Kapiteln 65 ~ existimatio hominum
Warm glänzte Gaius' Haar im weichen Licht der Öllampen. Über die Köpfe ihrer Gäste hinweg schenkte er ihr ein schiefes Lächeln, dann richtete er seine ganze Aufmerksamkeit wieder auf das Gespräch mit seinen Onkel Claudius und Gemellus. Die leisen Töne, welche die Musiker ihren Instrumenten entlockten, verschmolz sanft mit den Gesprächen, die überall geführt worden. Es war Gemellus letzter Abend in Rom und in Gedanken staunte Aurelia über die vielen ihr mittlerweile vertrauten Gesichter – nur ein kleines Abendessen im engsten Kreis der Familie hatte Gaius geplant. Dennoch hatten die Mitglieder ihrer Familie nicht darauf verzichtet, dass ihre Sklaven und Klienten sie an diesem Abend begleitet hatten. Der kleine Raum kam ihr so voll vor, zumal sie alle Fenster zum Garten schließen mussten, damit die kalte Winterluft ihnen nicht in die Knochen fuhr.
In diesem Moment gesellte sich Claudius' Frau Messalina zu ihr und meinte: „Was für ein wunderschönes Fest für eine so schöne Täuschung"
Eingehend musterte Aurelia diese Frau, welche von den römischen Historikern in den düstersten Farben dargestellt worden war. Ihr Augen funkelten scherzhaft, doch ihr sonst so zartes Gesicht wirkte runder als gewöhnlich und Aurelia ertappte sich bei der Frage, ob Messalina bereits mit Britannicus schwanger war. Aus dem Augenwinkel registrierte sie Agrippina, die ihrem kleinen Sohn einen Kuss auf den Kopf hauchte. Lucius war das Zentrum der weiblichen Aufmerksamkeit und plötzlich überkam Aurelia eine tiefe Traurigkeit. Sofort bemerkte Messalina ihre veränderte Stimmung und auch ihre Unbeschwertheit wich aus ihren Zügen.
„An manchen Tagen wünsche ich mir, wir könnten dieses Spiel aufgeben und einfach eine ganz normale Familie sein", murmelte Messalina und legte ihre Hand auf Aurelias Oberarm.
„Was ist in Zeiten wie diesen schon normal?", fragte Aurelia und Messalinas Mundwinkel zuckten. Nachdenklich nippte sie an ihrem Kelch und ließ ihren Blick über die Anwesenden schweifen. Gaius war von allen Männern umgeben und klopfte seinem Onkel stolz auf dem Rücken. Julia und Agrippina waren in ein Gespräch mit ihrer Großmutter vertieft, dem Clementina mit höflichem Interesse folgte, ohne sich daran aktiv zu beteiligen. Drusilla stand am Rand, ihr Blick ging ins Leere und wirkte verloren.
„Bitte entschuldige mich", meinte Aurelia besorgt und entzog Messalina sanft ihren Arm, bevor sie sich unauffällig zu Drusilla gesellte. Drusilla bemerkte sie nicht. Ohne Umschweife packte sie Drusillas Handgelenk und zog sie sanft aus dem kleinen Raum voller Menschen in einen schmalen, stillen Gang. Selbst die leise Musik war nicht mehr zu hören. Als sie sich sicher war, dass niemand ihnen gefolgt war, drehte sie sich zu ihrer Schwägerin um, ließ ihr Handgelenk los und wollte von ihr wissen, was sie bedrückte. Drusilla versuchte eine undurchdringliche Maske aufzusetzen, wie auch Gaius sie in der Öffentlichkeit zu tragen pflegte. Aber Drusillas Augen verloren nicht diesen gehetzten, verlorenen Ausdruck, der Aurelia nun, da Drusilla direkt vor ihr stand, noch mehr beunruhigte.
„Ich kann dir helfen", versprach Aurelia sanft. „Wenn du mir nur sagst, was dich bedrückt"
„Niemand kann mir helfen", murmelte Drusilla hoffnungslos und strich sich eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht. Nachdenklich musterte Aurelia ihre Schwägerin und wartete. Wenn sie über Drusilla eins gelernt hatte, dann dass sie ein gewaltiges Bedürfnis hatte sich anderen mitzuteilen. Leise gestand Drusilla, dass sie schwanger war und wich ihrem Blick aus. Aurelia schloss die Augen und versuchte sich den Stammbaum der julisch-claudischen Dynastie in ihrem Geiste in Erinnerung zu rufen. Blinzelnd öffnete sie die Augen und erkundigte sich sanft nach ihrem Mann.
