Kapitel 3
Tick, Tack. Tick, Tack. Tick, Tack. Tick, Tack.
Das unaufhörliche Ticken der Kuckucksuhr kommt mir wie meine ablaufende Zeit auf dieser Welt vor.
Tick, Tack. Tick, Tack.
Seitdem mich der General in Offizier Grausteins Büro bringen ließ, sitze ich auf seinem Sofa und warte darauf, dass er kommen würde, um mich endlich zu entlarven. Während ich an meinem Fingernagel knabbere, denke ich über eine Möglichkeit nach, zu überleben. Soll ich aus dem Fenster springen? Soll ich versuchen, mich zu wehren und den General bewusstlos schlagen, wenn er den Raum betritt?
Tick, Tack. Tick, Tack.
Warum um alles in der Welt Tee? Vermutet der General, Alicia hätte eine Verbindung zu Felix, also mir...?
Tick, Tack. Tick, Tack.
Plötzlich wird die Tür aufgerissen. Ganz die feine Dame, stehe ich mit gesenktem Blick hoch, als der feine Herr den Raum betritt und sich auf den Sessel gegenüber niederlässt. Er gibt mir mit einer Handgeste zu verstehen, dass ich mich setzen darf. Meine Knie wabern, als ich mein Kleid nach unten streife und mich zurücksetze. Offizier Graustein persönlich bringt uns den fruchtig riechenden Tee, den mir Eric versprochen hat. Damit, dass er diesen Teil ernst meinte, habe ich nicht gerechnet. Schleimig grinsend stellt Graustein das Tablett mit Tassen, Kanne und Zucker auf dem tiefen Wohnzimmertisch ab, bevor er uns beiden eingießt. Anschließend steht er im Raum herum, als wäre er ein ungebetener Gast, der sich in die falsche Besprechung geschlichen hat. Ein kalter Blick des Generals reicht aus, damit der Offizier endlich darauf kommt, den Raum zu verlassen, auch wenn ich mir wünsche, dass er nicht geht.
Eric nimmt seine Tasse und überschlägt die Beine elegant. Weil er seinen Mantel abgelegt hat, sehe ich nun alle seine Abzeichen – eine Menge Plaketten, deren Bedeutung ich nicht kenne.
»Bitte, probieren Sie einmal«, lädt er mich ein, was ich mit einem energischen Kopfschütteln ablehne. Widerworte scheint er nicht zu ertragen, denn daraufhin befiehlt er zornig: »Sie sollen trinken.«
Aufgrund meiner zitternden Hände schwappt die Flüssigkeit beinahe über den blumig verzierten Rand, als ich die Tasse an meine Lippen führe. Nach dem ersten Nippen stelle ich fest, dass das Getränk viel zu heiß ist, um davon zu trinken. Damit ich den General allerdings nicht weiter erzürne, nehme ich einen großen Schluck, der meine Zunge verbrennt, bevor ich die Tasse zurück auf den Tisch stelle. Vom Geschmack nahm ich lauter Aufregung nichts wahr.
»Trifft der Tee Ihre Vorlieben?«, hakt Eric ruhiger nach.
Ich nicke.
»Früchtetee ist das Getränk der Frauen, so heißt es, neben dem Rotwein. Ich meinerseits bevorzuge schwarzen Kaffee.« Er probiert vom Tee. »Sie tragen ein hübsches Kleid. Haben Sie es selbst geschneidert?«
Ich schüttele den Kopf.
»Warum sprechen Sie nicht mit mir? Fürchten Sie, ich reiße ihnen die Gewänder vom Leib?« Eric schmunzelt, was in einer anderen Situation als charmant angesehen werden könnte, nun jedoch nichts als einen ekligen Schauer über meinen Rücken jagt. Seine langen Finger streichen das edle Porzellan entlang. »Vielleicht sollte ich das ja tun. Möglicherweise finden Sie dann Ihre Stimme wieder.«
Mein Schlucken ist so laut, ich fürchte, er kann es auf der anderen Seite hören. Wie gerufen, steht Eric hoch und schlendert hinter das Sofa. Ich ziehe die Schultern ein, auf denen er seine Hände ablegt.
