Kapitel 82 ~ Agathos
Aus dem Augenwinkel registrierte er, wie zum ersten Mal seit Wochen endlich die Anspannung aus ihrem Körper wich. Sobald sie das Tor passiert hatten, wirkte sie jünger und unbeschwerter. Ratternd fuhr die Raeda über die Straße und entfernte sich immer weiter von diesem zischenden Schlangennest, aber Clemens ließ sich von diesem schönen Schein nicht täuschen. Auch hier konnte an jeder Ecke eine neue Bedrohung lungern.
Die vergangenen Wochen hatten für jeden von ihnen große Anstrengungen bedeutet. Denn obwohl nur fünf Menschen den wahren Grund für die Entfremdung der Schwägerinnen kannten, kochte an jeder Ecke die Gerüchteküche fleißig und erschwerte seine Arbeit. Nichts war so gefährlich wie ein Skandal – besonders wenn er sich auf die Politik übertragen ließ. Dennoch hatte es ihn seltsamerweise überrascht, wie selbstsicher und gelassen Aurelia mit dieser belastenden politischen und privaten Situation umging. Als die Senatoren sie auf Agrippina angesprochen hatten, hatte sie nur den Kopf gehoben und wissen wollen, was diese Angelegenheit mit der Getreideversorgung zu tun habe. Die Geschichte hatte sich beinahe so schnell verbreitet wie ihr Vorhaben die öffentlichen Toiletten zu reinigen und zu sanieren. Das Volk liebte sie bedingungslos, aber der Treue des Senates würde sie sich nie wirklich sicher sein können. Deshalb war ein Teil von Clemens mehr als froh, dass sie Rom für die Sommerferien des Senats verließen. So wäre ihr Geheimnis wenigstens noch für ein paar wenige Wochen sicher.
Ausgerechnet in der Nähe von Formae verdüsterte sich der Himmel und als ihn der erste Regentropfen traf, erkannte er, dass sie es nicht bis zu ihrer geplanten Unterkunft schaffen würden. Im gleichen Moment zog Aurelia die Vorhänge der Raeda zurück und blickte skeptisch zum Himmel hinauf.
„Ein Gewitter zieht auf", erklärte er überflüssiger Weise und sie nickte besorgt. Natürlich fragte sie, was er nun vorhabe. Frustriert verlangsamte Clemens sein Pferd, damit er dichter neben ihr reiten konnte.
„Ganz in der Nähe liegt eine Villa. Dort können wir warten, bis das Gewitter vorüber ist", schlug er vor und natürlich war sie sofort einverstanden. Widerwillig trieb er sein Pferd wieder an und informierte den Kutscher und seine Prätorianer über das neue Ziel. Wenig später frischte der Wind auf. Im gleichen Moment lenkte er sein Pferd in den von Zypressen gesenkten Pfad und ignorierte die Gefühle, die ihn zu überwältigen drohten. Wie von Geisterhand öffnete sich das Tor und Clemens nickte in die Richtung des Torwächters. Als sie den Innenhof erreichten, schüttete es bereits in Strömen. Donner grollte und Clemens sprang eilig von seinem Pferd, um Aurelia aus der Raeda zu helfen. Aber sie stand bereits auf dem wenig kunstvoll gepflasterten Steinen des Innenhofes und schaute sich neugierig um. Den Regen schien sie gar nicht zu spüren. Auf ihrem Gesicht breitete sich ein verzaubertes Lächeln aus. Sie tauchte erst aus ihren Gedanken auf, als Julius ihre Hand nahm. Irritiert schüttelte sie den Kopf und blickte zu ihrem Sohn herunter. Erst jetzt schien sie den Regen zu bemerken, der die Kleider ihres Kindes innerhalb weniger Augenblicke durchtränkt hatte und zog den Jungen eilig in den Schutz des Laubenganges. Mit zusammengekniffenen Augen musterte Clemens das Haus und registrierte einen Schatten, der eilig von einem der oberen Fenster zurückwich. Routiniert gab er alle nötigen Anweisungen, dann stapfte er auf die offene Eingangstür zu. Nervös trat Aurelia zu ihm und erkundigte sich leise, wer hier wohnte. Langsam drehte er sich zu ihr um und antwortete schlicht: „Meine Frau"
Ihre Augen wurden riesig und ihr Blick glitt ins Leere. Kurz flackerte Frustration über ihr schönes Gesicht. Dann wurde ihre Miene freundlich und höflich-interessiert – es war beängstigend, wie schnell sie diesen Schutzmechanismus von ihrem Mann übernommen hatte. Bald würde nichts sie mehr so aus der Fassung bringen können, dass ihre Maske verrutschte. Sie war schon lange nicht mehr das hilflose Mädchen, welches er auf Capri versteckt hatte.