„Mein Ehemann", lachte Drusilla hysterisch. „Ihn habe ich seit Jahren nicht mehr angerührt und deshalb will er jetzt die Scheidung. Ausgerechnet jetzt"
Beruhigend legte Aurelia ihre Hand auf Drusillas Schultern und gab ihr Zeit sich zu beruhigen. Dann erst bohrte sie nach, wer dann der Vater sein konnte. Zaghaft hob Drusilla den Kopf und erwiderte ihren Blick. Marcus Aemilius Lepidus. Nur ein geflüsterter Name in einem dunklen Gang und dennoch lief Aurelia ein Schauer über den Rücken. Ein weiteres Puzzleteil rückte an seinen Platz und vervollständigte das Mosaik.
„Ist er verheiratet?", wollte Aurelia nachdenklich wissen, obwohl sie die Antwort bereits zu wissen glaubte. Drusilla schüttelte den Kopf und bestätigte Aurelias Gedanken. Lächelnd steckte Aurelia Drusilla die widerspenstige Haarsträhne zurück in ihre kunstvolle Frisur.
„Vielleicht ist es ein Segen, dass dein Mann die Scheidung will", sagte Aurelia und sie konnte beobachten, wie Drusilla ihre Gedanken aufgriff und aus ihrer Dunkelheit auftauchte. Lächelnd hakte sich Drusilla bei ihr unter und gemeinsam schlenderten sie fröhlich plaudernd zurück zu ihrer Familie. Als sie den Saal betraten legte sich plötzlich eine Hand auf ihre Hüfte und zog sie sanft an einen warmen Körper. Begierig sog sie seinen vertrauten Geruch ein und lehnte sich entspannt gegen ihn. Sofort vergaß sie alles andere um sich herum.
„Danke, dass du dich um meine Schwester gekümmert hast", raunte er ihr ins Ohr und sein Atem strich warm und kitzelnd über ihren Nacken. Lachend drehte sie sich zu ihm um und schlang die Arme um seinen Hals. Seine himmelblauen Augen funkelten wie zwei Edelsteine im matten Licht der Öllampen. Automatisch legte er seine Arme um sie und augenblicklich fühlte sie sich sicher.
„Wo du Gaius bist, bin ich Gaia", wisperte sie. Sofort verdunkelten sich seine Augen und er zog sie enger an sich. Ein Finger, der Gaius auf die Schulter tippte, zerplatzte ihre kleine Blase und erinnerte sie daran, dass sie nicht allein waren.
„Deine Gäste sind am Verhungern und das Essen kann ohne dich nicht aufgetragen werden", mahnte Claudius mit gespieltem Tadel und zwinkerte Gaius belustigt zu. Gaius seufzte leise, als Aurelia sich von ihm löste und schnappte sich ihre Hand. Lächelnd zog er sie zu ihren Plätzen und das Abendessen konnte beginnen.
Kaum war der letzte Gang abgetragen, warf Gaius ihr einen vielsagenden Blick zu. Sie verstand, was er dachte. Worauf sollten sie noch warten? Ein anderes Mal würde nicht die ganze Familie beisammen sein. Doch ihr Blick huschte über Gemellus, Drusilla und Messalina und irgendwie kam es ihr nicht richtig vor. Glücklich versuchte Gaius sich aufrechter hinzulegen, aber ihre zarte Hand drückte ihn unauffällig zurück in das weiche Polster. Sie lächelte noch immer, ihre Augen fixierten warm ihre Familie, die ihre üblichen Gespräche führte. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie Gaius sie fragend musterte und als sie entspannt ihren Kopf auf seiner Schulter ablegte, wich langsam die Anspannung aus seinem Körper. Wenig später betrat Gaius' Sekretär Hesiod und erinnerte Gaius diskret daran, dass in wenigen Minuten Gemellus' Strafe beginnen würde. Gaius nickte ausdruckslos und erhob sich. Dann wandte er sich mit einem traurigen Lächeln an Gemellus. Gemellus nickte, sprang von seiner Liege und schritt gemeinsam mit Gaius aus dem Speisezimmer. Schnell erhoben sich alle Anwesenden von ihren Plätzen und folgten den beiden durch die dunklen Gänge. Ohne Gaius Wärme begann Aurelia zu frieren und legte fröstelnd die Arme um sich. Als sie zusammen mit den anderen in den Innenhof hinaustrat, schloss sie zu Gaius und Gemellus auf, die neben zwei wunderschönen Pferden standen. Zu ihrer Überraschung löste sich eine weitere Gestalt aus der Menge und schwang sich auf eines der Pferde. Erst jetzt fiel Aurelia auf, dass sie bereits gesattelt waren.
