Kapitel 70 ~ Bonis cum ominibus incipit
Der Blitz löste in Gaius eine derartige Nervosität aus, dass er am liebsten nach Hause geeilt wäre. Intuitiv trat er hinaus in den Regen, als eine Hand seinen Arm packte und ihn energisch zurück in das trockene Innere des Tempels zerrte.
„Was machst du denn?", zischte Vespasian ihn gereizt an und konnte nur mit Mühe seine Stimme dämpfen. „Da drinnen predigst du das Gebäude nicht zu verlassen, aber selbst willst du in dieses Gewitter hinausstürmen? Verdammt, hast du auch nur eine Sekunde daran gedacht, was mit deiner hochschwangeren Frau geschieht, wenn dir etwas zustoßen würde?"
Im letzten Augenblick konnte Gaius sich daran hindern wie ein von seinem Lehrer getadelter Schuljunge den Kopf vor seinem Freund zu senken. Natürlich dachte er an Aurelia, er dachte nie an etwas anderes. Der Blitz war ganz in der Nähe seines Hauses eingeschlagen, also was wenn Aurelia oder seine Schwestern Hilfe brauchten? Nachdenklich betrachtete er den Himmel und registrierte zu seiner Überraschung, dass der Sturm nachließ. Blitze konnte er keine mehr erkennen. Gelassen wandte er sich zu Vespasian und gerade als er ihm antworten wollte, keuchte sein Freund auf und starrte mit offenem Mund an ihm vorbei auf das Forum. Irritiert folgte er dem Blick seines Freundes und unterdrückte ein Seufzen. Sein Unbehagen wuchs, als der Himmel aufriss und die Wärme des ersten Sonnenstrahls auf sein Gesicht fiel. Dampf stieg in gespenstiger Anmut von den Straßen Roms auf und Gaius zwang sich den Blick abzuwenden. Er unterdrückte eine sarkastische Antwort und gab seinem immer noch staunenden Freund ein Zeichen ihm zurück zu den anderen Senatoren zu folgen. Für Gaius konnte diese Abstimmung nicht schnell genug vorüber gehen, so drängend war das Verlangen nach Hause zurückzukehren und nach dem Rechten zu sehen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit schritt Gaius über seine Schwelle und fand sich inmitten von absolutem Chaos wieder. Aufgescheuchte Sklaven und Sklavinnen huschten durch das Atrium und nahmen sein Eintreten kaum war. Sie waren viel zu sehr mit ihren Aufträgen beschäftigt. Ihre Gesichter zeigten zu seiner Überraschung nichts als Freude. Vielleicht irrte er sich und der Blitz war kein Zeichen Jupiters gewesen. Vielleicht war er einfach nur ein ganz gewöhnlicher Blitz, ein Teil eines Unwetters ohne weitere Bedeutung.
Würdevoll schritt Gaius durch das Atrium und stieg die Treppe hinauf. Aus dem Nichts erschien Agrippina auf dem Treppenabsatz, sodass er beinahe in sie hineinlief. Voller Freude strahlte sie ihn an und als er bei ihr war, umarmte sie ihn überschwänglich. Verwirrt erwiderte er ihre Umarmung.
„Sie hat es geschafft", wisperte Agrippina aufgedreht in sein Ohr. „Herzlichen Glückwunsch, großer Bruder. Ich freue mich so für dich. Ich muss Julia finden. Wir haben so viel zu tun"
Schon rauschte Agrippina an ihm vorbei und ließ ihn noch verwirrter, aber beruhigter auf dem Treppenabsatz stehen. Amüsiert machte er sich auf dem Weg zu seinen Gemächern. Er konnte es gar nicht erwarten seine Toga loszuwerden. Mittlerweile nervte ihn, wie sehr sie ihn in seinen Bewegungen einschränkte und für einen kurzen Moment erinnerte er sich an ein Gespräch mit Aurelia, welches sie vor so langer Zeit auf Capri geführt hatten.