Rasch wandte er sich ab und betrat die Eingangshalle. Der Klang ihrer Schritte folgte ihm und unwillkürlich ließ er seinen Blick über die vertrauten Wände gleiten. Seine Augen waren noch immer die prunkvollen und geschmackvoll gestalteten Villen der Julier gewöhnt, weshalb ihm sein eigenes Zuhause beinahe leer und ärmlich erschien. Den Boden zierte kein mythologisches Mosaik, sondern ein schlichtes, ineinander verworrenes Muster an geometrischen Figuren und Schemen. An den Wänden befanden sich weder farbenfrohe Teppiche noch aufwendig gemalte Fresken. Gerade als er sich bei ihr entschuldigen wollte, bemerkte er ihren seltsam verträumten Gesichtsausdruck, der ihm schon im Innenhof aufgefallen war.
„Du hast eine sehr schöne Villa", erklärte sie lächelnd und Clemens schnaubte, sie sei schlicht. Aurelia verdrehte die Augen und zog Julius enger an sich.
„Sie ist elegant", gab sie zurück. „Aber vor allem ist sie ein richtiges Zuhause und kein kaltes, unpersönliches Protzobjekt, das mehr für das öffentliche Auge als für das private Leben gebaut worden ist"
Nachdenklich betrachtete er noch einmal die Schlichtheit seines Hauses, in dem er gemeinsam mit seiner Schwester Clementina so viele Sommer verbracht hatte. Dieses einfachere, unbeschwertere Leben lag schon so lange hinter ihnen.
Ein freudiger Schrei riss ihn aus seinen Gedanken. Am Treppenaufgang erschien ein Junge, der sogleich die Treppe hinunter gerannt kam. Lächelnd breitete Clemens die Arme aus und im nächsten Moment fiel ihm sein Sohn in die Arme. Bei den Göttern, wie groß er geworden war! Seine Mutter folgte ihm mit angemessener Geschwindigkeit. Ihr Blick huschte nervös zwischen Aurelia und ihm hin und her, bis er an dem kleinen Julius haften blieb, der sie schüchtern anlächelte. Behutsam löste sich Clemens von seinem Sohn, richtete sich auf und legte die Hand auf seine Schultern. Besorgt musterte Fannia Julius, dann ratterte sie eine Reihe von Befehlen herunter, denen die Sklaven sofort nachkamen.
„Ich habe dein Kommen nicht erwartet, Marcus", meinte Fannia kühl und wich seinem Blick aus. Aurelias Augenbraue hob sich leicht.
„Es war eine sehr spontane Entscheidung", antwortete Clemens und richtete seine Aufmerksamkeit auf Aurelia, die wieder ihre höflich interessierte Maske trug. Schnell stellte er die beiden Frauen einander vor und das Lächeln auf Aurelias Gesicht wurde wärmer.
„Ich bin sehr erfreut Euch kennenzulernen, Fannia", grüßte Aurelia mit einem freundlichen Lächeln und streckte ihre Hand aus. Einen Augenblick musterte Fannia die ausgestreckte Hand und als sich das unangenehme Schweigen ausdehnte, fürchtete Clemens bereits das Schlimmste. Bevor er einschreiten konnte, ergriff Fannia Aurelias Unterarm und murmelte ein paar Worte, die wohl Respekt und Ehrfurcht ausdrücken sollten. Aber natürlich war sich Clemens vollkommen bewusst, dass seine Frau nicht wusste, wer vor ihr stand. Woher auch? Sie lebte hier so zurückgezogen und war so desinteressiert an dem für sie unendlich weit entfernten Geschehen in Rom, dass sie die wichtigste Frau des Reiches nicht kennen konnte. Dennoch starb er in diesem Augenblick tausend Tode und eine kleine Stimme in seinem Hinterkopf wisperte ihm zu, dass er seinen Posten nach dieser Reise an jemandem mit einer respektvolleren Frau abtreten durfte. Aber Aurelias Lächeln blieb warm und freundlich, als sie ihren Arm sanft zurückzog und Julius vorstellte, worauf Fannia Marcus vorstellte und Clemens sich bei dem Gedanken ertappte, ob nun alle miteinander bekannt waren oder ob er jemanden vergessen hatte. Aurelia begann Fragen über den Stil der Villa zu stellen, worauf Fannia so knapp wie möglich antwortete. Innerlich wand sich Clemens vor Scham und bohrte unwillkürlich seine Finger tiefer in die Schulter seines Sohnes. Als Marcus schließlich leise wimmerte, ließ Julius die Hand seiner Mutter los und blickte vielsagend zu ihm auf. Unauffällig zog Clemens seine Hand zurück und Marcus entspannte sich augenblicklich. Die Jungen begannen sich leise zu unterhalten.