„Mach dir um uns keine Sorgen", beschwor Gemellus Gaius eindringlich und Aurelia spürte, dass Gaius gern etwas erwidert hätte, aber die vielen Zuschauer in ihren Rücken hielten ihn davon ab.
„Alles Gute", wünschte Aurelia und gab sich innerlich einen Tritt, weil ihr nichts Besseres als eine solche Phrase zum Abschied einfiel. Doch Gemellus schenkte ihr ein warmes Lächeln, dann nickte er Gaius zu, hob zum Abschied von seinen anderen Verwandten die Hand. Danach wichen alle Gefühle aus seinem jungen Gesicht. Ernst stieg Gemellus auf sein Pferd und betrachtete die Stadt, die das Zentrum ihrer aller Welt bildete. Demonstrativ wendete er sein Pferd und ritt hinaus in die Nacht, ohne sich ein weiteres Mal umzudrehen. Der zweite Reiter folgte ihm mit wehendem Umhang. Hinter ihnen schloss sich das Tor mit einer solchen Endgültigkeit, dass Aurelia Tränen in die Augen stiegen. In wenigen Stunden würde sein Schiff von Ostia ablegen. Hoffentlich würde Gemellus den Frieden finden, den es in Rom nicht gab.
Gaius holte einen tiefen Atemzug, dann schob er seine warmen Finger zwischen ihre kalten und zog sie zurück in die Wärme der Villa.
Die meisten Verwandten warteten bereits im Atrium auf sie. Nun, da Gemellus fort war, war das Abendmahl beendet und sie wollten nach Hause.
Als Gaius und Aurelia sich endlich in ihre Gemächer zurückzogen, kam ihr der vergangene Tag plötzlich unendlich lang vor. Am liebsten hätte sie sich einfach auf ihr Bett fallen gelassen und wäre auf der Stelle eingeschlafen. Widerwillig kämpfte sie gegen ihre Müdigkeit an, setzte sich an ihren Schminktisch und begann die Nadeln aus ihren Haaren zu ziehen.
„Warum hast du mich abgehalten?", fragte Gaius leise und sie hob überrascht den Kopf. Ihre Blicke trafen sich im Spiegel. Langsam nahm sie den anderen Ohrring ab und legte ihn vor sich auf den Tisch. Schützend legte sie ihre Hand auf die kleine Wölbung und biss sich nachdenklich auf die Unterlippe.
„Für Gemellus war dies der letzte Abend mit seiner Familie, unser Glück ist sein Fall", murmelte sie rasch. Aber Gaius schnaubte verächtlich.
„Gemellus hat seine Fehler erkannt und trägt die Konsequenzen für seine Handlungen. Außerdem hat er mittlerweile eine sehr hohe Meinung von dir. Er hätte sich bestimmt für uns gefreut", sagte er wenig überzeugt. „Also was beunruhigt dich wirklich, mein Herz?"
„Ich weiß es nicht, Gaius", murmelte Aurelia verlegen. „Findest du nicht auch, dass es nicht der richtige Zeitpunkt für diese Neuigkeit ist? Ganz Rom tratscht bereits über die Hinrichtung unseres Prätorianerhauptmannes und die Verbannung deines Vetters und bald auch noch über Drusilla. Sobald Gemellus weg ist, werden sie sich nur noch mehr um dich reißen, in der Hoffnung zu deinem Erben ernannt zu werden. Ich möchte nicht, dass unser Kind im selben Atemzug mit zwei Hochverrätern genannt wird. Denn ich fühle, dass unser Kind alles überstrahlen wird und ich glaube, dass wir den Moment der Bekanntgabe besser inszenieren können als bei einem privaten Abendessen im Kreis der Familie"
Bedächtig trat er hinter sie und legte sanft eine Hand an ihre Wange, die andere auf ihre Schulter. Ihre Blicke trafen sich in ihren Spiegelbildern und ein stolzes Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus.
„Ich bin so froh, dass ich dich habe", raunte er und während sie ihr Gesicht an seine warme Handfläche schmiegte, schloss sie die Augen und genoss die Geborgenheit und Liebe, die sie beide umgaben.
