Kapitel 12
»Wenn ich mich nicht irre, sollen wir den General bewachen.«
Der Weinkeller ist ein feuchter, dunkler Raum mit altertümlichem Charakter. Der Geruch von Bier und Schweiß sammelt sich wie eine Dunstwolke über den Köpfen der feiernden Elitesoldaten, die ihr Leben in vollen Zügen auskosten. Die Nachzügler abgezogen, sind alle vierzehn der Einheit versammelt. Darunter auch männliche Städter, die mit den Soldaten um Chips Dart spielen und sich über die schweren Arbeiten in den Mienen beschweren.
»Es ist nur dieser Abend, keine Sorge«, versichert mir Konstantin. Einer der Männer schmeißt ihm einen Bierkrug zu, den er an mich weiterreicht. Dann klopft er mir als Ermutigung auf die Brust. »Du bist der Neue bei uns, also musst du ein paar Kontakte knüpfen.«
Damit stößt er mich kraftvoll in den Raum hinein, sodass der Schaum meines Biers überquillt. Murrend falle ich auf die Bank eines leeren Tisches.
Wie ein Hase auf der Lauer nippe ich am Krug und beobachte die Männer. Als hätten sie keine Sorgen im Leben scherzen sie mit den Mädchen und plaudern sogar über unsere Mission. Einer von ihnen bekommt eine spaßhafte Schelle auf die Finger, als er versucht, unter den Rock seiner Tanzpartnerin zu luchsen.
In mir keimt der Wunsch auf, Spaßverderber zu spielen und bei Eric petzen zu gehen.
Vom Nachbartisch erhebt sich einer meiner neuen Kameraden und schwankt mit seinem Bierkrug heran. Seine Freunde folgen ihm und fläzen sich an meinen Tisch.
Als er sich zu mir über den Tisch lehnt, sticht mir seine Fahne in der Nase. »Felix, richtig?«
Ich schweige ihn an und wende den Blick ab. Eine eiskalte Schulter, die schon den ein oder anderen verscheuchte.
»Du hast gerade einen Korb bekommen, mein Guter!«, scherzt sein angetrunkener Freund und klopft meinem Gegenüber auf die Schulter. Die Runde lacht laut.
»Ich bin Günter!«, versucht er es erneut. Dann zeigt er auf seinen Freund, der den Witz riss. »Das ist Peter.« Sein Finger schwebt weiter über seinen Freundeskreis. »Da drüben haben wir den Frido, Ingo und Karl natürlich auch. Die anderen stelle ich dir nachher mal richtig vor. Sind eine bunte Gruppe, weißt du? Haben immer was zu lachen. «
»Meist doch über dich«, wirft Peter ein.
Ich lasse mich dazu herab, einen emotionslosen Blick über die Störenfriede zu schicken. Ingo und Karl schmeißen sich neben mich auf die Bank, wodurch ich die Schultern anziehe, um niemanden zu berühren.
»Bist ne harte Nuss, was?«, klagt Günter und winkt weitere Krüge Bier heran. »Keine Sorge, wir sind wirklich in Ordnung, wenn man uns erst kennt. Der Neue zu sein, ist immer kniffelig. Aber unter unserer Obhut taust du schon auf!«
»Hab gehört, der General ist durch die Auslese auf dich aufmerksam geworden?«, hakt Ingo neben mir nach, bevor er seinen Krug zur Hälfte leert.
»Ja«, lüge ich schmucklos.
»Es kann reden!«, brüllt Günter, wodurch die Runde ein ums andere Mal in anstrengendes Gelächter ausbricht.
»Nimm es ihm nicht übel, das ist eben unser 'Jünter, wie er leibt und lebt! Is n juter Kerl«, versichert mir Frido.
»Wie wäre es mir einer Runde Dart zum Warmwerden?«, schlägt Karl vor. Bevor ich protestieren kann, werde ich in die hintere Ecke des Weinkellers gezerrt. Das Murren krabbelt bereits meine Kehle hoch, da fällt meine Aufmerksamkeit auf einen jungen Mann, der seine Pfeile aus der Dartscheibe zieht. Die schwarzen Haare reichen ihm bis zu den Schultern, doch im Gegensatz zu seinen sanften Zügen, zeugt sein freier Oberkörper von der schweren Arbeit in den Mienen.
