Kapitel 6
Als Mann von 27 Jahren und als gestandener Soldat laufen mir zwei Tränen über die Wange. Jakob fragte mich einst aus Spaß nach dem peinlichsten Ereignis, das ich mir vorstellen könnte. Ich antwortete ihm: Vor seinem Feind zu weinen. Und nun liege ich unter General Goldrat und hasse mich dafür, dass mich die Angst übermannte.
Ich kneife die Augen zusammen als Erics Lippen über meinen Hals wandern. Verhalte dich ruhig, sage ich mir. Du wirst überleben – um jeden Preis. Rache oder Wut trieben mich nie an. Die Leute, die mich verletzten, ignorierte ich, die Menschen, die neben mir litten, ebenso. Ich will kein Held sein, auch kein Gewinner. Ich kann einzig rennen, mit so wenig Ballast aus Gefühlen wie möglich. Um zu überleben.
Plötzlich löst sich der General von meinem Hals. Seine Hand auf meinem Oberschenkel stoppt. Verwundert blinzele ich meine Augen auf. Eric kniete sich über mich und sieht emotionslos auf mich herab.
»Wieso weinen Sie?« Mit seinem Daumen streicht er mir die Tränen meiner linken Wange weg. Daraufhin rubbele ich hastig über meine verräterischen Augen. Mein Gesicht glüht so heiß wie im Fieber.
»Wieso weinen Sie?«, wiederholt Eric seine Frage. »Hören Sie auf damit. Sie sind ein Mann. Besitzen Sie kein Schamgefühl?«
Für einen kurzen Moment gebe ich der Versuchung nach und bedenke den General mit einem bösen Blick, den ich gleich wieder senke. Er seufzt schwer. »Sie sind selbst Schuld an dieser Situation, wieso solch vorwurfsvoller Ausdruck?«
Aus meinen Augen kommen weitere Tränen nach, die er erneut mit seinem Daumen von meiner Wange wischt. »Jetzt hören Sie schon auf.« Seufzend schwingt er seine Beine von der Bank, bevor er sich durch den Mittelscheitel fährt. »Sie mögen ein Kleid tragen, aber das macht Sie nicht zur Frau.« Er sieht zu mir herab. Mit schnell hebender Brust liege ich auf der Bank, das Kleid über meinen Knien und der Pony zu den Seiten ausgebreitet. Der General zieht die Augenbrauen hoch. »Wie lange gedenken Sie noch dort zu liegen? Es wird nichts geschehen. Setzen Sie sich ordentlich hin.« Damit steht er auf, um den Tisch zu umrunden, sich an die Wand mit dem Gemälde zu lehnen und eine Zigarette anzuzünden. Zögerlich setze ich mich auf, bevor ich mein zerknittertes Kleid gerade streiche. Krampfhaft versuche ich meinen zittrigen Atem zu unterdrücken. Warum hörte der General auf? Wohl kaum aus Mitleid. Während meine misstrauischen Augen über Eric wandern, der mich verbissen anstarrt, knabbere ich an meinem Fingernagel... Was gäbe ich dafür, ein einziges Mal von seiner Zigarette ziehen und mich damit beruhigen zu dürfen?
Eric, der meinen sehnsüchtigen Blick zu seiner Zigarette bemerkt, seufzt abermals, ehe er die Schachtel darbietend in meine Richtung hält. »Rauchen Sie?«
Auf einmal klopft es, woraufhin der General die Person hereinbittet, die sich als nervöser Kellner herausstellt, der beinahe seinen Notizblock vor Erics Füße schmeißt. Seine Augen huschen über die seltsame Atmosphäre im Raum. »B-Benötigen Sie noch Zeit, zum...?«
»Nein.« Der General drückt seine Zigarette im Aschenbecher auf dem Seitenschrank aus. Dann setzt er sich mir gegenüber an den Esstisch. »Bringen Sie zweimal den Lachs mit Kräutern.«
»Sehr wohl. Dazu einen leichten Weißwein?«
Nach Erics Nicken schnappt der Kellner die Speisekarten und eilt nach draußen. Anschließend legt der General seinen Kopf schief. »Ich hoffe, Sie mögen Lachs«, sagt er emotionslos.