„Erzählst du mir, was Drusilla so aus der Bahn geworfen hat?", bat er sie leise. Mit einem Seufzen schlug sie die Augen auf und begegnete seinem besorgten Blick im Spiegel. Langsam drehte sie sich zu ihm um und begann ihm von ihrem Gespräch mit seiner Schwester zu erzählen.
Am nächsten Tag war Drusilla geschieden. Am Tag darauf heiratete sie Marcus Aemilius Lepidus.
Die nächsten Wochen waren überraschenderweise die ereignislosesten und mit Abstand glücklichsten, seit Aurelia in diese Zeit gespült worden war. In Rekordzeit waren alle um sie herum in ihre gewöhnte Routine verfallen. Wenn sie erwachte, war Gaius bereits in seinem unteren Arbeitszimmer und lauschte den Angelegenheiten seiner Klienten. Nach seiner morgendlichen salutatio ging er entweder in den Senat oder verlegte seine Arbeit in sein privates Arbeitszimmer, während Aurelia zur selben Zeit bereits von seinen Schwestern und Clementina umgeben war. Diese Treffen mit ihren Freundinnen waren so abwechslungsreich wie möglich. Mal gingen sie in einen Tempel, mal trafen sie sich zum gemeinsamen Wellness in Gaius' privater Therme, einmal schlichen sie sich sogar verkleidet als einfache Frauen in ein Theaterstück und auch wenn ihre Tätigkeiten beständig wechselten, beruhigten die gewohnten Gespräche Aurelia sehr und mit der Zeit legte sich die Angst, die sich seit ihrer Rückkehr nach Rom in ihr aufgestaut hatte. Auch die allgemeine Aufregung über den Prozess gegen Macro und über Drusillas Gattenwechsel begann sich allmählich zu legen. Diese an allen Ecken der Stadt aufkeimende Ruhe spürte Aurelia jedoch nur dann, wenn Gaius in ihrer Nähe war.
Ende Februar erhielt sie einen sehr interessanten Brief von Vespasians Mutter, in dem Vespasia um ihre Hilfe bei der Wahl einer geeigneten Frau für ihren jüngsten Sohn bat. Eigentlich hatte Aurelia am gleichen Abend mit Vespasian über die Bitte seiner Mutter sprechen wollen, doch ein Blick auf Caenis genügte sie zum Nachdenken zu bringen. Immer wieder grübelte sie darüber, was ihr das Recht geben sollte sich in Vespasians Liebesleben einzumischen. Als sie sich schließlich noch am selben Abend an Gaius wandte, schlug er ihr sofort seine einzige unverheiratete Schwester, Julia, vor und löste damit eine hitzige Diskussion aus. Immerhin bohrte Gaius nicht nach, weshalb Aurelia so viele private Informationen über Vespasian in ihrer ursprünglichen Zeit vorgelegen hatten.
Als bereits der Morgen graute einigten sie sich darauf Flavia Domitilla eine Einladung zukommen zu lassen und wenn diese nicht innerhalb eines Jahres in Rom eintraf, würden sie gemeinsam nach einer Alternative für Vespasian suchen. Als die neuen Statthalter in die Provinzen auf den afrikanischen Kontinent aufbrachen, besaß jeder von ihnen einen streng vertraulichen Brief an Flavia Domitilla und den Befehl sie so schnell und diskret wie möglich aufzuspüren.
Ungefähr zur gleichen Zeit begann Roms Gerüchteküche zu brodeln. Während die Tage länger und wärmer wurden, registrierte Aurelia immer mehr die interessierten Blicke von Senatoren und deren Ehefrauen auf ihrer Taille ruhen. Mit allen Mitteln hatte Gaius versucht herauszufinden, wer die Information über ihre Schwangerschaft weitergegeben hatte. Aber all seine Nachforschungen verliefen ins Leere. Ihr Personal war ihnen so treu ergeben, dass keiner von ihnen selbst unter Folter zu einem solchen Verrat fähig gewesen wäre. Irgendwann hatte Gaius seine Nachforschungen schließlich widerstrebend eingestellt.
Am Tag der Liberalien legte Gaius ein wunderschönes Amulett für die Laren seiner Familie auf dem Hausaltar nieder und bedankte sich überschwänglich für die große Gunst, die Liber und Liberia seinem Haus gewährt hatte. Kaum hatte Gaius seine kurze Rede beendet, schnappte sich Agrippina Aurelias Arm und zog sie unauffällig in den angrenzenden Gang. Dort warteten bereits Julia und Drusilla mit verschränkten Armen. Sofort suchte Aurelia vergeblich eine Möglichkeit zur Flucht. Agrippina ahmte schmunzelnd die Haltung ihrer Schwestern nach.
