Natürlich will-", ich zog eine Augenbraue hoch.
"Siehst du, Mädchen! Genau das meine ich!", unterbrach mich Meiyen, "Sag einfach, dass du die Informationen brauchst..."
Ich senkte den Kopf und nickte, denn ich wusste genau, dass ich die Informationen brauchte, genauso wie ich wusste, dass Meiyen sich genau im Klaren darüber war, wie sehr ich sie brauchte.
"Ja, ich brauche die Informationen. Nur... woher weiß ich, dass du mich nicht hinters Licht führen willst?"
"Das kannst du nicht wissen. Aber siehe selbst!", erwiderte die Schlange und mit einem Mal begannen ihre Augen grell weiß zu leuchten und das Licht verschluckte mich und nahm mich mit sich.
Das nächste was ich sah, als das grelle Licht wieder verschwand, war ein gigantischer Raum aus Eis mit vielen Treppenstufen, die sich in alle Richtungen erstreckten. Der Raum war nur spärlich durch ein paar Fackeln beleuchtet. Wo war ich hier? Meine Sicht war leicht verzerrt, was den Raum erscheinen ließ, als würde er leicht pulsieren und in Schlieren verlaufen. Auf dem Boden standen allerlei Fässer und Kisten, die Wände waren mit zahlreichen Waffen zugestellt, was den Saal extrem bedrückend wirken ließ.
Plötzlich hörte ich von der Seite her verworrene Schritte und Stimmen, die aus einem der zahlreichen Korridore, die aus dem Raum führten, zu mir hinüberhallten.
Waren das...? Verdammt, wenn sie hier hereinkämen, dann würden sie mich sicher entdecken. Aber der Saal war viel zu groß, um mich noch zeitlich zu verstecken. Zudem schien mein Körper wie gelähmt.
Mein Blickfeld schweifte in die Richtung, aus der die Stimmen kamen. Sie waren undeutlich und kaum zu verstehen, aber je näher sie kamen, desto mehr zusammenhangslose Wortfetzten konnte ich aufschnappen.
Ich hoffte inständig, dass sie nicht hier hineinkamen, aber da würde mir das Schicksal wohl höchstwahrscheinlich einen Strich durch die Rechnung machen.
Regungslos starrte ich auf den Gang aus dem die Stimmen kamen, als eine Hand voll Leute aus ihm in den Raum traten.
Panik stieg in mir hoch, als sie direkt in meine Richtung marschierten. Aber sie schienen mich zu ignorieren, fast so, als wäre ich...
Überrascht sah ich an mir hinunter, doch da war nichts... Und mit nichts meine ich wirklich nichts, denn ich schien irgendwie keinen Körper zu haben. Kein Wunder, dass ich mich nicht bewegen konnte! Eigentlich hätte ich das früher merken sollen, dann hätte ich mir die ein oder andere Aufregung erspart.
Das alles hier schien also eine Art Vision zu sein, die mir Meiyen zeigte. Die Frage war nun also, ob das alles hier jetzt in diesem Moment passierte oder vielleicht bereits passiert war.
Mein Blick schweifte wieder zu den Figuren, die sich auf den Kisten niedergelassen hatten. Manche von ihnen trugen imperiale Kampfausrüstung, andere waren wie normale Wasserstamms-Bewohner gekleidet. Doch ich stutzte bei einer Person, denn ich kannte sie nur zu gut.
Und das war Kaia.
Irgendwo in mir drinnen wollte ich es immer noch nicht verkraften, dass Kaia uns verraten hatte, und umso mehr versetzte es mir einen Stich sie jetzt und hier vor mir in imperialer Kleidung zu sehen.
Fast realisierte ich nicht, dass die Gruppe Menschen zu sprechen begonnen hatte und dass es vielleicht nicht schlecht wäre etwas zu lauschen.
Auch wenn sich die Stimmen immer noch etwas verwaschen anhörten, konnte ich sie nun doch größtenteils verstehen.
"Wie ist die Lage?", fragte Kaia mit strenger Miene, "Habt ihr die Vorbereitungen bereits getroffen?".
Niemand der Anwesenden schien darauf antworten zu wollen, doch als sich Kaias Ausdruck verfinsterte, meldete sich eine stämmige Frau zu Wort: "Wir sind fast fertig, Herrin. Nur noch ein paar Tage und wir können der Zentrale Bescheid geben".
"Was soll das heißen, 'fast fertig'? Hieß es nicht, ihr solltet bereits spätestens gestern fertig sein? Zuerst schafft ihr es nicht den Avatar gefangen zu nehmen und jetzt das?", beschwerte sich Kaia, scheinbar am Rande ihrer Nerven.
Ein jüngerer Mann trat vor und hob seine Stimme: "Das mit dem Avatar... Wir hätten sie fast gehabt! Wie hätten wir ahnen können, dass ihre Freunde zu Hilfe kommen würden?"
Kaia stutzte und schüttelte schließlich den Kopf.
"Ach war das so? Mit Abschweifungen im Plan muss immer gerechnet werden. Und außerdem habe ich aus anderer Quelle erfahren, dass ihr euch wohl schon alleine am Avatar die Zähne ausgebissen habt. Ich hatte wirklich besseres von euch erwartet, wenn ich euch in der klaren Überzahl gegen einen jungen Avatar schicke, der noch nicht mal zwei Elemente voll und ganz beherrscht!", merkte Kaia ungeduldig an.