Allmählich beruhig sich mein rasendes Herz und schlägt in einem gesunden Rahmen. Ich bin verleitet, den General zu fragen, wieso er sich zurückzog, nachdem er mir eben schreckliche Dinge antun wollte, doch ich halte lieber meinen Mund. Wenn der feine Herr vergessen möchte, dass er mich fast vergewaltigt hätte, dann werde ich es vergessen. Ich will hier bloß so schnell wie möglich weg.
»Vermutlich schon... Sir...«, antworte ich bedacht. »Ich hatte noch nicht das Glück, teuren Fisch zu kosten...« Obwohl ich mich möglichst unbekümmert zu geben versuche, rutscht mir vor Aufregung ein atemloses Schluchzen über die Lippen. Sofort räuspere ich und kralle meine Hände ins Kleid.
Eric schnaubt. »Herzergreifend.«
Meine Wangen färben sich wenn möglich noch röter. Denkt er, ich spiele ihm meinen Ausbruch vor? Wie kann ein Mensch derart arrogant sein, zu glauben, ich besäße keine Gefühle, die überschwappen können?
Es dauert zehn stille Minuten, bis der Kellner zurückkehrt. In den Händen trägt er ein Tablett mit dampfendem Fisch, der köstlich nach Salbei und Dill durftet. Der General wechselte im Warten kein Wort mit mir, was er gerne unsere restliche Zweisamkeit weiterführen kann. Obwohl mein Magen rebelliert, sobald ich daran denke, wohin Erics Hände gewandert sind, vergisst mein ausgehungerter Körper wie angewidert ich bin, als das Essen vor mir steht. Der weißliche Fisch, dessen knusprig goldene Ränder und feucht glänzendes Fleisch einen perfekten Garpunkt anzeigen, ist in der Mitte mit einer cremefarbenen Dill-Soße angerichtete. Dazu serviert der Kellner zwei Beilagenteller auf denen Kartoffeln sowie in Speck gebundenen Bohnen liegen. Ich schlucke meinen angeregten Speichel herunter.
Nachdem der Bedienstete Eric Weißwein einschenkt und den Raum verlässt, nippt der General sofort von seinem Glas. »Starren Sie Ihr Essen immer an, als müssten Sie es gleich jagen gehen, weil es aufspringen und weglaufen wird?«
Ich reiße meinen Kopf vom Teller hoch.
In einem Schluck leert Eric sein Glas, was auf mich wirkt, als plant er einen Wettbewerb im Trinken zu beginnen. Gleich darauf schenkt er sich nach. »Worauf warten Sie? Ich bestellte das Gericht nicht, um es im Museum auszustellen. Essen Sie.«
Zittrig nehme ich das Besteck auf. Meine Befürchtungen, mich übergeben zu müssen, sobald der Fisch meine Lippen berührt, bleiben aus – Ohne zu Kauen, schlucke ich den Happs herunter. Ehe ich mich versehe, den nächsten und nächsten und wieder nächsten. Gedachte ich nicht bis eben, mich vor den teuren Mahlzeiten zu hüten? Doch das Gefühl, etwas Warmes in den Magen zu bekommen, das nicht zum Großteil aus Kohl besteht, übermannt mich. Überhastet nehme ich das nächste Stück, dann das nächste und das wieder nächste. Bis ich bemerkte, dass ein argwöhnischer Blick auf mir liegt. Der General hob die Augenbrauen unter meinem ausgehungerten Stopfen, das alles andere als passend für dieses Etablissement anmutet.
»Ihre Tischmanieren sind...« An seinem Glas hängend, scheint er eine passende Beschreibung zu suchen. Schließlich kommt er zu dem Ergebnis: »...nicht vorhanden.«
Beschämt schlucke ich mein angekautes Stück herunter, senke das Besteck und beiße mir auf die Lippe, die mit dem milden Geschmack des Dills benetzt ist. »Tut mir leid... Sir.«
Meine letzte warme Mahlzeit liegt zwei Tage zurück – Jakobs Kohlsuppe, die ich unter Todesangst in mich schaufelte. Und selbst der beste Koch kann aus Kohl keinen gebratenen Lachs zaubern. Mir kommt es vor, als handelt mein Körper von allein, um diese rare Gelegenheit auszukosten.