„Kann ich etwas für euch tun?", fragte Aurelia unschuldig und versuchte die Panik, die in ihr aufkeimte, unter Kontrolle zu bekommen. Wieder zuckten Agrippinas Mundwinkel.
„Wann hattest du vor uns zu verraten, dass du ebenfalls ein Kind erwartest?", wollte Julia ruhig wissen und Aurelia entging nicht der Unmut, der in der Stimme ihrer Freundin mitschwang. Betreten strich sie sich eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Bald", antwortete sie müde und widerstand dem Drang die Augen zu schließen. Drusilla schnaubte entrüstet, Julia runzelte die Stirn, während Agrippinas Mundwinkel zuckten. Plötzlich überfiel Aurelia eine tiefe Ruhe. Eine nach der anderen bedachte sie jede ihrer Schwägerinnen mit einem tiefen Blick, bevor sie leise fragte: „Was hättet ihr an meiner Stelle getan?"
„Ich dachte, wir wären Freundinnen", murmelte Drusilla betrübt. Aurelia seufzte tief.
„Ihr seid meine einzigen wahren Freundinnen", beteuerte sie. „Aber ihr seid auch meine Schwägerinnen. Ich wollte Gaius nicht die Chance nehmen, es euch selbst zu erzählen"
Langsam erschien auf den Gesichtern ihrer Schwägerinnen ein verständnisvolles Lächeln, Aurelia nickte ihnen kurz zu, dann machte sie auf dem Absatz kehrt. Ihr Mann wartete im Atrium. Sobald sich ihre Blicke kreuzten, schenkte Gaius ihr ein strahlendes Lächeln und streckte die Hand nach ihr aus. Automatisch ergriff sie lächelnd seine warme Hand und ließ sich bereitwillig von ihm hinaus zu der Sänfte führen, die sie gemeinsam zu den Spielen tragen würde, welche Gaius zu Ehren der Götter austragen ließ.
Das nächste Mal sah sie ihre Schwägerinnen erst, als diese sich in bester Feiertagslaune zu ihnen in die Loge gesellten. Lächelnd richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf die Gladiatoren, welche die Arena betraten. Verborgen vor den neugierigen Blicken der Zuschauer klammerte sie sich an Gaius' Hand, die die ihre kein einziges Mal losgelassen hatte, seit sie ihr Zuhause verlassen hatten. Beruhigend fuhr er mit seinem Daumen über ihren Handrücken, dann entwirrte er sanft ihre Finger und erhob sich. Als er sich der Menge zuwandte und die Hand hob, erstarben alle Gespräche und erwartungsvolles Schweigen legte sich über die Arena. Aus dem Augenwinkel nahm Aurelia die Gladiatoren wahr, die sich vor ihrer Loge aufgebaut hatten und wie alle anderen ihre Aufmerksamkeit auf Gaius richteten. Dieser kostete den Moment der Stille noch einen Moment länger aus, bevor er verkündete: „Bürger Roms, als Zeichen der Dankbarkeit für die höchste Gunst, die Liber und Liberia in den vergangenen zwölf Monaten unserem Land, unserer Stadt und unseren Familien geschenkt hat, werden die siegreichen Gladiatoren heute nicht nur Ruhm und Ehre erringen, sondern von mir ihre Freiheit erhalten. Auf das Liber und Liberia uns auch in Zukunft so gewogen sein werden"
Nachdem er geendet hatte, verharrte Gaius einen Moment und wartete mit gütigem Lächeln darauf, dass seine Worte von den über die ganze Tribüne verteilten Sprechern an das Volk weitergegeben wurden. Als die Menge schließlich lautstark ihre Zustimmung bekundete, nickte Gaius dem Leiter der Spiele zu und setzte sich zurück auf seinen Platz. Lächelnd wandte er sich ihr zu und ergriff ihre Hand. Seine Augen waren so weit und klar wie der Himmel über ihnen. Doch sobald er den Blick hinter sie schweifen ließ, wäre sie am liebsten aufgesprungen und aus der Arena geflohen. Mit großen Augen blickte sie auf die Gladiatoren, die sich ein letztes Mal vor der Menge verbeugten, dann begannen die Kämpfe. Ihr Herzschlag dröhnte in ihren Ohren. Nur gedämpft hörte sie das Klirren aufeinanderprallender Waffen. Das Rauschen in ihren Ohren wurde lauter. Plötzlich drang Gaius' Stimme sanft zu ihr durch und sie konzentrierte sich darauf seine Worte zu verstehen.