Voller Begeisterung sprang sie von der Liege auf und überbrückte mit zwei großen Schritten die Distanz zwischen ihnen. Neugierig streckte sie die Hand nach ihm aus, doch bevor ihre Finger den Stoff seiner Toga berührten, hielt sie inne und Gaius musste ein Seufzen unterdrücken. Sein Verlangen nach ihrer Berührung machte ihm Angst. Ruckartig hob sie den Kopf und er versank in der unendlichen Tiefe ihrer Meeraugen.
„Darf ich?", fragte sie schüchtern und Gaius nickte eilig. Als ihre Fingerspitzen den Stoff seiner Toga berührten, lief ein Schauer durch seinen Körper und beinahe schloss er vor Genuss die Augen. Stattdessen musterte er fasziniert ihr atemberaubend schönes Gesicht, prägte sich jeden Milimeter ein und sog gierig ihren betörenden Duft ein. Ihre Nähe berauschte seine Sinne und Gaius spürte, wie er langsam die Kontrolle verlor. Sie durfte ihm nie wieder so nah kommen.
„Es ist tatsächlich eine Uniform, die zugleich die Bewegungen uniformiert", staunte sie und lächelte ihn gedankenversunken an.
„Was tragen denn die Männer in deiner Zeit anstelle einer Toga?", fragte er und war selbst überrascht wie ruhig seine Stimme klang. Es war immer noch so verwirrend, dass sie erst in zweitausend Jahren geboren werden würde, aber dennoch vor ihm stand. In diesem Augenblick verloren ihre Augen den verträumten Ausdruck und fixierten ihn ernst.
„Einen Anzug", antwortete sie leise. „Eine Hose mit einem Sakko und einem Hemd"
Als er ihr lachend gestand, dass er sich darunter nichts vorstellen konnte, begann sie ihm voller Leidenschaft die einzelnen Begriffe zu erklären. Ihre Augen sprühten voller Begeisterung. Bei den Göttern, sie war wirklich seine größte Schwäche. Warum stellten ihn die Götter nur derart auf die Probe?
Lächelnd schüttelte Gaius den Kopf und vertrieb die Erinnerung. Mittlerweile hatte er die Tür zu seinen Gemächern erreicht und am Rande registrierte er, dass Suetonius davor stand und ihm lächelnd entgegensah. Gaius nickte ihm freundlich zu, dann schlüpfte er durch die offene Tür und schloss sie hinter sich. Aurelias Mädchen, die aufzuräumen schiene, blickten von ihrer Arbeit auf und verließen schnell den Raum, als sie ihn erkannten. Die Tür zum Schlafzimmer stand offen und stirnrunzelnd bemerkte er, wie hell und lichtgeflutet der Raum war. Normalerweise zog Aurelia die Vorhänge zurück, wenn sie schlafen wollte. Wieder nervös geworden, betrat er das Schlafzimmer und die Szene, die sich ihm bot, verstand er nicht. Auf ihrer Seite des Bettes saß Aurelia kerzengerade, ihre langen Haare flossen wie ein goldener Wasserfall über ihre Schulter und in ihren Armen lag ein kleines Bündel, welches ihre langen Haare vor ihm verbargen. Auch ihr Gesicht konnte er nicht sehen. Als hätte sie seine Anwesenheit gespürt, hob sie den Kopf und lächelte ihn an. Obwohl tiefe Schatten unter ihren Augen lagen, strahlte ihr Gesicht vor Liebe und Glück. Automatisch kam er zu ihr und setzte sich auf die Bettkante. Immer noch lächelnd richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Bündel in ihren Armen, langsam folgte er ihrem Blick und was er sah, verschlug ihm den Atem. In ihren Armen lag friedlich schlafend das wohl schönste Kind, das Gaius je gesehen hatte. Es war so winzig, dass ihn sofort der Wunsch überfiel es zu beschützen. Die kleine Nase, die kleinen Ohren, die kleinen, feingeschwungenen Lippen - alles war so perfekt. In diesem Moment schlug das kleine Wesen die Augen auf und blickte neugierig zu ihm auf. Klare, blaue Neugeborenenaugen. Die kleinen Lippen verzogen sich zu einem breiten Lächeln, dann fielen ihm die Augen auch schon wieder zu und das Kind schlief eng an Aurelia gekuschelt ein. Euphorisch drückte er Aurelia einen sanften Kuss auf die Stirn.