Eric verdreht die Augen und leert auch sein zweites teures Glas wie ein Stammgast in der Kneipe. »Schon gut. Dieser Tag ist eine Katastrophe.«
Unsicher, ob ich die Erlaubnis habe, weiterzuessen, pikse ich eine Kartoffel auf die Gabel. Die Regungen meines Gegenübers mit großen Augen überwachend, schiebe ich sie in meinen Mund. Da der General mit seinem Glas beschäftig ist, esse ich hastig auf, was nicht länger als fünf Minuten dauert. Erst als ich mir die Kräuter des letzten Bissens von der Lippe lecke, bemerke ich Erics unangetasteten Teller. Kein Krümel bewegte sich, seitdem das Gericht serviert wurde.
Zum ersten Mal setzt der General sein Glas ab, hebt seinen Teller am Rand an und stellt ihn auf meinen leeren. »Versuchen Sie diesmal nicht so zu schlingen. Es nimmt Ihnen keiner weg.«
»D-Das... ähm... wieso...«, druckse ich herum.
»Haben Sie keinen Hunger mehr?«
Satt bin ich zwar schon, doch es wäre gelogen, wenn ich sage, dass ich nicht auch noch weitere fünf Portionen dieser köstlichen Speise essen könnte. »Aber das ist Ihr... Essen...«
Eric lehnt sich zurück. »Ich habe keinen Appetit.«
Vor nicht kurzer Zeit, drückte mich der General noch auf die Sitzbank, um mir das Kleid hochzureißen und jetzt verzichtet er auf sein Essen, um es mir zu geben? Wie kann ich mir die Gedankengänge dieses Mannes vorstellen?
Während ich langsamer weiteresse, beobachtet mich der General mit seinem Weißwein in der Hand. »Wie lange dienen Sie dem Reich schon?«
»Zehn Jahre, Sir.« Mit der Gabelseite durchtrenne ich ein Stück seines Fisches, bevor mir auffällt, dass es sich nicht gehört, das Messer partout zu missachten.
»Hm«, macht er wie in Gedanken versunken. »Wieso ignorierten Sie mein Angebot, in meine persönliche Einheit zu wechseln? Träumen Sie nicht von einem besseren Leben?«
»Nein«, platze ich mit meiner Antwort heraus, ohne aufzusehen. »Mir reicht es einfach zu leben.«
»Was bringt es zu leben, wenn man einfach nur überlebt?«, plaudert er in den Raum hinein, sodass ich mich frage, ob er angetrunken ist. Über seine adlerhaften Augen glitzert ein feuchter Film, durch den sie nicht mehr so raubtierhaft erscheinen.
Plötzlich reißt jemand die Tür zum privaten Abteil auf. Unsere Köpfe wirbeln zu Erics Sekretär, der sofort salutiert und ruft: »Melde gehorsamst: Eine Eilmeldung kam soeben von der Grenze. Anscheinend gab es einen Anschlag der Terroristengruppe, die sich Freiheitskämpfer nennt.«
Überrascht senke ich das Besteck. Die Freiheitskämpfer in der Hauptstadt Rauheim? Die staatlichen Zeitung versuchte uns nach dem Anschlag in Kortium weiß zu machen, ein Angriff in der Hauptstadt wäre unwahrscheinlich, gar unmöglich. Sie nannten die Terroristen eine kleine Gruppe an rechtsradikalen Okkultisten, die nichts unversucht ließen, ihre weltfremden Ansichten mit Gewalt ins Volk zu bringen. Fester Überzeugung schrieben sie, alles im Griff zu haben, doch dass sich diese Freiheitskämpfer so weit vorwagen, ist ein schlechtes Zeichen.
»Wie bitte?« Der General springt hoch und donnert das Glas auf den Tisch. »Wurden Sie nicht zuletzt in Kortium gesichtet?«
»Soweit ich informiert bin, ja, Sir.«
»Sie trauen sich jetzt schon bis nach Rauheim?« Eric ballt die Hände zu Fäusten. »Fahren Sie den Wagen vor. Wir brechen zur Grenze auf.«
Ein weiteres Salut später, verschwindet der Sekretär so schnell er kam, wonach der General meinen Blick sucht. »Folgen Sie mir. Der katastrophale Abend ist zu Ende«, bestimmt er, reicht mir seine Hand und führt mich aus dem Restaurant. Die überraschten Hotelmitarbeiter sehen uns tuschelnd nach, als wir eilig durch die Eingangshalle laufen. Ihre Verwirrung weißt darauf hin, dass die Nachricht des Anschlags noch nicht bis in den siebten Distrikt drang.