„Sieh über die Grausamkeit hinweg", säuselte er sanft. „Vergiss die Unmenschlichkeit und betrachte die Kämpfe mit den Augen eines Historikers"
Langsam erstarb das Dröhnen. Die Begeisterung der Menge übertönte die Geräusche der Kämpfenden in der Arena. Konzentriert atmete sie tief ein und aus. Gemächlich wurde ihre Sicht klarer und sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Kämpfenden. Während sie die Begeisterung der Zuschauer ausblendete, entdeckte sie die Feinheiten der Kämpfenden. Plötzlich schossen ihr Erinnerungsschnipsel in den Kopf von Dingen, über die sie als Kind mit der gleichen Begeisterung gelesen hatte, mit der das römische Volk seine Lieblinge anfeuerte. Je mehr sie beobachtete und analysierte, desto mehr erschloss sich ihr das uralte System, nach dem diese Kämpfe stattfanden. Dort kämpfte ein Murmillo gegen einen Thraex. Da ein Secutor gegen einen Retiarius, während ein anderer Retiarius nur wenige Meter weiter gegen einen Scissor antrat. Als sie die Retiarii mit ihren schimmernden Dreizacken und den beinahe unsichtbaren, feinen Netzen fasziniert beobachtete, beugte sich Gaius lächelnd zu ihr herüber und wisperte ihr ins Ohr: „Diese Art von Gladiatoren habe ich mir auf meiner Zeit in Capri ausgedacht. Tiberius war von ihnen sehr begeistert. Die beiden, die heute hier kämpfen, sind die ersten Retiarii, die es je gegeben hat. Ich hoffe sehr, dass sie gewinnen. Sie haben sich ihre Freiheit mehr als verdient, findest du nicht, meine Schöne?"
Bei diesen Worten lief ein Schauer über ihren Rücken hinab. Mehr als ein Nicken brachte sie als Antwort nicht zustande, zu sehr war sie von den kämpfenden Gladiatoren in der Arena fasziniert. Sie hatte schon seit Monaten keine Waffe mehr in der Hand gehabt und es war unbeschreiblich mitreißend diese auf den Kampf spezialisierten Männern bei ihrer Arbeit zuzusehen. Zu ihrer Erleichterung zog sich keiner der Gladiatoren ernsthafte Verletzungen zu. Ein paar hatten die Arena humpelnd verlassen müssen, die Sieger verließen die Arena mit einem glückseligen Strahlen im Gesicht, so sah ein echtes Siegerlächeln aus.
Lächelnd reichte Gaius ihr seine Hand und führte sie zufrieden aus der Arena. Seine Retiarii hatten gewonnen und blickten nun einer ruhigeren Zukunft entgegen.
An diesem Abend wurden sie mit Glückwünschen überhäuft – nicht nur für die gelungenen Spiele, sondern auch für ihr Kind. Die Frauen der eingeladenen Senatoren löcherten Aurelia und Drusilla derartig mit Fragen, dass Aurelia am liebsten im Erdboden versunken wäre. Nach einer Weile täuschte sie Kopfschmerzen vor und schlich sich unauffällig aus dem Speisezimmer. Im Peristyl blieb sie stehen und schloss die Stille und frische Luft genießend für einen Augenblick die Augen.
„Herzlichen Glückwunsch, meine Liebe", raunte eine Stimme neben ihr und Aurelia schrak vor Schreck zusammen. Mit rasendem Herzen blickte sie in das freundliche Gesicht von Antonia Minor, die sich rasch dafür entschuldigte, dass sie Aurelia einen solchen Schrecken eingejagt hätte.
„Manchmal fühle ich mich unendlich alt", gestand Antonia und lehnte sich gegen eine Säule. Überrascht schwieg Aurelia.
