Kapitel 94 ~ Nuntia bona
1. September 44 n. Chr.
Sanft tauchte die untergehende Herbstsonne die Villa des Princeps in ihr goldenes Licht. Aus dem Triclinium drangen die leisen, sanften Töne einer Lyra in den menschenleeren Garten. Die Familie des Princeps war erst vor wenigen Stunden aus ihrer Sommerresidenz am Golf von Neapel zurückgekehrt. Dennoch hatte sich an diesem Abend jeder, der Rang und Namen hatte, in dieser Villa eingefunden und ihr Abendmahl genossen.
Als die ersten Sklaven durch die Villa huschten und die Öllampen entzündeten, erhoben sich die Gäste und verabschiedeten sich von ihrer Gastgeberin. Aurelia Vespasia erhob sich galant von ihrer Speiseliege und begleitete ihre Gäste bis ins Atrium. Sobald sich die schwere Eichentür hinter ihrem letzten Gast schloss, rannten ihre Kinder begeistert die Treppe herunter. Dabei wedelte Julius aufgeregt mit seinen Händen, in denen er jeweils eine Schriftrolle hielt. Mit einem Lächeln breitete Aurelia ihre Arme aus, fing ihre Kinder auf und genoss die seltene Nähe. Normalerweise schliefen sie um diese Zeit bereits. Die kleine Antonia war schon ganz hibbelig. Widerwillig löste sich Aurelia von ihren Kindern und nahm Antonia auf den Arm. Zögerlich legte das Mädchen ihre kurzen Arme um den Hals ihrer Mutter. Aus dem Augenwinkel musterte Aurelia die beiden Schriftrollen, die Julius noch immer in den Händen und nun seiner Mutter auffordernd entgegen hielt. Sofort erkannte sie das Siegel und verstand, weshalb ihre Kinder so aufgedreht waren. Gaius hatte ihnen geschrieben.
„Wollen wir die Briefe jetzt noch lesen?", fragte Aurelia gespielt müde und ihre Kinder nickten begeistert. Auf die Frage, ob sie denn noch nicht müde sein, schüttelten sie synchron den Kopf. Sofort schoss Julius die Treppe hinauf und Antonia begann zu betteln, dass Aurelia sie nach oben trug. Grinsend hauchte Aurelia ihrer Tochter einen Kuss auf die Wange und setzte sich vorsichtig in Bewegung.
Vor der Tür zu Aurelias Gemächern wartete Julius voller Ungeduld auf seine Mutter und seine Schwester. Obwohl sich Aurelia mittlerweile angewöhnt hatte nicht jede Nacht bei ihren Kindern zu schlafen, durften die Kinder bei besonderen Umständen bei ihr schlafen. Zu diesen Ausnahmen gehörte neben nächtlichen Albträumen auch die Ankunft von Gaius' Briefen.
Lächelnd setzte Aurelia Antonia neben ihrem Bruder ab, als sich die Tür öffnete. Schnell huschten die Kinder aufgeregt tuschelnd durch die Tür und Aurelia folgte ihnen. Als sie ihr Schlafzimmer betrat, saßen die beiden bereits auf ihrem Bett und sahen sie mit großen Augen an.
„Darf ich mich noch schnell für die Nacht fertig machen?", wollte Aurelia lachend wissen und Antonia blickte fragend zu ihrem Bruder, der ungeduldig nickte. Rasch wusch sich Aurelia das Gesicht, nahm ihren Schmuck ab und ließ sich hinter einem Raumteiler von ihren Mädchen aus ihren teuren Kleidern helfen. Flink zogen sie ihr seidenes Nachtkleid über ihren Körper. Dann wünschten ihre Mädchen ihrer Herrin und den beiden Kindern eine gute Nacht und verließen den Raum.
Schnell schlüpfte Aurelia unter die Bettdecke und nahm die Schriftrolle entgegen, die Julius ihr auffordernd hinhielt. Julius wollte immer zuerst die privaten Nachrichten seines Vaters hören, weil Antonia meist über Gaius' lange, offizielle Berichte einschlief und er seiner kleinen Schwester ermöglichen wollte die für sie bestimmten Worte ihres Vaters zu hören.