Er wirkt in Gedanken versunken, als er zu uns kommt. Zwei Finger gleiten durch seine samtenen Strähnen, während er den Gummi zwischen seinen Zähnen hält, um sich einen Zopf zu binden. Als sich seine Augen langsam heben und sich unsere Blicke treffen, stelle ich mit einem Schauer fest, dass er wachsamer ist, als es zunächst den Anschein hat. Er überfliegt meinen Körper so ausgiebig, dass ich es fast auf meiner Haut kribbeln spüre.
»Luca hier ist kein Mann der großen Worte...«, beginnt Peter und will dem jungen Arbeiter auf die Schulter klopfen. Ein kalter Blick reicht aus, damit Peter die Hand zurückzieht, als hätte er sich verbrannt. »...aber er hat uns heute Abend schon alle beim Dart geschlagen. Weißt du, wie man spielt?«
»Ich kenne die Regeln.«
Ehe ich mich versehe, drückt mir Luca drei der Pfeile in die Hand. Dann umrundet er mich, bleibt dicht an meinem Rücken stehen. Durch die plötzliche Nähe kann ich die Hitze seines unbekleideten Oberkörpers durch den Stoff meines Hemdes spüren. Er hebt meinen Ellenbogen an und beugt sich über meine Schulter. Mein Puls beschleunigt sich – Das ist doch verdammt nochmal kein Kontaktsport!
»Hier, so...«, raunt mir Luca mit warmer, heiserer Stimme ins Ohr. Über meinen Körper zieht sich warme Gänsehaut. Ich bin mir unsicher, was ich von der Situation halten soll. Sie weckt ein Gefühl der Vertrautheit in mir. Doch ich spielte nie Dart und ich trank auch nie Bier in einer Kneipe. Vertrauter fühlen sich eher Lucas Finger an, die über meinen Arm streichen, um den richtigen Halt zu finden. Sein lauter Atem in meinem Ohr und wie er sich von hinten über mich beugt. Als würde ich all das kennen... wie eine Vorahnung.
Er führt meine Finger an den Pfeil und demonstriert mir die richtige Bewegung für den Wurf. »Siehst du? Aus dem Handgelenk.«
Ich winde mich aus seinem Griff. »Verstanden.«
Luca stellt seine Füße auf, dann visiert er mit der Spitze seines Darts die Scheibe an. »Halten wir es kurz. Zwei Runden. 81 Punkte.« Kaum ausgesprochen, saust sein Dart in die Scheibe - mitten ins rote Auge. Die Zuschauer lassen nicht lange auf sich warten. Beim zweiten Treffer in die Mitte versammelt sich der ganze Weinkeller um uns herum. Anscheinend macht hier jemand ernst.
Nach seinem Abschluss der Runde mit 61 Punkten lehnt sich Luca mit verschränkten Armen an die Wand. Zwar erfüllt mich noch immer das unangenehme Gefühl seiner körpernahen Demonstration, doch sobald ich vor der Scheibe stehe, verfliegen alle meine Gedanken. Wie beim Schießen mit einer Waffe, suche ich einen festen Stand und konzentriere mich auf meinen Atem, bis ich vor meinen Augen nur noch diesen einen Punkt sehe, den ich treffen will.
Dreimal Bullseye.
Die Menge ist still, beobachtet mich wie gebannt, als ich den Platz mit Luca tausche. Ihr ungeschlagener Bezwinger hat einen ebenbürtigen Gegner gefunden? Das ist doch das Spektakel, nach dem sie sich diesen Abend sehnten.
»Sie haben noch nie gespielt?«, spottet Luca sarkastisch.
»Vielleicht im letzten Leben«, kontere ich. Für einen Moment blicken wir uns stumm in die Augen, bevor Luca seine zweite Runde antritt – und sie mit perfekter Punktzahl abschließt.
Die Menge um uns herum schließt bei meinen letzten Würfen Wetten auf den Gewinner ab. Als mein zweiter Pfeil allerdings sein Ziel verfehlt und die 14 trifft, begehren die Verlierer klagsam auf. Anschließend feiern sie Luca – den Sieger des knappen Duells – mit Krügen voll Bier. Ihr Klimpern durchs Anstoßen dringt noch zu mir, als ich die Treppen aus dem Weinkeller hinauf nehme.