„Ich habe so viele Menschen verloren, die ich liebe", fuhr Antonia fort. „An manchen Tagen macht es mich misstrauisch, wenn meiner Familie etwas Schönes widerfährt. Jeder Verlust hat mir das Gefühl gegeben, dass wir es nicht verdienen glücklich zu sein. Germanicus und Agrippina würden übersprudeln vor Freude und Stolz, wenn sie heute bei uns sein könnten. Gaius war immer ihr Liebling, vielleicht weil er der Jüngste war und sie von ihm weniger erwarteten als von seinen älteren Brüdern, von denen sie bereits so sehr enttäuscht waren. Aber so ist das Leben. Es gibt immer Momente, in denen Kinder ihre Eltern enttäuschen oder Eltern ihre Kinder. Dennoch ist nichts unwiderruflicher und größer als die Liebe, die Eltern für ihre Kinder empfinden. Doch das alles liegt noch vor dir. Ich bin nur eine alte Frau, die mehr mit den Geistern der Vergangenheit lebt als in der Gegenwart"
„Du wirst niemals nur eine alte Frau sein", warf Aurelia ein und auf Antonias Gesicht breitete sich das gleiche schiefe Grinsen aus, welches Aurelia unzählige Male bei Gaius bewundert hatte, wenn er seine öffentliche Maske für sie fallen ließ. Sofort sah Antonia zehn Jahre jünger aus. Eine Weile blickten sie beide still auf ihre Stadt hinab, bis Antonia das Schweigen brach: „Darf ich dir einen Rat geben, meine Liebe? Ich bin sicher, deine Schwiegermutter würde dir den gleichen Rat erteilen, wenn sie könnte"
Interessiert nickte Aurelia und legte die Arme um sich. Die Luft war noch zu kalt, um längere Zeit nachts draußen zu verbringen. Antonia dachte einen Augenblick nach und wählte ihre nächsten Worte mit Bedacht. Ihr Ton war sehr einfühlsam.
„Du wirst bald für eine Weile nicht mehr in der Lage sein, die Bedürfnisse meines Enkels zu befriedigen", erklärte sie leise. „Er ist der wichtigste Mann Roms und es ist nur eine Frage der Zeit, bis andere Frauen versuchen werden ihn für sich zu gewinnen. Es ist wichtig, dass du es bist, die in dieser Zeit eine Frau in seinem Bett installiert. Eine Frau, die du kontrollieren kannst"
Mit einem Schlag erstarrte ihr Körper zu Eis. Entsetzt starrte sie die Großmutter ihres Mannes an. Hatte sie ihr gerade ernsthaft geraten, ihren Mann zum Ehebruch zu überzeugen? Sprachlos rang sie um Fassung. Übelkeit stieg in ihr auf, während ihr Geist ihr in den schillerndsten Farben vor Augen führte, wovon Antonia sprach.
„Reg dich bitte nicht darüber auf, meine Liebe", sagte Antonia schnell. „Das ist nicht gut für das Kind. Denk einfach in Ruhe darüber nach"
Antonia tätschelte ihr mitfühlend den Arm, dann ließ sie Aurelia allein im kalten Peristyl. Am liebsten hätte Aurelia geschrien oder wäre in Tränen ausgebrochen und das letzte, was sie wollte, war zum Fest zurückzukehren. Einen Moment zog sie in Betracht einfach in ihren Gemächern zu verschwinden. Aber sie wollte nicht, dass sich Gaius unnötig Sorgen um sie machen würde. Plötzlich spürte sie einen Stups in ihrem Bauch. Überrascht stieß sie die Luft aus und legte die Hände auf ihren Bauch. Da war es wieder, dieses Mal ein kleines bisschen stärker als zuvor. Das Kind bewegte sich. Automatisch breitete sich ein strahlendes Lächeln auf ihrem Gesicht aus.
„Mach dir keine Sorgen", wisperte sie mit klappernden Zähnen ihrem Bauch zu. „Papa brauch niemanden anderen – nur dich und mich. Versprochen"
Widerwillig zog sie ihre Hände zurück und eilte zurück in die Wärme des Palastes. Bevor sie das Speisezimmer betrat, atmete sie tief durch. Dennoch war sie auf den Anblick, der sich ihr bot, nicht gewappnet. Gaius war umgeben von wunderschönen Frauen und nicht weniger attraktiven Männern, die hemmungslos mit ihm zu flirten schienen. Obwohl ihr dieser Anblick einen kleinen Stich ins Herz versetzte, verrutschte ihr Lächeln nicht eine Sekunde. Als hätte er ihr Auftauchen gespürt, fing Gaius ihren Blick auf und auf seinem Gesicht breitete sich sein schiefes Grinsen aus. Ohne zu zögern, ließ Gaius die kleine Schar, die sich ihm an den Hals zu schmeißen versuchte, stehen und überbrückte die kurze Distanz zwischen ihnen. Zu ihrer Überraschung zog er sie an sich und presste vor allen Anwesenden seine Lippen hart auf die ihren. Aurelia spürte, wie ihr das Blut vor Verlegenheit in die Wangen schoss, bevor seine Berührung sie alles vergessen ließ.