Mit ruhigen Fingern brach sie das blaue Siegel der privaten Nachricht. Schon als sie den Brief auseinanderrollte, registrierte sie überrascht, wie kurz dieser Brief gehalten war. Wie ungewöhnlich für ihren Mann.
Auf dem Zettel standen nur zwei Sätze: Lies den anderen Brief erst morgen im Senat. Gute Nacht, ich liebe euch. Ungläubig drehte Aurelia den Brief um, aber die Rückseite war leer.
„Was schreibt er, Mama?", wollte Antonia ungeduldig wissen und Aurelia legte ihren freien Arm um ihre Tochter. Dann las sie mit fester Stimme die wenigen Worte und Julius schüttelte ungläubig den Kopf. Nachdenklich blickte er auf den zweiten Brief und nachdem er einen raschen Blick mit seiner kleinen Schwester gewechselt hatte, drückte er seiner Mutter den zweiten Brief in die Hand.
„Mach ihn auf, Mama", drängte er sie und sie nahm ihm schnell den Brief ab, bevor er zu Prunia laufen und sie zwingen konnte ihn ihm vorzulesen. Laut rief Aurelia nach Clemens und als sie dem Prätorianerpräfekten das Schriftstück zur sicheren Aufbewahrung übergab, begannen ihre Kinder lautstark zu protestieren.
„Es ist der Wunsch eures Vaters und wir müssen ihn respektieren", entgegnete sie bestimmt und fuhr der schmollenden Antonia sanft durchs Haar. Augenblicklich verstummte Julius und seine Schwester tat es ihm gleich. Wortlos verließ Clemens das Zimmer.
Nach einer Weile beruhigten sich ihre Kinder und schliefen ein. Lange lag Aurelia in dieser Nacht wach und versuchte fieberhaft Gaius' Worte zu entschlüsseln.
Wenn Aurelia richtig mitgezählt hatte, saß nun vor ihr der letzte Klient der heutigen salutatio. Mit einem Lächeln reichte Aurelia ihrem Klienten die Hand, welche er augenblicklich ebenfalls lächelnd ergriff. Nach einer Sekunde zog sie ihre Hand sanft, aber bestimmt zurück. Der Mann nickte ihr gut gelaunt zu und verließ den Raum. Sobald er das Arbeitszimmer verlassen hatte, betrat Prunia das Zimmer. In ihren Händen hielt sie nicht wie sonst ihre Wachstafel, auf der sie die Klienten des Tages notierte und Aurelia atmete erleichtert auf.
Voller Ungeduld erhob sie sich von ihrem Schreibtisch, nickte ihrer Sekretärin zu und schritt zu Clemens, der wie gewohnt vor ihrer Tür wachte.
„Hast du den Brief noch?", erkundigte sie sich leise und er sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren. Dumme Frage. Natürlich hatte er den Brief bei sich.
Bevor Aurelia ihn anbetteln konnte ihr den Brief zu geben, stolzierte sie an ihm vorbei, schenkte ihren im Atrium wartenden Klienten ein strahlendes Lächeln und verließ die Stadtvilla. Während sich ihre Sänfte einen Weg durch die dichten Straßen Roms bahnte, brannte Aurelia vor Ungeduld und konnte sich nur mit Mühe daran hindern ihre Träger anzutreiben. Als sie endlich das Forum Romanum erreichten, verließ sie zügig ihre Sänfte und gesellte sich zu den wartenden Senatoren. In diesem Augenblick bestätigte der zuständige Augur günstige Zeichen und Clemens drückte ihr unauffällig die Schriftrolle in die Hand. Der Papyrus war warm von seinem Körper, als wäre er ein eigenes, lebendiges Wesen.
Immer noch lächelnd schritt Aurelia in den Tempel, flüsterte dem amtierenden Konsul, Statius Taurus, etwas ins Ohr und setzte sich rasch auf ihren eigenen kurulischen Stuhl. Hastig holte der Konsul eine Wachstafel hervor und veränderte die Tagesordnung. Wispernd begannen die anderen Magistrate aufgeregt zu tuscheln und beugten sich interessiert vor, aber Statius hielt die Tafel so, dass niemand einen Blick darauf erhaschen konnte.