Seufzend falle ich vor dem Hintereingang des Hotels an die Steinwand. Menschenmassen machen mich nervös. Was gäbe ich jetzt für eine Zigarette?
Als ich Schritte von unten vernehme, spüre ich bereits, wie die Anspannung meine Muskeln hinaufklettert. Ich runzele die Stirn, als es Luca ist, der neben mir hält.
»Das war nicht schlecht«, richtet er das Wort an mich.
Das ist ein Gespräch, das ich mir nicht herbeigewünscht habe, eigentlich tue ich das nie. »Danke«, lautet meine knappe Antwort.
»Du redest nicht viel.« Luca umrundet mich mit neugierigen Augen, die über meinen Körper wandern.
»Sagt der richtige. Du hast drinnen kein Wort gesprochen.«
»Ich rede, wenn es sein muss«, entgegnet er, bevor ein kleines Schmunzeln über seine Lippen huscht. »Mit den richtigen Leuten.«
»Ich fühle mich geehrt«, spotte ich sarkastisch.
»Gern geschehen, mein Auserwählter.« Luca deutet eine Verbeugung an, wodurch ich selbst schmunzele. Zumindest teilen wir denselben Geschmack an Humor.
»Du warst noch nie in Großbau, oder? Ich kann dich rumführen.« Seine Stimme ist klangvoll, fast als würde die Luft bei seinen Worten vibrieren. Doch sein Ausdruck ist so emotionslos, als hätte er seit Tagen nichts als graue Wände angestarrt. Ihm kann ich nicht ablesen, was er denkt.
Ein mulmiges Gefühl breitet sich in meinem Magen aus, weil ich ein neues Chaos wittere. »Was ist mit der Sperrstunde? Es ist nach 21 Uhr.«
Luca schnaubt über meine Unerfahrenheit. Für ihn muss ich ein offenes Buch sein – ein Rauheimer, der nie etwas anderes sah als Stacheldraht und Gewehre.
»Hier gibt es keine Sperrstunde.« Dann hält er mir seine Hand entgegen. »Sieh den Sternenhimmel von den Bergen aus oder bleib für immer hinter deinen Mauern. Jetzt oder nie.«
Sein Hochmut verblasst, als ich nicht auf sein unschlagbares Angebot eingehe und ihn stehenlasse. »Danke, aber dafür brauche ich kein Hündchen.«
Der nächste Morgen beginnt mit einem Frühstück des Generals. Auf der Aussichtsplattform des größten Berges der Region speist er zusammen mit zwei hochrangigen Staatsmännern aus Großbau. Sie besprechen die Einweihung der neuen Miene und andere Dinge, in die ich mich gar nicht einmischen will. Ein Teil der Generalseinheit muss den Pavillon bewachen, der Rest darf in der Umgebung patrouillieren. Ich gönne mir eine Verschnaufpause abseits des Wanderwegs und falle auf eine leere Bank. Mein Schnaufen von dem langen Aufstieg hallt durch das ganze Tal.
Die malerische Landschaft mutet im Spätfrühling wie ein Gemälde an. Auf den Hügeln, die sich bis zum Horizont erstrecken, sprießen Tannen wie frisch erblühte Sträuße in die Höhe. Es vermischen sich Farben aus verschiedensten Grüntönen mit dem Rot und Weiß der Blumen.
Ich strecke meinen Rücken durch und genieße die sanfte Brise, die meine Haare aufwirbelt. Dann hole ich so tief Luft, dass meine Lungen schmerzen.
Wer hätte gedacht, dass sich Großbau so stark von Rauheim unterscheidet? Dass es mehr gibt als Grau und trist und leblos... Ich dachte, dass erst der Krieg ausbrechen muss, damit ich das mit eigenen Augen sehen könnte. Was ich fühle, kann ich schwer einordnen – eine seltsame Traurigkeit darüber, wie frei und unbeschwert das Leben sein könnte, würde jeder in Austeritas hier leben.
Von klein auf wurde mir beigebracht, dass Austeritas das einzige Land ist, das gerecht ist und in Einigkeit leben kann. Die Welt ist zu groß und zu böse für uns dumme Menschen, darum müsse man uns zu unserem eigenen Schutz einsperren und kontrollieren. Als Erwachsene begreifen einige, dass die Propaganda in den Kindergärten und Schulen, in allen Kinderbüchern und natürlich auf der Straße nicht der Realität entspricht. Ich hingegen lernte schon früh als Waisenkind, dass Menschen niemals sagen, was sie wirklich denken. Vielleicht konnten sie mich deshalb nicht so stark auf mein Vaterland prägen, wie manch einen besessenen Trottel, der sich selbst die Kugel gäbe, wenn sein Vorgesetzter es ihm befiele.
Hinter dem schmalen Weg zurück zum Pavillon steht Eric am hölzernen Geländer. Daneben ein rundlicher Mann um die Fünfzig – General Julius Reihnert. Seine Augen gleichen denen von Eric, wenn sie kalt und ablehnend werden. Nur, dass sie anscheinend niemals erweichen.
Man könnte ihn als Stadthalter von Großbau bezeichnen, da er die Befehlsgewalt über jeden Soldaten und jede Miene in diesem Gebiet besitzt. Im Jahrhundertkrieg vor dreißig Jahren nahm er zusammen mit unserem großen Anführer, dessen Bruder und General Piet Weber das Land ein. Man verlieh ihm die höchstmöglichen Ehrenorden und überließ ihm Großbau – neben Rauheim und Kortium die wichtigste Stadt Austeritas.
Meine Aufmerksamkeit richtet sich auf das Rascheln in dem Gebüsch zu meiner Linken. Ich staune nicht schlecht, als eine Ziege herausstolziert, an der Schnute noch Grasreste hängend.
»Du bist aber hässlich«, ist das erste, das mir bei ihrer Erscheinung einfällt.
Die Ziege hebt ihren gehörnten Kopf und gibt ein gräuliches Mähen von sich, das sich anhört, als wäre sie von bösen Dämonen besessen. Dass sie der Teufel selbst ist, wird mir erst bewusst, als sie die Hufe scharrt und Kopf-voran auf mich zu rennt.
Verfolgt von diesem Monster nehme ich die Beine in die Hand und renne den Weg zurück zu den anderen. Erst vor den wenigen Stufen zum Pavillon hinab macht sie lieber kehrt, weil ihr der Lärm der Menschen Furcht einflößt. Ich will der Ziege noch ein siegreiches Knurren über die Schulter zuwerfen, da verpasse ich die erste Stufe.
Vor versammelter Mannschaft fliege ich kopfüber die Treppe hinunter. Alle Augen legen sich auf mich, als ich im Dreck lande wie ein nasser Sack. Das unebene Gestein beißt sich durch meine Kleidung und ich spüre wie irgendwas in meinen Kochen knackt.
Sie haben mich alle gesehen. Wie auf einer Bühne habe ich mich präsentiert. Die Stille um mich herum ist so beschämend, dass ich mich nicht traue aufzusehen.
Zwei polierte Schuhspitzen tauchen vor mir auf. »Steh hoch, Soldat!«, befielt General Reihnerts rauchige Stimme und lässt mich wie ein Springball in die Höhe schießen.
Günter, Peter und den anderen, die neben dem Pavillon stehen, vergeht das Grinsen, als mir der General eine harte Ohrfeige mit der beringten Hand verpasst. Zum zweiten Mal lande ich im Dreck. Wie in der Ausbildung gelernt, stehe ich ungeachtet der Schmerzen sofort wieder auf. Dabei spüre ich, wie etwas Warmes meine Wange hinab läuft. Blut.
»Erklären Sie sich, Soldat!«, folgt der nächste Befehl.
»Bitte verzeihen Sie, Sir!«
»Ist das eine Erklärung?« Der nächste Schlag folgt, welcher mir kurz schwarz vor den Augen werden lässt. »Haben Sie vergessen, in wessen Anwesenheit Sie sich befinden?«
Als er mich zum dritten Mal schlagen will, hebt Eric das Wort. »Wenn Sie so weitermachen, habe ich bald keine einsatzfähigen Männer mehr«, lacht er, doch seine eiserne Stimme ist ein endgültiger Befehl.
General Reihnert sieht man deutlich an, dass er die Situation nur unter den Tisch kehrt, weil sein Gast sich für mich verbürgt. Griesgrämig kehrt er unter das Pavillon zurück, wo er unzufrieden an seinem Glas nippt.