„Ich liebe dich", raunte sie ihm atemlos ins Ohr, als er sich schwer atmend von ihr löste.
„Du bist mein Leben", keuchte er ihr grinsend ins Ohr und Aurelia blendete aus, dass er einem glitzernden Vampir die Worte stahl. Diese Geschichte wird aus Gaius' Sicht erst in ungefähr zweitausend Jahren geschrieben werden. Also war es der Vampir, der ihm das Zitat stahl. Als sich ihre Blicke kreuzten und seine Augen dunkel vor Verlangen schimmerte, hatte sie das Gefühl vor Glück zu zerspringen. Gaius' Schar an Schmeichlern, die ihn in ihre Betten zerren wollten, hatte sich zerstreut, als er sie zu ihrer Liege führte.
Den ganzen Abend rang sie damit, ob sie Gaius von ihrem Gespräch mit seiner Großmutter erzählen sollte. Auf dem Weg zurück zu ihren Gemächern, überlegte sie fieberhaft, wie sie anfangen sollte.
„Ein Brief ist für Euch angekommen, Herr", unterbrach Gaius' Sekretär ihre Gedanken. Wann war er aufgetaucht. Gaius nahm ihm die Schriftrollte wortlos aus der Hand, dann führte er Aurelia in ihre Gemächer. Nara und Belana warteten bereits auf sie. Erschöpft setzte sie sich an den Schminktisch und beobachtete im Spiegel, wie ihre Mädchen ihr die Schminke sanft aus dem Gesicht wuschen, dann die Nadeln aus ihren Haaren zogen und ihr das Haar so lange kämmten, bis es sich in seidigen Wellen über ihren Rücken ergoss und ihr Gesicht schimmernd umspielte. Im Hintergrund wurde Gaius immer noch aus seiner Toga gewickelt. Dankend wünschte Aurelia ihren Mädchen eine gute Nacht. Dann beobachtete sie im Spiegel, wie Gaius aus seiner Kleidung gewickelt wurde. In Momenten wie diesen war sie froh, dass sie ihre hübschen und einfachen Kleider nicht gegen seine kompliziert gefaltete Toga tauschen musste. Fragend erwiderte er ihren Blick und Aurelia zwinkerte ihm scherzhaft zu. Gaius schluckte und sobald er nur noch seine leichte Tunika trug, schickte er seine Sklaven heraus.
In der nächsten Sekunde war er bei ihr, strich ihre Haare zurück und bedeckte ihren Hals mit federleichten Küssen. Lächelnd schloss sie die Augen.
„Spielst du mit mir?", fragte er sie gespielt ernst und Aurelia konnte sich ein Kichern nicht verkneifen.
„Möglicherweise", raunte sie zurück. Sie spürte, wie seine Lippen sich an ihrem Hals zu einem Lächeln verzogen.
„Ich muss nur noch schnell den Brief lesen, dann gehöre ich ganz dir", versprach er und ließ von ihr ab. Augenblicklich fröstelte sie. Langsam öffnete sie die Augen und beobachtete ihn aufmerksam im Spiegel. Plötzlich kamen ihr Antonias Worte wieder in den Sinn und trübte ihre Stimmung. Nervös fuhr sie mit den Fingerspitzen über die hübschen, mit Glas besetzen Muster ihres Schminktisches. Schließlich nahm sie all ihren Mut zusammen und sagte: „Gaius, es gibt etwas, das ich dir erzählen möchte..."
Doch als sie den Blick hob und seinen Gesichtsausdruck bemerkte, blieben ihr die Worte im Hals stecken. Sein Gesicht war bleich wie der Tod. Das Papyrus in seiner Hand knisterte, so sehr zitterte er am ganzen Körper. Augenblicklich sprang sie auf und eilte zu ihm.
„Was ist los, Liebster?", fragte sie beunruhigt und strich ihm eine Haarsträhne sanft aus dem Gesicht. Rückartig hob Gaius den Kopf und starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an, seine Pupillen waren derartig geweitet, dass das wunderschöne Blau seiner Iris nur noch als schmales Band zu erahnen war. Seine Stimme war nicht mehr als ein Wispern: „Gemellus hat geheiratet"
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro