Kapitel 78 ~ Optiones
„Ihr erwartet ein Kind, Herrin", bestätigte Sophie seine Befürchtungen und Clemens setzte sein sinnloses Auf- und Abmarschieren in Aurelias Privatgemächern fort. Seine Gedanken waren ebenso wirr wie seine Gefühle und die Bewegung war das Einzige, das ihm etwas Klarheit verschaffte. Aus dem Augenwinkel registrierte er, wie sie mit einem Schlag vollkommen ruhig wurde. In seinem Kopf formte sich ein Plan nach dem anderen, wie er seine Aufgabe sie zu beschützen nun erfüllen konnte. Aber vieles war nun zusätzlich zu bedenken und ein Teil von ihm wusste, dass die Entscheidung nicht bei ihm lag. Denn vor manchen Dingen konnte er sie einfach nicht beschützen. In manchen Dingen war er genauso hilflos wie sie. Nun gab es auch noch eine weitere, unschuldige Figur in dem gewaltigen Schachspiel der römischen Politik, die er beschützen musste. Sobald der Senat von diesem neuen, unschuldigen Leben erfahren würde, würde er alles in Bewegung setzen, damit er die geschwächte Position Aurelias anfechten konnte. Was sie brauchten, war mehr Zeit. Doch die Zeit würde ihr schon bald davonlaufen. Das wussten sie beide. Ihm fiel nur eine Person ein, die der Situation die Brisanz nehmen konnte. Nachdem die alte Sophia aus dem Gemach gehuscht war, begann er seine Gedanken laut zu äußern. Aber nach kurzer Zeit bemerkte er, dass etwas nicht stimmte. Sie war ungewöhnlich still. Abrupt hielt er in der Bewegung inne und betrachtete sie. Ihr Gesicht war vollkommen leer und ihre Augen blickten in weite Ferne. Langsam kam er zu ihr, aber sie nahm ihn nicht wahr. Vorsichtig wedelte er mit seiner Hand vor ihren Augen, aber auch darauf reagierte sie nicht. Erst als er mehrfach besorgt ihren Namen rief, schrak sie zusammen und tauchte endlich aus der Welt ihrer Gedanken auf. Irritiert blinzelte sie zu ihm auf.
„Hast du überhaupt ein Wort von dem mitbekommen, was ich dir gerade gesagt habe?", wollte er besorgt wissen und sie blinzelte ihn ertappt an. Träge schüttelte sie den Kopf und sah sich im Raum um. Vielleicht nach Sophia. Clemens seufzte, fuhr sich gereizt durchs Haar und ließ sich auf den freien Sessel neben ihr plumpsen, nur um in der nächsten Sekunde wieder davon aufzuspringen und erneut wie ein eingesperrtes Tier auf einer nur ihm festgelegten Bahn herumzulaufen. Geduldig wartete Aurelia darauf, dass er seinen Frust abgelaufen hatte und bereit war wieder mit ihr zu sprechen. Abrupt blieb er stehen, drehte sich ruckartig um und begegnete ihrem Blick.
„Du musst es Gaius sofort mitteilen", platzte aus ihm heraus und er sah, wie alle Farbe aus ihrem Gesicht wich. In ihren Saphiraugen erblickte er die klaffende Leere, die seit Gaius' Abreise in ihr lebte. Die Strahlende hatte ihr Strahlen verloren.
„Ich kann es ihm nicht sagen", erwiderte sie leise. Leere und Sehnsucht hallten in ihre Stimme tief aus ihrem Inneren wider. „Leider sind die sichersten Geheimnisse die, die niemand kennt. Du weißt genauso gut wie ich, was passieren wird, sobald ich es nicht mehr verbergen kann. Wir müssen die begrenzte Zeit, die uns noch zur Verfügung steht, für unser aller Wohl nutzen und im Verborgenen die nötigen Schritte einleiten. Sonst sind wir alle verloren"
Fassungslos starrte er sie an. Er verstand ihre Worte, aber er wollte nicht glauben, dass es keinen anderen Weg gab. Verstand sie nicht, was sie ihrem Mann und sich selbst antat? Nach einer Weile erwiderte er: „Das ist Wahnsinn. Sie werden dir vorwerfen, dass du ihr Vertrauen missbrauchst und ich rede nicht nur vom Senat. Es ist sein Recht diese Dinge zu erfahren. Du wirst nur sicher sein, wenn er zurückkehrt"
Auf einmal loderte in ihren Augen etwas Fremdes auf. Wut, eiskalte, alles zerstörende Wut. Mit einem Satz baute sie sich vor ihm auf und fuhr ihn gereizt an: „Und was dann? Glaubst du ernsthaft, Gaius würde meinetwegen einen jahrelang akribisch geplanten Feldzug abbrechen? Mach die Augen auf, er ist bereits in Britannien! Bis er hier ist, kann es bereits zu spät sein. Er hat mir diese Aufgabe anvertraut, weil er davon überzeugt ist, dass ich, solange er fort ist, diese Stadt, diese Familie und mich selbst gegen alle Gefahren, Krisen und Katastrophen verteidigen kann und nichts kann mich dazu bringen das Vertrauen meines Mannes derart zu enttäuschen! Die eigentliche Frage ist, mein Freund, ob du mir helfen wirst oder ob ich auf mich allein gestellt bin?"
Entsetzt und verletzt wich er einen Schritt zurück. Wie konnte sie auch nur andeuten, dass er seine Pflicht im Stich lassen würde? Ohne sie war er nichts. Eine kleine Ewigkeit herrschte Stille und gab ihnen beiden die Gelegenheit nachzudenken. Je mehr Zeit stumm verstrich, desto mehr wich ihre Wut und Angst schimmerte in ihren tiefen, dunkelblauen Augen. Kaum merklich begann sie zu zittern, während sie zu ihm aufblickte. Er wusste, dass sie ihn brauchte, nicht nur zum Schutz ihrer Familie, sondern als Freund. Sie brauchte ihn ebenso wie er sie. Denn auch er konnte sie nicht verlieren. Aber er war noch immer außer Stande etwas zu sagen. Also musterte er sie nachdenklich und still aus seinen braunen Augen. Bis er endlich seine Stimme wiederfand und die drückende Stille zerriss.
„Solange ich atme, werde ich dir immer dienen", versprach er leise. Mit einem Mal fiel die Maske und vor ihm war wieder das unschuldige, verängstigte Mädchen, welches an Capri an Land gespült worden war. Plötzlich erinnerte etwas an ihr ihn wieder an Fannia. Leicht schüttelte er den Kopf, um den Gedanken an Fannia zu verdrängen, während er beobachtete, wie vor Erleichterung alle Anspannung aus ihrem zarten Körper wich und sie vor Erschöpfung beinahe zusammenbrach. Im gleichen Wimpernschlag war er bei ihr, ergriff ihren Arm und geleitete sie zurück auf ihren Sessel. Kraftlos schloss Aurelia die Augen und massierte sich die Schläfen.
„Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich mich danach sehne, es ihm erzählen zu können", gestand sie leise ohne die Augen zu öffnen. Langsam setzte er sich auf den Sessel neben sie. Müde schlug sie ihre Augen auf und hielt seinem besorgten Blick stand, während sie fortfuhr: „Aber es geht nun mal nicht nur um mich. Ich kann das Risiko nicht eingehen, dass die Nachricht abgefangen wird. Man könnte sie gegen uns alle verwenden"
Eine Weile rang Clemens mit sich, dann legte er zögerlich seine Hand auf die ihre und erklärte: „Es tut mir leid, wenn ich dir das Gefühl gegeben habe, dass ich deinem Urteil nicht vertraue. Regeln wir die Sache auf deine Weise"
Der Hauch von Verletzlichkeit schwand aus ihrer Miene und machte einer neuen Entschlossenheit Platz. Mit einem feinen Lächeln auf den Lippen nickte sie ihm zu und sie begannen eine gemeinsame Strategie zu entwickeln. Als Clemens kurz darauf das Gemach verließ und wieder auf seinem Posten davor Stellung bezog, war alles gesagt und so diente er schweigend.
Es faszinierte ihn, wie blind die Menschen um sie herum waren. Aurelia strahlte auf die gleiche Weise, wie er es bei ihrer ersten Schwangerschaft beobachtet hatte, aber dennoch waren die Menschen um sie herum unfähig diese Veränderungen zu erkennen und die richtigen Schlüsse zu ziehen. Vielleicht wollten sie es auch einfach nur nicht sehen. Bemerkten sie nicht, dass er ihr kaum noch von der Seite wich oder erledigte er seine Aufgabe so gut, dass sie ihn schlicht nicht mehr wahrnahmen?
Jeder Tag, der verstrich, indem ihr Zustand nicht an die Öffentlichkeit gelangte, war ein weiterer Tag in Sicherheit, denn von Ruhe konnte keine Rede sein. Auch wenn er nicht wusste, wie sie es vollbrachte, arbeitete sie noch härter als zuvor. Diese ahnungslosen und blinden Magistrate verfielen immer mehr ihrem Bann, weil auch sie die harte Arbeit sahen, die diese Frau für sie alle leistete. So weit er wusste, war nicht einmal ihr Sohn informiert. Als er sie darauf angesprochen hatte, hatte sie nur den Kopf schief gelegt und ihm tief in die Augen gesehen, als wäre allein seine Frage vollkommen überflüssig. Sie hatten noch ungefähr drei Wochen, bis die Sommerpause des Senats heranbrach. Wenn Aurelias Rechnung stimmte, würde sie ihren Zustand bis dahin verbergen können. Aber was sie durch ihre viele Arbeit nicht wahrnahm, waren die immer häufiger werdenden, analysierenden Blicke der anderen Frauen, die sie ihr zuwarfen, wenn Aurelia sich mit ihren Männern auf den Abendmahlen unterhielt. Er schon, denn das war seine Aufgabe.