Mit großer Geste erhob sich der amtierende Konsul und legte die Wachstafel auf seinen kurulischen Stuhl. Ungeduldig spielte Aurelia mit dem Brief in ihren Händen. Mittlerweile hatten einige der vormaligen Konsuln, die ganz in ihrer Nähe saßen, das Siegel ihres Mannes erkannt und gaben die Nachricht eilig weiter.
„Meine Herren!", rief Statius und augenblicklich verstummte die Menge. „Ich bin ebenso gespannt auf die Neuigkeiten aus dem Norden wie Ihr. Deshalb lasst uns keine weitere Zeit verlieren"
Unter zustimmendem Beifall setzte sich der Konsul und nickte Aurelia zu. Würdevoll stand sie auf und entrollte mit ruhigen Fingern den Brief.
Obwohl sie vor Ungeduld am liebsten sofort zum Ende des Berichts gerollt hätte, begann Aurelia mit lauter, klarer Stimme die Ereignisse der Schlacht bei Deva zu verlesen, die einen weiterer, glorreichen Sieg für ihren Mann bedeutete.
Als sie endlich am Ende des Briefes angekommen war, legte sich eine erwartungsvolle Stille über den Saal. Mit ruhiger Stimme fuhr sie fort: „Die Cornovier, Dobunner, Demeter und Ordovicer kapitulierten vor Caesar und schworen ihm die Treue. Auch ihnen gewährte Caesar seine Güte und schenkte den Stämmen den Schutz Roms. Damit ist die Insel befriedet und Caesar wird den Aufbau der Administration in der neuen römischen Provinz Britannia beaufsichtigen, bis das Wetter die Rückkehr nach Rom ermöglicht. Die Überfahrt wird voraussichtlich ab März wieder möglich sein"
Ihre nächsten Worte gingen im Jubel der Senatoren unter. Immer wieder las sie die letzten Worte. Somit wird Caesar im Mai des nächsten Jahres Rom erreichen. In acht Monaten würden sie wieder vereint sein. Eine Freudenträne stahl sich aus ihrem Augenwinkel, perlte langsam über ihre Wange und fiel lautlos zu Boden. Als sie den Kopf von dem wertvollen Brief hob, begegnete sie Claudius' Blick, der ihr verschwörerisch zuzwinkerte. Der Erfolg seines Neffen war teilweise ihm zu verdanken.
Glücklich drehte sie sich zu der großen Statue des Zeus um und bedankte sich leise beim obersten Gott Roms. Strahlend vor Glück rollte sie den Brief zusammen, steckte ihn in eine Rocktasche und richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Senatoren.
Nach einer Weile sprang Vespasius auf und forderte einen Triumphzug für den erfolgreichen Feldherren. Sofort erhoben sich andere Senatoren und bekundeten in ihren Lobreden die Forderung nach einem Triumphzug für den Mann, der ihnen Britannien einverleibt hatte. Die Abstimmung über Gaius' Triumph war einstimmig.
Sobald der Triumph vom Senat bestätigt worden war, erhob sich Claudius' Schwager Faustus Cornelius Sulla Felix und forderte mit seiner schneidenden Stimme: „Hiermit beantrage ich, dass zur Ehrung seines Erfolges unserem Princeps der Beiname Britannicus verliehen wird"
Augenblicklich gefror Aurelias Inneres zu Eis, aber keine Faser ihres Körpers verriet ein anderes Gefühl als überschwängliches Glück. Sofort skandierten die übrigen Magistrate den Namen und Claudius runzelte unmerklich die Stirn. Als ihre Blicke sich erneut trafen, erkannten sie, dass der jeweils andere den gleichen Gedanken hatte. Gaius würde diesen Beinamen niemals annehmen. Augenblicklich entspannte sich Aurelias Inneres. Gaius war Erwachsen und der richtige Britannicus, Claudius' Sohn Tiberius Claudius Caesar, würde niemals diesen Beinamen erhalten. Nero würde keinen Britannicus kurz vor dessen Eintritt ins Mannesalter ermorden, damit seine Herrschaft gesichert war. Indem Aurelia verhindert hatte, dass Gaius zu Caligula wurde, hatte sie sehr viele Leben gerettet. Gemeinsam hatten sie den Lauf der Geschichte für immer verändert.
Was für ein glücklicher Tag für ihre Familie, dachte sich Aurelia erleichtert. Was für ein glücklicher Tag für Rom.
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