»Obwohl Sie recht süß in diesem Kleid aussehen, fühle ich mich langsam veralbert.« Die sanfte Berührung an meinen Schultern wandelt sich zu einem Krallen in meine Haut. »Wollen Sie nicht mit dem Versteckspiel aufhören?«
Meine Augen weiten sich und mein Mund öffnet sich im erschrockenen Versuch, nach Luft zu schnappen.
Langsam beginnen Erics Finger über meinen nackten Hals zu schleichen. Es fühlt sich wie das Kitzeln einer Feder an, die mir gleich darauf ihren spitzen Kiel in die Kehle rammen könnte. Von hinten kann er nicht sehen, wo genau er ziehen muss, um den Knoten meiner Sommerhaube zu lösen, darum lässt er sich Zeit, meinen Hals zu erkunden. Sobald er meine Kopfbedeckung desinteressiert ins Sofa fallen lässt, kommen meine mittellangen, roten Haare zum Vorschein. Keine Frau, nur Felix Sommer. Und der General weiß es.
»Ich muss schon sagen... So manch einer versuchte mich auszutricksen, aber Sie sind ihnen wahrlich einen Schritt voraus«, kichert er, was sich für mich wie das Jaulen des Teufels anhört, der sich darauf freut, mich sterben zu sehen.
»Ich...«, verlässt meinen Mund, bevor ich überhaupt weiß, was ich sagen will. Soll ich alles abstreiten, mich gegen die Vorwürfe wehren und behaupten, ich sei ganz zufällig in ein Kleid gefallen? Meine Schultern sinken herab, denn das Spiel ist zu Ende. »Warum haben Sie mich hierherbringen lassen, wenn Sie wissen, wer ich bin?«
Eric setzt sich zurück in seinen Sessel. Ohne Haube fühle ich mich entblößt, da wir uns nun direkt in die Augen sehen.
»Ich war recht überrascht, als Sie gestern mit einer Waffe auf mich zielten. Sie wissen nun wer ich bin, denke ich?«
»J-Ja, Sir.«
»Nein, nein, sehen Sie mich an«, befiehlt er mir, als ich meinen Blick senken will. »Rote Haare sind sehr selten. Die meisten würden es als einen hässlichen Makel bezeichnen.«
Worauf will er hinaus? Findet er bloß gefallen daran, mich noch weiter zu demütigen?
»Sie habe keine Familie, nicht wahr? Ihre Eltern starben im Krieg und Sie sind auch nicht verheiratet. Also bleibt Ihnen nur Ihr kleiner Freund? Wie hieß er? Jakob? Er spielte seine Rolle recht überzeugend.«
»Bitte!«, begehre ich auf. »Er hatte nichts mit alldem zu tun. Es war meine Idee. Tun Sie mit mir, was Sie wollen, aber lassen Sie ihn aus dem Spiel... Ich flehe Sie an.«
Der General lehnt sich genießerisch in seinem Sessel zurück, während er mich auf eine Antwort zittern lässt. »Dann fallen Sie auf die Knie und flehen Sie um Vergebung.«
Ohne nachzudenken folge ich seinen Worten, rutsche vom Sofa und knie mich im Kleid auf den dreckigen Boden. Ich muss wie die Torheit selbst aussehen, da ich diesem offensichtlich sarkastischen Befehl folge. »Es ist nicht seine Schuld. Bitte vergeben Sie Ihrem treuen Gefolgsmann...«
Eric lacht auf. »Das lässt sich einrichten.«
Mein Kopf wirbelt hoch.
»Ziehen Sie das Kleid aus.«
»P-Pardon?«
»Es stört mich. Sie sollen es ausziehen.«
Ich sehe mich um, in der Hoffnung, er würde meine stumme Frage verstehen, wie ich mich vor ihm unbemerkt ausziehen soll, noch dazu ohne Wechselsachen. Eine Antwort bleibt mir verweht. Der General verschränkt lediglich die Arme und sieht mit wartendem Blick auf mich herab.
Schluckend beginne ich damit, die Bänder des Korsetts aus ihrer Halterung zu lösen. Weil ich zum ersten Mal ein derart kompliziertes Kleidungsstück trage, dauert es zwei Minuten, bis ich alle Schnallen geöffnet habe und das Lederstück auf den Boden ablegen kann. Anschließend suche ich den Blick des Generals.
»Weiter. Worauf warten Sie?«
Ich kralle mich in den rauen Stoff des Kleides. »Wieso soll ich – «, beginne ich, stoppe allerdings sofort, denn der General stemmt sich seufzend aus seinem Sessel.
Er hockt sich zu mir herunter, wie zu einem unfähigen Kleinkind, das zu tadeln ist. »Sind Sie auch noch taub? Was verstehen Sie an dieser simplen Anweisung nicht?«
Sobald ich nach hinten weichen will, reißt er mich an den Haaren zurück. »Was gestern geschehen ist: Dafür werden Sie sterben, das ist Ihnen doch bewusst?«
Ich nicke zittrig.
Erics legt seine freie Hand an meine Wange, ehe sein Daumen über meine trockenen Lippen streicht. Plötzlich drückt er sie auseinander und dringt in meinen Mund ein. Schlagartig kralle ich mich in den Ärmel seines Jacketts, wage nicht nach Luft zu schnappen. Sein Daumen bewegt sich den Rändern meiner Zähne entlang, dann drückt er meine Zunge herunter, wodurch Speichel über meine Mundwinkel läuft und mein Kinn hinab tropft. Ist das eine Art der Folter? Denn wenn nicht, könnte das was der General gerade tut und von mir verlangt hat, bei Fremden beinahe den Gedanken an eine sexuelle Absicht auslösen. Was unmöglich ist. Sodomie war seit der Gründung des neuen Reiches strengstens verboten.
Eric zieht seinen Daumen aus mir, bevor er mir diesmal seinen Zeige- und Mittelfinger zwischen die Lippen führt. Durch seine Hand an meinem Hinterkopf kann ich nicht zurückweichen. Seine langen Finger streichen meine raue Zunge entlang, öffnen sich und umschließen ihre Seiten. Was passiert hier gerade? Unmöglich würde ich von einem anderen Mann sexuell missbraucht werden...
Als er zum Glück seine Finger aus mir zieht, beginne ich zu husten, was er mit einem faszinierten Glitzern in den Augen beobachtet. Dabei streicht er mir verirrte Strähnen von meinen roten Wangen. Anschließend kramt er aus der rechten Tasche seines Jacketts etwas hervor, das er mir in die Hand legt. Eine gelber Chip – so viel wert wie zehn braune Chips und ein Zehntel so viel wert wie ein roter Chip. Diese sind im neunten Distrikt aber nicht im Umlauf, weil niemand hier so viel Geld besitzt.
»Was... soll ich damit?«, frage ich hustend.
Sichtlich gut gelaunt verschränkt der General die Arme auf seinen angewinkelten Knien. »Sie gaben mir gestern drei Chips, ich gebe Ihnen zehn. Mein Vater lehrte mich, dass Schweigen Gold wert ist. Finden Sie nicht, dass die gelben Chips ein wenig golden schimmern?«
»Ich verstehe nicht... Wieso spielen Sie mit mir?«
»Jeder mag Spiele, oder etwa nicht?« Da er sich drohend über mich lehnt, bereue ich sofort meine unüberlegten Worte. »Aber ohne Spielzeug wird es schnell langweilig. Und das richtige zu finden, kann sich als recht mühsam herausstellen, wenn man... ständig beobachtet wird.«
»Was... wollen Sie damit sagen?«
Seine Antwort ist ein gewaltsamer Griff um meine Kehle, mit dem er mich gegen die Kante des Sofas stößt. Obwohl ich mich kraftvoll gegen seine Schultern stemme, ist er zu stark, als dass ich mich befreien kann. Er raunt in mein Ohr: »Stellen Sie sich nicht dumm. Sie entsprechen genau meiner Vorstellung.«
Plötzlich presst er mir seine Lippen auf den Mund, doch ich schiebe ihn an der Wange mit aller Kraft zurück. »Stopp!«, schreie ich mit rasendem Herzen, was ihn wenig interessiert, da er mir seine Lippen ein weiteres Mal gewaltsam aufzwingt. Diesmal allerdings beiße ich ihn, wodurch er zurückzuckt und ich meine Chance nutze, um aufzuspringen und in die andere Ecke des Raums zu flüchten.
Auf Erics Stirn pocht eine Wutader. Er wischt sich das Rinnsal Blut von der Lippe, das seinen Daumen kaum benetzt, so schwach habe ich ihn gebissen. Doch ist es gleich, wie viel Kraft ich benutzt oder welche Absichten ich verfolgt habe – Ich habe ihn verletzt und damit meine letzte Chance verspielt, Jakob zu retten. Schleichend langsam erhebt sich der General, bevor er zu mir schlendert, wie beim Trödeln durch ein Geschäft. So weit ich nur kann, presse ich mich an die Wand, meine Fingernägel in den Putz krallend.
Mit einem charmanten Lächeln hält Eric vor mir, den panischen Ausdruck auf meinem Gesicht musternd. Er streichelt mir über die Wange. »Shhh... Ich bin Ihnen nicht böse. Es ist alles in Ordnung.«
Seine heuchlerische Worten sofort wiederlegend, verpasst er mir eine harte Ohrfeige, die meinen Kopf zur Seite wirft.
»Aber tun Sie das nie wieder. Heute werde ich darüber hinwegsehen, weil ich in guter Stimmung bin.« Indem er meinen Kiefer gewaltsam umschließt, zwingt er mich, ihm in die Augen zu sehen. »Haben Sie das verstanden, oder brauchen Sie eine zweite Erinnerung?«, fragt er mit erhobener Hand.
Ich nickte wie betäubt.
»Gut.« Er tätschelt meinen Kopf, was das herabwürdigenste Gefühl ist, das ich jemals verspürt habe. »Haben Sie keine Angst. Ich habe nicht vor, Sie heute zu töten. Sie werden nach Hause gehen, mit Ihrem kleinen Freund und die Chips dürfen Sie auch behalten. Sind Sie mir nicht dankbar?«
Sein selbstgefälliger Ausdruck lässt mich begreifen, dass er diese perfide Frage tatsächlich ernst meint. Darum antworte ich schwach: »J-Ja, Sir...«
Auf einmal klopft es. Grausteins Stimme klingt durch die geschlossene Tür: »Mein General, ist alles in Ordnung? Ich hörte es rumpeln, und...«
»Mein Gast wollte gerade gehen. Bitte begleiten Sie die junge Dame vom Gelände. Ich werde sie gleich zu Ihnen schicken.« Erics Augenbrauen wandern in die Höhe als ich mich nicht rühre. »Worauf warten Sie?« fragt er mich mit einem Nicken in Richtung meiner abgelegten Gewänder.
Ich haste zu meinem Korsett, dass ich so schnell anziehe, dass manche Fäden lose neben den Schnallen hängen und manche sich fest in meine Haut schnüren. Als ich nach der Kopfbedeckung greife, schnappt der General sie mir unter der Nase weg. »Vergessen Sie ihre hübsche Haube nicht«, verkündet er und setzt sie mir auf den Kopf, weshalb ich zusammenzucke. Schmunzelnd bindet er die Schleife unter meinem Hals zusammen, während ich die Augen auf seine polierten Schuhspitzen richte. Mein Zittern hindert ihn nicht daran, sich alle Zeit zu nehmen, um die pinken Bänder zu einem perfekten, kleinen Kunstwerk zu zaubern. Anschließend hebt er die Haube an den Rändern, um meinen scheuen Blick einzufangen. »Haben Sie das Geld?«
Ich hole den gelben Chip aus meiner Jackentasche und halte ihn als Antwort vorsichtig hoch.
»Gut.« Er legt den Kopf schief, sodass ich befürchte, er würde mir seine Lippen ein weiteres Mal aufzwingen. Stattdessen verengten sich seine Augen zu einer charmanten Drohung. »Ich hoffe, Sie wissen meine Gutmütigkeit zu schätzen. Gehen Sie jetzt nach Hause. Machen Sie sich um den Offizier keine Sorgen und treten Sie das nächste Mal wie gewohnt Ihren Dienst an. Sie werden in nächster Zeit von mir hören und ich hoffe auf... wohlgesonnene Rückmeldungen.«
Der General führt mich aus dem Zimmer zu Offizier Graustein, wobei mein Körper wie zu Eis erfroren ist. Erst nachdem mich Graustein über den Grenzhof bringt und vor dem meterhohen Zaun absetzt, geben meine Knie nach, sodass ich an der Hauswand zu Boden rutsche.
»Sieh mal Schatz, die Frau...«, flüstern Passanten, die an der Hauptstraße entlanglaufen. »Schau nicht hin...«, höre ich und: »Armes Ding. Ihr Kleid ist völlig zerzaust. Soldaten sind Schweine...«
Ich kralle mich in die aufgesprungene Straße, versuche tief durchzuatmen und sage mir selbst: Es ist nichts geschehen. Du hast nichts gesehen oder gehört. Fall nicht weiter auf! – Die Lebensweisheit der meisten Leute im Land.
Schwerfällig stemme ich mich wieder auf die Beine und schleife mich über die Hauptstraße, bis ich bei den privaten Geschäften ankomme. Zur Mittagszeit ist im neunten Distrikt recht belebt – im Vergleich zur Totenstille, die sich abends einfindet. Leute eilen zu den wenigen schäbigen Geschäften, die unabhängig vom Staat geführt werden, andere spazieren mit ihren Kindern in Richtung Distrikt acht, der morgen für uns öffnet. Ab und an sieht man sogar ein Automobil – Natürlich sitzt niemand aus dem neunten Distrikt darin, denn ein Fahrzeug könnte sich hier niemand leisten.
Sobald ich mich mit dem Strom Menschen vermische, falle ich nicht mehr auf. Ich biege zwischen der alten Bäckerei und dem lausigen Friseur ein, hinter denen das Wohngebiet beginnt, das man hier im Volksmund eher Baracken nennt. Nachdem ich die Haustür hinter mir schließe, reiße ich die Haube von meinem Kopf. Da ich letzte Nacht alle meine Genussmittel aufgebraucht habe, schlinge ich mich zuerst aus dem Korsett, bevor ich mich in die kleine Ecke zwischen meiner Kommode und dem Bett fallen lasse. Meinen Kopf auf den angewinkelten Knien ablegend, versuche ich Ruhe zu finden.
Eric Goldrat – der Sohn des Staatsgenerals – betreibt Sodomie. Und er hat sehr eindeutig gemacht, dass ich ihm zu diesem Zweck dienen soll. Wenn dieser Skandal an die Öffentlichkeit gelangt, gäbe es eine Revolte, die das Land seit seiner Gründung noch nicht durchlebt hatte. Mir ist es gleich, ich halte nichts von der Politik. Sollen sich die Leute die Köpfe einschlagen und mit dem Finger auf andere zeigen, bis keiner mehr steht, solange sie mich in Ruhe lassen. Also warum ich?
Mein zittriger Atemzug ist so laut, dass ich befürchte, meine Nachbarn würden durchs Fenster luchsen und mich im Kleid entdecken. Alles was ich tun kann, ist weiter wegzusehen, nicht hinzuhören, meinen Mund zu halten und zu hoffen, man würde mich einfach vergessen.
Es ist kurz vor zwanzig Uhr, als meine Haustür aufgerissen wird und ich mein Wasserglas erschrocken durch den Raum schmeiße. Bevor ich Jakob über die plötzliche Störung tadeln kann, lässt er seine Taschen auf den Boden fallen und reißt mich in eine stürmischen Umarmung. »Ich bin so froh dich zu sehen! Als Graustein dich vom Gelände brachte, wollte ich hinterherrennen, aber ich konnte nicht...«, jammert er mit einer weinerlichen Stimme, die mich mein Gesicht verziehen lässt.
Ich stehe auf Zehenspitzen, um mein Kinn über seine Schulter zu strecken, wobei meine Arme kraftlos an den Seiten baumeln. »Du kannst mich jetzt loslassen.«
»Noch einen Moment?«
»Jakob«, dränge ich.
»Bitte...«
Obwohl ich die Augen verdrehe, lege ich meine Hände nun auch an seine Schultern, die innige Umarmung zumindest ein wenig erwidernd. Dann lässt er mich endlich los. Seufzend widme ich mich dem Scherbenhaufen meines Lieblingsglases.
»Warte, ich mach das.« Als sich Jakob zu mir herunter hockt und nach meiner Schulter greift, zuckte ich unbewusst so weit zurück, dass ich gegen meine Kommode stoße und ein schmerzhaftes Zischen abgebe. »Felix, was...«. Diesmal streckt Jakob seine Hand nach meinem Gesicht aus, doch ich schlage sie energisch beiseite. »Ist alles in Ordnung...? Was ist dort drinnen passiert, Felix?«
»Gar nichts«, lüge ich, stehe hoch und reibe mir über das Nasenbein. »Du hast ein eigenes Zuhause. Hör auf, ständig bei mir rumzulungern.«
Jakob folgt mir nach oben. Auf seiner Stirn erscheint eine misstrauische Falte. »Du kannst mir nichts vormachen. Was haben sie dir angetan? Haben sie dich gefoltert?« Er krempelt meinen Ärmel hoch, was mir eine ekelige Gänsehaut über den Rücken jagt. Darum winde ich mich aus seinem Griff und streiche mir über die Arme, als streife sie eisiger Wind.