Ein ausgedörrter Mann trat unsicher hervor.
"Sie war im Avatar Zustand... Das kam zu plötzlich, als wir dachten, wir hätten sie!"
Kaia sog scharf die Luft ein.
"Ihr wollt es nicht verstehen, oder? Wenn ihr nicht stark genug für das Imperium seit, dann könnte ich euch gleich dorthin schicken, wo wir mit unfähigen Leuten verfahren!"
Die Leute, die sich um Kaia versammelt hatten zuckten allesamt zusammen, als wäre allein der Gedanke daran abschreckend.
Ich jedoch starrte immer noch verschreckt zu Kaia. War das wirklich das Mädchen, dass ich geglaubt hatte zu kennen?
Keiner der Anderen wagte es jetzt noch einen kleinsten Mucks von sich zu geben.
Kaias Blick schweifte etwas zufriedener durch die Menge.
"Nun denn... Zu den wichtigen Dingen, die wir jetzt dank euch auszubaden haben...", murmelte sie deutlich hörbar, "Der Widerstand scheint langsam Verdacht zu schöpfen, besonders jetzt, da die kleine nervige Wasserbändigerin zu viel weiß, bleibt uns nicht mehr viel Zeit. Dass sich eine aus dem Widerstand ausgerechnet mit dem Avatar befreunden musste, hätten wir ja nicht ahnen können!".
"Was schlagt Ihr vor, Herrin?"
"Sollte das so weitergehen, dann müssten wir unseren Plan beginnen, bevor die Verstärkung hier am Nordpol ankommt. Es wäre schwer, die Kontrolle über den Wasserstamm ohne Unterstützung und mit dem Widerstand haarscharf im Nacken zu übernehmen, also bleibt uns nichts Anderes übrig. Wir müssen die Quelle der Informationen beseitigen und dabei möglichst noch den Avatar aus dem Spiel nehmen, wenn wir ein leichtes Spiel haben wollen."
Die ganzen Informationen waren zu viel für mich und verdrehten mir den Kopf. Das Meiste, was sie gesagt hatte, ergab für mich kaum Sinn, aber die Nachricht war dennoch eindeutig. Sie wollten mich aus dem Weg, genauso wie die Wasserbändigerin, die mit mir befreundet war und anscheinend zu viel wusste. Es blieb eigentlich nur eine, die für die Beschreibung passen würde, und das war niemand geringeres als Fohr. Aber warum das Ganze? Was genau war ihr Plan? Irgendetwas mit Kontrolle über den Wasserstamm? Wie dachten sie denn, das erreichen zu können. Mein Kopf schien innerlich zu explodieren, überfüllt mit Fragen, auf die ich nun wirklich mal gerne eine Antwort hätte.
Die Geschehnisse um mich herum nahm ich kaum noch wahr, sie waren für mich nur mehr ein einziges Stimmengewirr.
Ich wollte nicht mehr hier sein, hier fühlte ich mich fremd, alleine und bedrängt zwischen den ganzen Imperialen. Einfach wieder aus der Vision aufzuwachen, war das einzige was mich wieder etwas beruhigen könnte, also versuchte ich es. Doch anstatt dass die Stimmen verschwanden, schienen sie nur noch lauter und eindringlicher zu werden.
"Meiyen, es reicht! Ich habe genug gesehen! Lass mich zurück!", versuchte ich die Drachenschlange zu kontaktieren, doch es kam keine Antwort.
Doch gerade, als Vision unerträglich wurde, fühlte ich, wie ich am Arm gepackt und mit wahnsinniger Geschwindigkeiten weggerissen wurde. Da ich hier aber keinen Körper hatte, schien es sich bei dem Gefühl wohl um meinen echten Körper zu handeln, der immer noch bei Meiyen war.
Meine Vision war zwar noch da, verschwamm aber nach und nach, löste sich auf. Die Stimmen schienen immer weiter entfernt. Einen letzten Blick warf ich noch hinüber zu den Imperialen, als ich erstarrte, denn Kaias Blick war direkt auf mich gerichtet. Konnte sie mich etwa sehen? Nein, das konnte nicht sein, ich war ja quasi gar nicht erst hier. Das war bestimmt alles nur Einbildung! Das versuchte ich mir einzureden, doch Kaias Blick löste sich nicht wieder von mir, ehe sich das Bild um mich herum vollends aufgelöst hatte und ich mich wieder, vollkommen Orientierungslos im Meer. Nur etwas war neu und das war die Hand, die mich noch immer, wahnsinnig schnell mit sich zerrte. Die Kontrolle über meine Luftblase schien ich wohl durch den plötzlichen Ruck verloren zu haben, denn das Wasser umströmte wieder mein Gesicht und die Luft wurde mir langsam knapp. Als ich zurückblickte sah ich Meiyen, die sich immer weiter von mir zu entfernen schien, bis sie nur noch wieder ein kleiner heller Punkt war, und im nächsten Moment durchbrachen wir auch schon die Wasseroberfläche. Schnell schnappte ich nach der eisigen Polarluft und meine Lunge beruhigte sich wieder etwas. Etwas erleichtert drehte ich mich zu Fohr um, die bereits den Mund öffnete, wahrscheinlich um mir eine Predigt zu halten.
"Ich weiß", unterbrach ich sie hastig, "Wir müssen reden. Dringend!"
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