Eric winkt mich währenddessen zu sich heran, weshalb ich hinter ihn weiche, um den größtmöglichen Abstand zwischen mir und Reihnert zu bringen. Nur hätte ich damit rechnen müssen, dass mich Eric nicht so schnell aus der Schlinge lässt – mit seinem Glas deutet er an, dass ich ihm nachschenken soll.
»Zu meiner Zeit herrschte noch Zucht und Ordnung.« Erics hoher Gastgeber hat nur Augen für mich – verabscheuende Blicke. Ein Mann der alten Schule, der die Kadetten schon fürs Lächeln auspeitschen würde. Instinktiv nutze ich Erics zweischneidigen Schutz aus, um mich hinter ihm klein zu machen.
»Meinen Männern hätte ich solch ein Benehmen nicht durchgehen lassen«, schnaubt Reihnert. Kopfschüttelnd fällt er auf seinen Stuhl, woraufhin sein Adjutant herbeieilt, um ihn zu bedienen. »Es ist Ihre Sache, da mische ich mich nicht ein. Aber wundern Sie sich nicht, wenn die Bälger irgendwann rotzig werden, wenn man sie nicht erzieht.«
Eric überschlägt die Beine und lehnt sich zurück. Für andere eine entspannende Geste, doch ich sehe in seinem wortlosen Ausdruck, dass es ihn wurmt, Reihnert nicht maßregeln zu können. Die beiden haben denselben Rang inne, obwohl Eric natürlich eine größere politische Rolle spielt. Als Sohn des Staatsgenerals wird er die Position seines Vaters erben und dieses Land irgendwann als alleiniger Staatschef regieren.
Um seinen Gegenüber nun in seine Schranken zu weisen, reicht Erics Einfluss aber wohl nicht aus. »Vielen Dank für Ihren Rat«, ist alles, was er darauf erwidert.
Nachdem sie den Aufbau der Gänge in den neuen Mienen besprechen, gehen sie zu den Hilfsmitteln über, die morgen per Eisenbahn ankommen werden.
»Das Gold in der neuen Miene ist sehr tief gelegen«, erklärt Reihnert und schichtet den Tabak in seiner Pfeife. Anschließend deutet er auf den Bauplan, der vor ihnen ausgebreitete ist. »Unsere Männer reichen schwer an das Erz, es kommt zu Verlusten. Die Maschinen arbeiten präziser.«
»Gut. Übermorgen soll die Einweihung in der neuen Miene stattfinden«, legt der General fest und winkt mich zu sich herunter. Von Außen mag es so aussehen, als würde er mir etwas äußerst wichtiges zutragen, das nur für vertrauensvolle Ohren bestimmt ist. In Wirklichkeit flüstert er mir heimlich zu: »Sie sind allerliebst, wenn Sie sich hinter mir verstecken.«
Ich schnaube verächtlich. »Seit wann bin ich überhaupt Ihr Adjutant geworden?«
»Seitdem es mir gefällt«, trällert Eric.
»Wieso küssen Sie nicht auch noch meine allerliebsten Lippen, wo sie doch alle zusehen?«, rutscht es mir letztlich heraus, nachdem ich meinen Sarkasmus die ganze Zeit so gut herunterschluckte.
Im Leben rechnete ich nicht damit, dass der General mein Kinn packen würde und mich näher zieht, als müsste er sich mit Mühe davon abhalten, meinem Wunsch nachzukommen. Zum Glück liegt die Aufmerksamkeit gerade auf den Blaupausen, die von Arbeitern gebracht werden.
»Ihre allerliebsten Lippen müssen sich noch ein wenig in Geduld üben«, schließt Eric unser kleines Machtspielchen ab. Sobald er sich dem General zuwendet, stoße ich meinen angehaltenen Atem aus.
Am frühen Abend verlässt der Aufmarsch die Plattform, nachdem die Pläne für die Besichtigung feststehen. Bevor ich ihnen folge, trete ich zurück ans Geländer, über das ich mich langsam lehne, um einen Blick auf den orangenen Sonnenuntergang im Tal zu werfen.
»Vorsicht, sonst fallen Sie noch.« Natürlich weiß ich, zu wem die Hände gehören, die sich von hinten um meine Taille schlingen. Doch ich habe aufgegeben, mich aus seinem Griff zu winden zu versuchen. Da mir Eric so nahe ist, nehme ich einen neuen Duft wahr, den ich zuvor niemals bei ihm entdeckte – Sandelholz. Womit habe ich auch gerechnet, nachdem er mich mit dem Flakon erwischte?