Weil ich hinter dem General öfter stolpere, als dass ich laufe, reiße ich mir auf halbem Weg die Hackenschuhe ab und überwinde den Rest zum Automobil barfuß. Erics Reaktion darauf ist einzig das Heben seiner Augenbrauen. Kaum sitzen der General und ich, fährt der Wagen los.
»Ziehen Sie sich um«, weist mir Eric ruhig an, während wir die Einfahrt verlassen und der Hauptstraße nach Distrikt Sieben folgen. »Sie steigen mit Abstand zur Grenze aus. Den heutigen Tag behandeln Sie diskret.«
»Ja, Sir«, lautet meine Antwort, bevor ich mich umziehe.
Es dauert eine Viertelstunde, bevor wir am äußeren Ring des neunten Distrikts ankommen. Am Marktplatz versammelten sich viele neugierige Menschen, die ihre Hälse zu den Militärfahrzeugen recken, die in Richtung Grenze fahren. In einer Nebengasse des Marktes lässt mich der General aussteigen. Dann stehe ich so unvermittelt allein da, als wäre ich ein kleines Kind, das sich verlief. Trotz des Spätfrühlings, reibe ich meine Arme, die mich frösteln. Eben aß ich mit dem Sohn des Staatsgenerals im Militärhotel und nun stehe ich mitten im Nirgendwo. Während ich nach Hause laufe, fahren drei weiterer Fahrzeuge der Militärpolizei an mir vorbei. Um mich herum tuschelt ein jeder über den Anschlag. Manche sprechen von monströsen Erscheinungen, andere von einer Verschwörung gegen den Staat. Mein Plan, mich so wenig in diese Angelegenheit wie möglich einzumischen, wird jäh zerstört, als ich unter den Schaulustigen an der Straßenbeuge Jakob entdeckte. Kurz überlege ich, ihn stehenzulassen, doch ich seufze und trete zu meinem besten Freund. »Was machst du da?«
Jakob wirbelt mit offenen Mund herum, bevor er zu strahlen beginnt. »Felix! Wo kommst du denn her? Ich sorgte mich um dich, nachdem du mit dem General verschwandest.«
»Wann tust du das nicht?«
»Ist alles in Ordnung mit dir? Du siehst furchtbar blass aus.« Jakob versucht mir eine Hand an die Stirn zu legen, doch ich schlage sie weg.
»Wichtiger ist gerade: Was ist da passiert?« Ich zeige mit dem Finger auf die abgesperrte Grenze. Mehrere bewaffnete Militärpolizisten patrouillieren vor dem Zaun. Aus diesem Winkel erkenne ich einzig Fahrzeuge und wuselnde Menschen auf dem Hof.
»Ein Anschlag. Anscheinend fünf dieser Freiheitskämpfer, über die man redet. Diesmal sollen sie fünf unserer Kameraden getötet haben.«
»Heilige Scheiße...«, fluche ich. »Gut, dass es uns nicht erwischt hat. Besser sie als wir.«
»Hättest du um mich getrauert, wäre ich erschossen worden?«, albert Jakob herum. Seinem spielerischem Wippen nach erwartet er, dass ich ihm in die Seite stoße.
Doch ich tadele ihn: »Damit macht man keine Scherze.«
Jakob kratzt sich betreten am Hinterkopf. »Tut mir leid. Du sahst aus, als könntet du einen Spaß vertragen.«
»Was ich jetzt brauche, ist eine Zigarette«, stöhne ich am Ende meiner Kräfte. »Und ein Bett.«
»Nun...« Jakob mustert das neue Militärfahrzeug, das vor der Grenze hält. Eine Gruppe Soldaten springt heraus, die im Gleichtakt auf den Hof marschiert. »Eigentlich müssten wir dort jetzt auch hin, oder? Im Notfall die Einheit aufsuchen und den Dienst antreten, so heißt es.«
»Wir könnten einfach so tun, als hätten wir nichts mitbekommen«, schlage ich vor, was ich mit einem eigenen Seufzen widerlege. »Musste das wirklich heute sein?«
»Lass uns gehen, sonst wird es nur schwieriger.« Weil Jakob weiß, dass ich Körperkontakt nicht sehr schätze, zieht er mich am Saum meines Hemdes über die Straße.