Letztendlich war es Agrippina, die Aurelia an einem wunderschönen Tag Anfang Juli das Gefühl von Sicherheit nahm. Obwohl Clemens bereits die Nachtwache übernommen und gerade mal drei Stunden Schlaf bekommen hatte, hatte er sich in den Schatten einer Säule des Pavillons zurückgezogen und beobachtete seine Schützlinge so wachsam, dass nur Argus seine Aufgabe besser ausfüllen könnte. Aber das letzte Mal, als er an sich herabgeblickt hatte, wies sein Körper keine hundert Augen auf. Normalerweise gehörte es zu einem seiner Prinzipien, dass er auf seine Schutzbefohlenen zwar aufpasste, ihnen aber einen gewissen Freiraum gewährte. Aber etwas an Agrippinas Miene sorgte dafür, dass er dieses eine Mal die Ohren vor dem Gespräch der beiden Frauen nicht verschloss.
Alles begann, indem Agrippina sich bei ihrer Schwägerin unschuldig nach ihrem Bruder erkundigte. Augenblicklich wurde Aurelias Gesicht traurig, als sie schnell den Inhalt des letzten Briefes zusammenfasste, den sie im Senat verlesen hatte. Misstrauen huschte über Agrippinas hübsches Gesicht und obwohl Clemens ein Stoßgebet an seinen Schutzgott Mars sandte, formten ihre Lippen die Frage, die Aurelia zu einem Geständnis brachte. Obwohl er zuvor diesen Bereich des Gartens überprüft hatte, versicherte Clemens sich mit einem Blick erneut, dass sie noch immer ungestört waren. Einen Augenblick waren beide Frauen ganz still, dann sprudelte Agrippina los. Etwas überfordert versuchte Aurelia ihrer Schwägerin zu folgen, aber auch für Clemens waren die Worte und Gedankensprünge zu schnell. Denn es waren nicht nur die üblichen Fragen und schon recht keine Glückwünsche. Nur als sie sich erkundigte, ob ihr Bruder bereits informiert sei und Aurelia kopfschüttelnd verneinte, herrschte für einen Moment Stille. Dann redete sie weiter auf Aurelia ein.
„Der Augenblick ist etwas ungünstig, aber es ist nun mal passiert", meinte Aurelia ruhig und Agrippina hielt in ihrem Monolog inne. Sanft nahm Agrippina die Hand ihrer Schwägerin und drückte diese sanft.
„Es ist noch nicht zu spät und ich kenne jemanden, der dir aus dieser misslichen Lage heraushelfen kann", sagte Agrippina so leise, dass Clemens sich nicht sicher war, ob sie diese Worte wirklich gesagt hatte. Verständnislos blickte Aurelia ihre Freundin an und verstand. Entsetzt wich Aurelia vor Agrippina zurück und legte sich eine Hand auf den Bauch. Sofort vergewisserte er sich, dass niemand sie aus einem anderen Teil das Gartens beobachtete. Aber der Garten war noch immer leer. So verpasste er allerdings einen Großteil von Aurelias Worten.
„Denk doch nur an deinen Sohn!", warf Agrippina gerade leidenschaftlich ein. „Was wird aus ihm, wenn sein Vater weit weg in Britannien und seine Mutter nur noch ein Haufen Asche ist?"
„Es ist mein Körper", antwortete Aurelia kalt. „Die Entscheidung liegt allein bei mir und ich bitte dich dies zu akzeptieren. Lass die Sache auf sich beruhen"
Beschämt senkte Agrippina den Blick, aber irgendetwas an ihr weckte sein Misstrauen. Kurz darauf hüpfte der kleine Julius die Stufen des Pavillons herauf und verlangte nach der Aufmerksamkeit seiner Mutter. Voller Liebe lächelte Aurelia ihren Sohn an und setzte ihn sich auf den Schoss. Der kleine Lucius folgte nur wenige Schritte hinter seinem Freund. Er sah aus, als wäre er in einen der Zierbrunnen gefallen und Agrippina nutze die Gelegenheit mit ihm zurück ins Innere der Villa zu gehen. Nachdenklich beobachtete er, wie sie entschlossen durch den Garten lief und schließlich im Haus verschwand. Sie würde die Sache ganz sicher nicht auf sich beruhen lassen.
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