Bevor Aurelia ein weiteres Thema anschneiden konnte, erschien eines ihrer Mädchen und warf leise ein, dass die Zimmer nun vorbereitet sein. Erleichtert beobachtete er, wie sie sich noch einmal bei Fannia für ihre spontane Gastfreundschaft bedankte und dann im Inneren der Villa verschwand. Marcus bot Julius an ihn herumzuführen, sobald Julius seine klitschnassen Gewänder gegen Trockene getauscht hätte und so ließen ihn die Jungen gut gelaunt mit seiner Frau im Atrium allein. Nach ein paar Herzschlägen des Schweigens gab Clemens sich einen Ruck und erkundigte sich leise, ob sie sich freue ihn zu sehen. Zum ersten Mal seit er das Haus betreten hatte, blickte sie ihn an und er musste sich zwingen vor der Kühle ihres Blickes nicht zurückzuweichen.
„Ist sie deine Geliebte?", fuhr Fannia ihn leise an und ihr Vorwurf traf ihn vollkommen unvermittelt. Kannte sie ihn wirklich so schlecht, dass sie ihm so etwas unterstellte? Wie konnte sie nur so etwas von ihm denken? Seine sonst so gut kontrollierten Gefühle schwappten über. Mit einem Satz sprang er nach vorn, knallte gegen sie und presste sie mit seinem Körper gegen die Wand. Grob zwang er sie ihm in die Augen zu sehen.
„Sie ist die Frau des Princeps!", zischte er aufgebracht und sorgfältig darauf bedacht, dass nur sie seine Worte hören konnte. „Falls du es vergessen hast, verdanke ich allein ihrem Mann meinen Posten. Ihre Sicherheit ist genauso meine Pflicht wie deine! Allein das Gerücht unsere Beziehung sei tiefer, könnte uns alle den Kopf kosten, bei den Göttern, Frau, hüte deine Zunge, bevor du uns alle ins Verderben stürzt!"
Keuchend blickte sie zu ihm auf und erwiderte, dass er ihre Frage nicht beantwortet habe. Frustriert knurrte er und fuhr sanft mit den Fingerspitzen über ihr Gesicht. Fannia war schön, nicht übernatürlich schön wie Aurelia, sondern menschlich schön. Für ihn erreichbar schön.
„Deine Eifersucht ist unbegründet, Fannia. Du bist meine Frau. Sie löst in mir keine anderen Gefühle aus als meine kleine Schwester", wisperte er und hauchte Fannia einen federleichten Kuss auf die Wange. Dann ließ er abrupt von ihr ab, machte auf dem Absatz kehrt und stapfte in Richtung seines Gemachs davon.
„Warne mich das nächste Mal bitte vor, wenn du beschließt deine Arbeit mit zu uns nach Hause zu bringen. Dann kann ich mich wenigstens darauf vorbereiten", rief Fannia ihm atemlos hinterher. Sie musste einfach immer das letzte Wort haben. Ihre Schritte verschwanden in die entgegengesetzte Richtung. Wahrscheinlich musste sie ihren Frust an einem der Küchensklaven auslassen.
Die Atmosphäre zum Abendessen war ähnlich unangenehm wie bei ihrer Ankunft, aber immerhin bemühte Fannia sich weniger unfreundlich zu erscheinen und langsam entfaltete Aurelias Charme seine volle Wirkung. Draußen tobte noch immer ein ziemlich heftiges Unwetter und mit der Zeit gestattete Clemens sich ein kleines bisschen zu entspannen. Zu seiner Freude verstand sich sein Sohn Marcus trotz des Altersunterschiedes hervorragend mit Julius.
Am nächsten Morgen war Clemens sofort hellwach. Irgendetwas stimmte nicht. Ruckartig setzte er sich in seinem Bett auf und schaute sich suchend um. Neben ihm grummelte Fannia leise im Schlaf, drehte sich auf die Seite und schlief ungerührt weiter. Verwirrt blinzelte er auf sie herab, bis ihm die Ereignisse des vergangenen Tages wieder in den Sinn kamen. Mit einem Seufzen ließ er sich zurück auf sein Kissen sinken, als ihm endlich einfiel, was nicht stimmte. Die Sonne stand bereits viel zu hoch und er hatte den Beginn seiner Wache verpasst. Mit einem Satz sprang er aus dem Bett und begann hektisch seine Rüstung anzulegen. Fannia rührte sich nicht, als er aus dem Zimmer eilte und sich auf die Suche nach der anderen Frau machte, die seinem Schutz unterstand.
Im Garten entdeckte er Marcus und Julius, aber von Aurelia fehlte jede Spur. Fluchend schaute er sich um und wäre beinahe über seinen Sohn gestolpert, wenn dieser nicht im letzten Moment aus dem Weg gesprungen wäre. Hastig packte er seinen Sohn an der Schulter und wollte wissen, ob dieser Aurelia gesehen hatte.
„Sie ist mit ein paar deiner Männer runter zum Strand gegangen", antwortete der Junge eifrig. Stolz strich Clemens ihm rasch übers Haar, dann eilte er hinunter zum Strand. Sein panisch schlagendes Herz beruhigte sich erst, als er die Stufen hinabhuschte und sie sofort entdeckte. Aber wirklich wohl fühlt er sich erst, als er seinen Männern zunickte und Aurelia sich zu ihm umdrehte. Ihre Augen schimmerten in dem gleichen intensiven Blau wie das Meer in ihrem Rücken.
„Wie ich sehe, hast du gut geschlafen", zog sie ihn auf und legte den Kopf schief. Schnell stammelte Clemens eine Entschuldigung für sein spätes Auftauchen, aber Aurelia machte nur eine wegwerfende Handbewegung.
„Nun da wir vollzählig sind, kann die kleine Strandwanderung beginnen", meinte sie und lief los. Schnell blickte er sich nach allen Seiten um, aber die Luft schien frei zu sein. Caecilius fing seinen Blick auf und nickte knapp. Dankbar klopfte er seinen Männern auf der Schulter, dann holte er Aurelia ein. Obwohl sie ihn von der Seite anlächelte, spürte er, dass sie etwas bedrückte. Nach einer Weile hielt er das Schweigen nicht mehr aus und erkundigte sich, was ihr auf dem Herzen lag.
„Es ist albern", gab sie nach einigen stillen Herzschlägen zurück. „Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass mich deine Frau nicht mag und ich überlege die ganze Zeit, was ich falsch gemacht haben könnte"
Clemens seufzte schwer und fuhr sich durch die Haare. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er sich nicht einmal gekämmt hatte. Das erklärte die belustigten Blicke seiner Männer.
„Sie hat nichts gegen dich persönlich. Meine Frau verabscheut das Leben in Rom und für ihre Sicherheit ist es ohnehin besser, wenn kaum jemand von ihr weiß", erklärte er leise. „Dank Gaius und dir bin ich zu schnell zu hoch aufgestiegen, als dass ich mir auf meinem Weg keine Neider und Feinde gemacht hätte. Meine Gegner würden nicht davor zurückschrecken Marcus und Fannia gegen mich zu verwenden, wenn sich ihnen die Gelegenheit dazu biete"
„Bin ich ihr etwa zu römisch?", lachte Aurelia überrascht und strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr, die der Wind aus ihrer strengen Hochsteckfrisur gewirbelt hatte. Clemens schnaubte belustigt und dachte an das verängstigte Mädchen zurück, welches während ihrer ersten Begegnung auf Capri alles andere als römisch gewesen war. Nachdenklich musterte er sie. Mittlerweile strömte sie mit jeder Faser ihres Körpers urbanitas aus – abgesehen vielleicht von dem leicht fremdartigen Akzent, der ihr etwas Individuelles verlieh. Wenn er sie jetzt beobachtete, fiel es ihm manchmal schwer zu glauben, dass diese beiden Frauen ein und dieselbe Person waren. Denn sie war für dieses Leben geboren worden.