Wir schlängeln uns am Militärwagen vorbei, bevor uns die Wachen mit geladenen Gewähren empfangen. »Das hier ist gesperrter Bereich, nehmen Sie – «, beginnt einer von Ihnen, bevor seine Augen auf Jakobs und meine Schärpe treffen. In einem geschmeidigen Schritt treten sie beiseite, um uns passieren zu lassen.
Betriebsames Gewusel empfängt uns im Grenzhof. Das eifrige Diskutieren der Hauptmänner vermischt sich mit schnellen Schritten der Soldaten, die von der Basis in die Lagerhallen hasten. Hin und zurück und hin und zurück, dabei die Hände mit Kameras, Waffen und Tücher gefüllt. Fünf Meter vor den Wachhäuschen haben sich zwei große Lachen Blut verteilt, hinter ihnen drei weitere. Das Blut klebt zwischen den Backsteinen der Häuschen und läuft ihren Scheiben herab.
Kaum betreten Jakob und ich die Basis, empfängt uns ein aufgeregter Graustein. Er drängelt sich im Eingangsbereich zwischen zwei Militärpolizisten hindurch. Vor uns haltend wedelt er so kopflos mit den Händen herum, als sah er heute das erste Mal Tote. »Endlich seid ihr da! Unsere Einheit ist auf sechs Soldaten geschwunden!«, jammert er und wischt sich den Schweiß mit einem durchtränkten Tuch von der Stirn. »Los, los! Umziehen und zum Dienst antreten!«
Zusammen mit Jakob schleife ich mich in die Umkleide. Anschließend suche ich eine Ersatzuniform aus meinem Spind heraus. »Das wird eine lange Nacht...«
Jakob zieht sein Hemd über den Kopf, bevor er es ordentlich faltet. »Wenn du nachher ein Nickerchen einlegen solltest, stehe ich Wache«, bietet er mir lachend an, was ich ihm sogar glaube.
»Vielleicht noch einen Kaffee im Büro des Offiziers«, plane ich meine niemals stattfindende Pause und ziehe mir mein eigenes Hemd über den Kopf.
Ich drehe mich zu meinem Schrank. Um an meinen Kleiderbügel mit der Uniformjacke zu reichen, der nach hinten rutschte, greife ich so weit hinein, dass meine Schulter verschwindet. Plötzlich spüre ich eine Berührung an meinem rechten Hals, wodurch ich heftig zusammenzucke und meinen Kopf gegen die Spindtür stoße. Schnell zieht Jakob die Hand zurück. »Entschuldige.«
Zischend berühre ich die kribbelige Stelle an meinem nackten Hals. Auf eine seltsame Art fühle ich mich jetzt so unbekleidet vor meinem besten Freund. »Was sollte das?«
»Am Hals...«, murmelt er leise. »Die rote Stelle dort – seit wann hast du sie?
In der Umkleide befindet sich ein verschmierter Spiegel über dem Waschbecken, zu dem ich gehe und meinen Kopf zur Seite drehe. Meine Augen weiten sich, denn ich stelle fest, dass mir dieses widerliche Arschloch einen Knutschfleck hinterlassen hat. Nachdem ich meine Hand auf den roten Punkt schlage, eile ich zum Schrank zurück, an dem ich mich schnell anziehe, um das verräterische Zeichen zu verstecken.
»Felix?« Jakob versucht meinen Blick einzufangen, indem er sich auf die Bank setzt und sich unter mich schiebt. »Was ist das an deine Hals? Ist das ein... – «
»Nichts«, unterbreche ich ihn mit der lausigsten Antwort, die mir einfiel. Nichts? Dieses Wort impliziert doch, dass ein Geheimnis vor sich geht.
Wenige Sekunden später stecke ich in meiner Uniform, wohingegen Jakob regungslos dasitzt. Wie ein Kontrolleur beobachtet er mein jedes Strecken und Streifen der Kleidung.