»Sie zieren sich ja gar nicht mehr.« Sein amüsiertes Gesicht taucht über meiner Schulter auf. »Sagen Sie bloß! Sie sind wohl von der romantischen Sorte?«
Ich drehe mich zu Eric herum, der über meine Wunde vom Schlag neben meinem rechten Auge streicht. »Sie besitzen das Talent, sich in Schwierigkeiten zu reiten. Tut es sehr weh?«
Seine Heuchelei kann er sich sparen. Ich kenne sein wahres Gesicht – ein kalter Anführer, der über Leichen geht, um sein Ziel zu erreichen. Sein schwankendes Gemüt kann einen wie ein Sturm aus dem Nichts treffen.
»Es würde Sie nicht kümmern, wenn ich fiele«, stelle ich fest. »Es wäre nur lästig jemand anderen zu finden.«
»Ja«, erwidert Eric mit unverändertem Lächeln. »Niemand ist unabdingbar. Wenn ich sterben würde, nähme ein anderer meine Stelle ein. Was würde es jemanden kümmern?«
»Das Land würde trauern«, erkläre ich.
»Weil sie es müssen.«
»Ihre Kameraden wären bestürzt.«
»Die meisten wären hocherfreut, meinen Platz einnehmen zu dürfen. Das ist der Lauf der Dinge. Nur der Stärkste gewinnt.« Der General packt meine Schultern, weshalb kurz die Angst in mir aufkeimt, er wolle mich über die Brüstung drängen. »Und ich bin der Stärkste.«
»Unser großer Anführer...«, versuche ich es erneut. »...wäre traurig.«
Eric sieht mich ehrlich verwirrt an, als wäre ihm nie im Leben die Idee gekommen, dass sich sein eigener Vater um ihn sorgen würde. Dieser Mann ist davon überzeugt, dass seine Überzeugung alleinige Gerechtigkeit widerspiegeln, doch... Konnte man jemandem wohl den Kopf waschen, ohne dass er es merkt?
»Zumindest Ihre Mutter wäre zu Tode bestürzt!«, spiele ich meine letzte Karte in dieser Diskussion aus.
Erics Augenbrauen wandern in die Höhe, doch er antwortet mir nicht. Stattdessen umschließt er mein Gesicht mit beiden Händen. »Würden Sie um mich trauern?«
»Nein.«
»Sehen Sie?«, trällert er siegreich. Nur welche Prioritäten setzt ein Mann, der sich damit brüstet, dass ihn niemand vermissen würde?
»Würden Sie sich wünschen, dass ich um Sie trauere?« Ein heißes Ziehen breitete sich in meiner Magengegend aus und es wird nur noch schlimmer, als Eric sich so weit nährt, dass sich unsere Nasenspitzen fast berühren. Ungewollt legen sich meine Augen auf seine roten Lippen, die so weich und sanft sind, wie sie aussehen. Schon ein-, zweimal küsste er mich mit ihnen und schmeckte dabei süß und klar wie Weintrauben.
Abends ist der Zugwind kalt, weshalb mich ein Frösteln ergreift. Ich spüre das Vibrieren seiner Stimme, als Eric sagt: »In meinem Zimmer steht ein alter Kamin, der nach frischem Holz riecht. Damit kann man Wasser für eine große Badewanne erhitzen. Ich will Sie mit dorthin nehmen.«
Eric schließt die Augen. Seine Lippen öffnen sich ein winziges Bisschen und mein Herz beginnt zu rasen. Obwohl ich weiß, dass er mich gleich küssen würde, drehe ich meinen Kopf erst in letzter Sekunde zur Seite. Dadurch treffen seine Lippen auf meine gerötete Wange.
Enttäuscht über seinen verunglückten Treffer zieht Eric die Augenbrauen an. Doch er drängt mich zu meiner Überraschung nicht weiter und verlässt die Aussichtsplattform.
Sobald ich mir sicher bin, allein zu sein, lasse ich die Maske fallen und wirbele zum Geländer herum, um mir an mein rasendes Herz zu fassen. Der Teufel kommt wahrlich in den wunderschönsten Gestalten.
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