„Wem gehört die Villa dort?", fragte sie plötzlich und Clemens schrak aus seinen Gedanken auf. Ihm war gar nicht aufgefallen, wie weit so schon gegangen waren.
„Sie gehörte Tullius Tiro", antwortete er rasch. „Aber wem er sie nach seinem Tod hinterlassen hat, weiß ich nicht"
Blitzschnell huschten über ihr hübsches Gesicht verschiedene Emotionen von Überraschung, Niedergeschlagenheit, bis schließlich eine beinahe kindliche Freude haften blieb.
„Finden wir es heraus", meinte sie eifrig, raffte den Rock ihres Kleides und eilte davon. Fassungslos starrte Clemens ihr nach. Dann fiel ihm wieder ein, dass er ihr Wächter war und setzte sich in Bewegung. Für ihren Zustand war sie wirklich ziemlich flink. Dennoch holte er sie am oberen Ende der Treppe ein. Zuerst wollte er seine Bedenken äußern. Aber als er ihr Gesicht sah, musste er die Sinnlosigkeit dieses Vorhabens feststellen. Sie würde nicht auf ihn hören.
Die Sklaven auf den Feldern warfen ihrer kleinen Truppe misstrauische Blicke zu, aber sie widmeten sich schnell wieder ihrer Arbeit. Anscheinend fürchteten sie den Zorn ihres Vorgesetzten mehr als die Ankunft einer Fremden mit schwer bewaffneten Wachen.
Nach einer Weile stellte sich ihnen ein kleiner Mann mit schief sitzendem Sonnenhut in den Weg und verlangte mürrisch zu erfahren, was sie auf dem Besitz seines Herren zu suchen hätten. Die Peitsche in seiner Hand ließ keinen Zweifel an seiner Arbeit.
Aurelia schenkte dem kleinen Mann ein freundliches Lächeln und forderte ihn auf sie zu seinem Herrn zu bringen. Der Aufseher musterte sie kritisch von Kopf bis Fuß und schielte immer wieder zu Clemens und seinen Prätorianern. Dann stieß er einen Pfiff aus und im nächsten Moment schlenderte ein weiterer Aufseher aus dem benachbarten Feld zu ihm herüber. Dieser Aufseher war ebenso groß wie der Erste, aber sein Hut saß. Ihr gemurmeltes Gespräch machte Clemens nervös und er wollte sie schon zum Gehen überreden, als der Aufseher mit dem schiefen Hut sich mit einem noch schieferen Lächeln zu ihnen umdrehte und ihnen erklärte, dass er sie nun ohne Bedenken zu seinem Herren führen konnte.
Sein Herr war niemand anderes als Marcus Tullius Agathos, von dem Clemens noch nie etwas gehört hatte. Seine Haut war wettergegerbt und die raue Haut seiner Hände zeugten davon, dass Agathos nicht davor scheute auf den Feldern mitzuarbeiten. Er musterte Aurelia nachdenklich und schien sofort die Dynamik ihrer Gruppe zu durchschauen, denn er richtete das Wort sofort an sie und ignorierte ihre Wächter. Clemens war dies nur recht, denn so konnte er sich mehr auf ihre Umgebung konzentrieren. Mit halbem Ohr lauschte er dem höflichen Gespräch.
„Wenn Ihr Euch so für die Arbeit meines verstorbenen Herren interessiert, dann folgt mir. Ich möchte Euch gern etwas zeigen", sagte Agathos eifrig und störte Clemens' Suche nach Fallen. Das Gesicht des Mannes war so aufrichtig erfreut über das Interesse an seinem verstorbenen Herrn, dass Clemens' Zweifel verflogen. Sie waren nicht in Rom, wo jeder eine Maske trug.
Ohne zu zögern folgte Aurelia dem Freigelassenen durch die Villa, bis er vor einer Tür stehen blieb. Mit großer Geste zog er einen schweren Schlüsselbund hervor und kramte eine Weile nach einem unauffälligen, kleinen Schlüssel. Sobald das Schlüsselchen gefunden war, entriegelte er rasch die Tür und hieß Aurelia einzutreten.