»Hast du nichts besseres zu tun, als mich zu beäugen?«, fauche ich beim Zuschließen meines Spindes. »Pass auf, sonst fallen dir noch die Augen aus den Höhlen.«
»Felix, warte bitte.« Jakob zieht mich von der Bank aus an meiner Jacke zurück, als ich gehen will. »Wo warst du mit dem General? Ihr seid in Richtung Distrikt Sieben gefahren, als er dich mitnahm. Die Zeit abgezogen, die du für den Rückweg benötigt hättest, wärst du im Neunten abgesetzt worden, wart ihr zwei Stunden allein.«
Ich balle die Fäuste. Jakob hat einen scharfen Verstand, wie ich ihn bisher nur beim General erlebt habe. Während ich in meiner Ausbildung im Rechnen die Kästchen ausmalte, löste er die Prüfungsaufgaben der Universität. Während ich nach dem Dienst auf meinem Bett ruhe und die Wand anstarre, sitzt er am Boden und liest mir aus Biographien geschichtsträchtiger Männer vor. Mein Verstand reicht nicht an seinen heran, das weiß ich. Darum weiß ich auch, dass ich vorsichtig sein muss. Jeder winzige Hinweis reicht bei diesem schlauen Köpfchen aus, um eins und eins zusammenzuzählen – Wenn Jakob nicht längst Verdacht hegt.
Ich reiße meine Jacke aus seinen Fingern. Ohne ihn anzusehen, bestimme ich herrisch: »Das geht dich rein gar nichts an. Weißt du, wie anstrengend du bist? Felix hier, Felix da – Hast du kein eigenes Leben? Wir sind Freunde, keine Geschwister und erstrecht bist du nicht meine Ehefrau. Du engst mich ein, ist dir das überhaupt bewusst!«, platzt der Stress der letzten Tage aus mir heraus. »Zeitweise kann ich nicht mal atmen, weil du ständig um mich herum bist! Unsere Kameraden reden nicht mehr mir dir, weil du dich nur um mich scherst und sie abweist, sobald sie einen Schritt auf dich zugehen! Im Gegensatz zu dir mag ich keine Menschen und Kontakt strengt mich an. Halte dich verdammt nochmal aus meinem Leben raus!«
Ohne Jakob eines Blickes zu würdigen, stampfe ich aus der Umkleide. Im Flur zum Auditorium werde ich langsamer, bis ich neben unserer Landesflagge am Fenster halte. Stöhnend lehne ich mich gegen die Wand. »Tut mir leid...«, flüstere ich in der Hoffnung, dass Jakob mit seinem hellen Verstand auch Gedanken lesen kann. Für seine aufopfernde Fürsorge müsste ich ihm auf Knien danken, doch was tue ich? Ich schreie ihn an und benutze ihn als Zielscheibe für meine angestaute Angst. Dieser teuflische General... wäre ich an dem Abend nur nicht in die Gasse zwischen den Lagerhallen gerannt, um nach einem Flüchtigen zu sehen. Wenn Jakob mir wegen meines Ausbruchs nun die Freundschaft kündigt, kann ich gleich von der nächsten Brücke springen.
»Hey, Grenzi!«
Automatisch hebt sich mein Kopf zu den beiden Militärpolizisten, die den Flur vor mir passieren, um wohl aus den Büros hinter mir Dokumente zu holen.
»Was machst'n da? Vor der Arbeit drücken?« Der Blonde hält schelmisch grinsend vor mir. »Mann, deine Freunde hat's echt erwischt«, lacht er grausam. »Die Kugeln haben so richtig die Leber dieses einen durchtrennt. Das gab eine Sauerei. Danke, dass wir das jetzt saubermachen dürfen, Grenzi.«
Mein ruhiger Blick liegt auf den gelben Schärpen der Polizisten – kaum trägt ein Mann sie, fühlte er sich übermächtig. Offiziell gibt es keinen Unterschied im Dienstgrad zu einem Grenzwärter, doch die wenigen Plätze der Polizei und die besseren Unterkünfte führen nicht gerade zu Minderwertigkeitskomplexen bei den Auserwählten.
Ohne auf ihre Sticheleien einzugehen, umrunde ich den Blonden, was dieser mit einem genervten: »Du da, warte!«, kommentiert. »Ganz schön eingebildet, mitten im Gespräch wegzulaufen.«
»Für mich besteht ein Gespräch aus zwei Parteien«, erkläre ich kühl über die Schulter. »Sie sprachen gerade mit... wem?« Damit lasse ich die knurrenden Polizisten stehen, um mich in das Auditorium zu begeben, in dem ein Haufen Werkzeuge und Apparate aufgestellt wurden.