»Du musst dir keine Sorgen mehr machen. Der General hat verstanden, dass... alles ein Missverständnis war. Er lässt es auf einer Verwarnung beruhen«, erkläre ich halbe Wahrheiten und füge gedanklich an: Damit er mich später missbrauchen kann. Selbst wenn Jakob zu einem guten Freund geworden war, bin ich letztlich der einzige, auf den ich mich verlasse. Hier muss ich allein durch.
»Wieso lügst du? Vertraust du mir etwa nicht? Hätte ich nicht mein Leben gegeben, um dich über die Grenze zu bringen?«
»Versuchst du mich auf emotionaler Ebene zu erpressen?«, rutscht mir heraus, weil sich meine Erinnerungen mit dem Jetzt vermischen.
»Das war nicht...! Wenn du dich unwohl fühlst, dränge ich dich nicht weiter... Es tut mir leid... Aber du sollst wissen, dass du mir alles erzählen kannst.«
Als er wie ein geschlagener Hund aus der Baracke trottet, ziehe ich ihn an der Uniform zurück. Dann angele ich die Kochschürze vom Esstisch, die ich ihm in die Hand drücke. »Und jetzt? Lässt du mich verhungern?«
Sein treues Lächeln findet auf seine Lippen zurück, weil er weiß, dass er nicht gehen soll. »Sei nicht böse... Ich weiß, dass du mich nicht anlügst...« Er beißt sich auf die Lippe. »Darf ich dich nochmal umarmen?«
Das letzte was ich mag, ist zu viel Körperkontakt, besonders nicht nach allem was heute geschehen ist. Aber es ist nur Jakob. Mein bester Freund würde mir nie wehtun. Ich seufze. »Aber beeil dich.«
Das lässt er sich nicht zweimal sagen, bevor er seine Arme um meinen Oberkörper legt und er mich so fest an sich drückt, als fürchte er, ich könnte mich direkt vor ihm auflösen. »Ich dachte wirklich, dass ich dich verloren hätte. Und ohne dich... hat nichts mehr einen Sinn.«
»Übertreibung ist nicht gerade dein Talent, oder?«, murmele ich sarkastisch.
»Das ist mein voller Ernst.«
»Ja, ja...«
»Lass uns morgen irgendwas unternehmen. Lass uns essen gehen oder wegfahren. Morgen ist Sonntag, da öffnen sie die Straßen in den achten Distrikt. Lass uns einfach irgendwas tun, um alles andere zu vergessen.«
Allmählich in Jakobs Armen entspannend, seufze ich. Vergessen klingt genau nach dem richtigen Vorgehen. An der Grenze ist nichts geschehen – dieser eine Satz, den ich immer und immer wieder sagte, wenn ich von meinem Dienst nach Hause zurückkehrte. Und heute geschah ebenfalls... nichts.
Anmerkung: Unter Sodomie verstand man im Mittelalter sexuelle Praktiken, die nicht der Fortpflanzung dienten, meist der Geschlechtsverkehr zwischen Männern. Heutzutage hat Sodomie eine andere Bedeutung. In dieser Geschichte wird der Begriff als eine abwertende Form der Homosexualität benutzt, den das Land Austeritas wieder eingeführt hat, nachdem der Krieg beendet war. Darauf wird in folgenden Kapiteln noch eingegangen, doch diese Anmerkung erschien mir wichtig, um Verwechslungen zu vermeiden.
Nachwort
Willkommen zurück! ^^
Wie immer hoffe ich, dass ihr auf das nächste Kapitel gespannt seid, das am Freitag folgen wird. Vielleicht habe ich dann auch wieder ein Bild dabei. Falls euch die Geschichte gefällt, gebt ihr doch ein kleines Sternchen. Es ist ganz unkompliziert, aber für mich eine große Unterstützung. Schreibt mir auch gerne eure Meinung in die Kommentare.
Ich wünsche euch eine schöne Woche.
Liebe Grüße
Goldkirsche
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