Fasziniert musterte Aurelia die einzelnen Gegenstände des Arbeitszimmers. Überall lagen Wachstafeln, die meistens zu kleinen Notizbüchern zusammengefasst waren.
„Nach dem Tod unseres Herrn hatten wir hierfür keinerlei Verwendung mehr", erklärte Agathos und Clemens positionierte sich neben der Tür, während seine Prätorianer auf dem Gang stehen blieben. Mit einem nostalgischen Lächeln fuhr Agathos an Aurelia gerichtet fort: „Aber ich habe es nicht übers Herz gebracht seine Sachen wegzuwerfen und diesen Raum anderweitig zu nutzen. Fühlt Euch frei zu lesen, was Ihr wollt"
Agathos verneigte sich leicht vor Aurelia, was sie zum Schmunzeln brachte. Dann richtete er sich ohne Hast auf und verließ den Raum. Überwältigt blickte sich Aurelia in dem kleinen Arbeitszimmer um und nahm sich schließlich eines der Notizbücher. Stirnrunzelnd betrachtete sie die Wachstafel.
„Aulus", rief sie in Gedanken versunken und der junge Prätorianer betrat nervös den Raum. Immer wieder huschte sein Blick um Bestätigung flehend zu Clemens.
„Bring bitte Prunia zu mir", befahl sie ohne von der Wachstafel aufzusehen und fügte dann mehr zu sich selbst hinzu: „Ich brauche ihre Hilfe"
In den nächsten Tagen verkroch sie sich mit ihrer Sekretärin in dem kleinen, hellen Arbeitszimmer und sichtete das Material, welches Ciceros Freigelassener hinterlassen hatte. An den meisten Abenden speiste er allein mit Fannia und den Jungen, die sich überraschend gut verstanden.
Die Schatten unter Aurelias Augen wurden mit jedem weiteren Tag dunkler, an dem sie sich mit Ciceros und Tiros literarischem Erbe beschäftigte. Obwohl Clemens die ungeplante Zeit mit seinem Sohn und seiner Frau sehr genoss, machte ihn die Länge des Aufenthaltes langsam, aber sicher nervös. Aurelia hätte schon vor einer Woche am Golf von Neapel eintreffen sollen und auch wenn sie dort keine öffentlichen Termine wahrnehmen musste, würde ihr Fehlen mittlerweile bei ihren Nachbarn aufgefallen sein. Immerhin wurde sie dort als Ehrengast zu den Gastmählern der reichsten und mächtigsten Familien der Umgebung erwartet. Als er sie am nächsten Tag darauf ansprach, blickte sie vollkommen zerstreut von der Wachstafel auf, die sie in den Händen hielt. Es dauerte ein paar Wimpernschläge, bis sie in die Realität zurückgekehrt war und auf seine Frage antworten konnte.
„Ich kann hier nicht weg", murmelte sie mehr zu sich selbst. „Es gibt noch so viel zu lesen. Nur noch ein paar Tage, Clemens"
Aber erst nachdem Agathos, der Besitzer des kleinen Hofes, ihr sämtliche Schriften zu einem unverschämt hohen Preis verkauft hatte, konnte Clemens sie zum Fortsetzen ihrer Reise bewegen.
In ihrer Villa am Golf von Neapel führte sie zwei Wochen andauernde Verhandlungen mit den führenden Magistraten von Pompei und konnte sie schließlich für die Eröffnung einer öffentlichen Bibliothek in der Stadt gewinnen. Als er sie später auf den Sinn einer solch großen Bibliothek ansprach, schaute sie ihn vollkommen irritiert an.
„In acht Jahren werden wir in Pompei eine Zweitstelle der Universität von Misenum eröffnen", meinte sie und schüttelte den Kopf, als müsste er über solche Dinge Bescheid wissen. Zumal oder gerade weil es in Misenum noch gar keine Universität gab, hatte er das Gefühl, dass mehr dahinter steckte, als sie ihm erzählen wollte. Aber Clemens schluckte seine Verwunderung hinunter und gratulierte ihr, dass allen Städten am Fuße des Vesuvs den jährlichen Evakuierungsübungen zugestimmt hatten. Aber sie war in Gedanken bereits an einem anderen Ort.
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