Vor der erhöhten Plattform stehen Tische mit verstreuten Akten, Fotoapparaten und Überwachungskameras. Daneben bauten die zwanzig Leute im Raum einen Videorekorder auf, mit dem sie die Ereignisse Revue passieren lassen. Dort steht auch General Goldrat, der besonnene Anweisungen an seine Untergebenen verteilt.
Auf weißen Tragen am Boden liegen meine verstorbenen Kameraden und die vier Attentäter mit einem Tuch bedeckt. Neben ihnen stehen zwei der Überlebenden, die sich angeregt mit Graustein und einem Reporter der staatlichen Tageszeitung über die armen Leben unterhalten, die von uns geschieden sind. Nicht, dass es einem von ihnen wirklich Kummer bereitet, doch sie bemitleiden sich gerne. Da ich Heucheleien verabscheue, lehne ich mich lieber mit verschränkten Armen gegen einen der aufgestellten Tische. Dabei liegt mein Blick auf dem knirschenden Rekorder, der den Anschlag abspielt.
Aus einer erhöhten Perspektive sind die fünf Wachhäuschen zu sehen. Fünf auffällige Männer verteilten sich auf jede Reihe. Drei, die in die Stadt führten, zwei aus ihr hinaus. Sie schafften es, sich so einzuordnen, dass sie zeitgleich an den Häuschen standen. Sobald die Lampen grün leuchteten, rissen sie ihre schwarzen Mäntel vom Leib herab, unter denen sie Pistolen hervorzogen. Bevor meine Kameraden reagieren konnten, schossen sie wild los, ohne jedoch die Bürger zu treffen. Die aufgeschreckten Zivilisten rannten nach allen Kräften vom Grenzhof, bevor Verstärkung aus der Basis stürmte. Die Terroristen wurden noch im Kampf erschossen – bis auf einen ramponierten Mann, den meine Kameraden entwaffnen und vom Hof abführen konnten.
Am Ende der Aufnahme diskutiert der General mit einem fremden Mann in bestückter Uniform. Seinen Schulterplatten zufolge ist das Oberst Francis Ruß – Erster Offizier der Militärpolizei in den Distrikten Vier bis Neun. In den Tuscheleien der geschwätzigen Bürger heißt es, seine leichenblasse Haut sei von tiefblauen Augenringen gezeichnet, was keine Übertreibung ist. Seine blonden Haare sollen – so der Tratsch – niemals einen Zentimeter verrutschen und seine blauen, leblosen Augen gefrieren jeden zu Stein.
Als er meine ausgiebige Beobachtung im Nacken zu spüren scheint, dreht er sich herum, sodass sich unsere Blicke treffen. Ertappt reiße ich den Kopf herunter und stelle mich ordentlich hin. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie er dem General ins Ohr flüstert, woraufhin Eric einen Blick über seine Schulter wirft. Einen Moment ruhen seine Augen auf mir. Dann wendet er sich mit dem Oberst wieder den ausgebreiteten Unterlagen zu.
Um Ärger zu vermeiden begebe ich mich zu Graustein, der seinen dramatischen Bericht bei der Zeitung mit einem Foto beendet, auf dem er kräftig ins Taschentuch schnäuzt. Da der Reporter verschwindet, scheucht er seine Männer zurück an die Arbeit.
»Felix!« Graustein wirft sein benutztes Taschentuch achtlos zu den Leichen am Boden. Seine Gedanken dabei kann ich förmlich lesen: Müll ist Müll. »Begeben Sie sich in den Zellendistrikt«, weist er mir ohne die Schleimereien von heute Morgen an. »Der dort inhaftierte Attentäter steht noch zur Befragung aus.« Leiser fügt er an: »Wenn Sie schlau sind, bekommen Sie ein paar Informationen aus dem Kerl heraus. Möglicherweise wird Sie der General für Ihre gute Leistung – unter meine Führung selbstverständlich – entlohnen.« Er zwinkert. »Seien Sie nicht zu zimperlich. Der Mann wird sowieso sterben, was machen da ein paar Brüche aus?«
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