„Du hast es geschafft", raunte er leise und sie legte ihm vorsichtig das Kind in seine Arme. Es war so winzig, dass es genau auf seinen Unterarm passte. Voller Vertrauen schmiegte sich das kleine Wesen an ihn. Ein winziges, wunderschönes Wunder der Natur, welches sie beide geschaffen hatten.
„Möchtest du ihn Drusus nennen?", fragte sie und die Unsicherheit in ihrer Stimme ließ ihn aus seiner bewundernden Betrachtung des Kindes aufblicken. Verwirrt hob er die Augenbraue und Aurelia schoss das Blut in die Wangen. Noch nie war er so erleichtert sie erröten zu sehen wie in diesem Augenblick. Er war so froh, dass es ihr gut ging. Nach all den Tragödien, die er in seinem kurzen Leben bereits erlebt hatte, grenzte sie an ein Wunder. Sie und dieser perfekte, kleine Junge waren das Beste, was ihm je widerfahren war. Noch nie in seinem Leben war er so vollkommen glücklich gewesen. Stundenlang hatte er Platon, Zenon, Epikur und Cicero gelesen, aber das hier war das wahre Glück.
„Wegen Drusilla?", fügte sie unsicher hinzu und Gaius hatte das Gefühl, als würde diese Frage sie schon seit Drusillas Tod beschäftigen. Lächelnd strich Gaius über das kleine Köpfchen seines Sohnes, dann legte er seine Hand unter Aurelias Kinn und zwang sie ihm in die Augen zu sehen.
„Wenn wir ihn Drusus nennen, ehren wir damit nicht Drusilla, sondern meinen Bruder", meinte er sanft. „Drusus war ein Idiot und er verdient es nicht, dass wir die Erinnerung an ihn so am Leben erhalten. Lass uns einfach der klassischen Variante folgen und benennen unseren Sohn nach mir"
Lachend verdrehte Aurelia die Augen, bis ihr Lachen plötzlich erstarb und sie erschrocken auf das Kind in seinen Armen schaute. Aber der Kleine schlief tief und fest wie ein Stein.
„Gibt es denn nicht schon genügend Männer, die den Namen Gaius Julius Caesar tragen?", warf sie mit gesenkter Stimme ein. „Ein weiterer könnte womöglich bei künftigen Schülern für große Verwirrung sorgen"
Leise lachend strich er über die kleine Hand seines Sohnes. Was interessierten ihn die Probleme in dreihundert, tausend oder zweitausend Jahren? Immer noch schlafend griff das Kind nach seinem Finger und krallte sich an ihm fest.
„Eines Tages wird er sich sicherlich einen eigenen Namen machen", versprach er sanft und Aurelia gab sich geschlagen.
„Mein kleiner Julius", flüsterte sie und drückte dem Kind einen federleichten Kuss auf die Stirn.
„Unser kleiner Julius", korrigierte Gaius grinsend. Eine Weile betrachteten sie in andächtigem Schweigen ihren kleinen Jungen. Gerade als er die Stille mit der Frage unterbrechen wollte, wie es ihr ginge und er den Blick von seinem schlafenden Sohn losreißen konnte, stellte er fest, dass seine Frau mit einem glücklichen Lächeln auf den wunderschönen Lippen so friedlich schlief wie das Kind in seinen Armen. Still betrachtete Gaius die beiden wichtigsten Menschen in seinem Leben und verlor darüber jegliches Zeitgefühl. Irgendwann betrat eine der Ammen das Zimmer und bat um die Erlaubnis seinen Sohn mitzunehmen, damit sie ihrer Arbeit nachgehen konnte. Schweren Herzens übergab Gaius seinen Sohn in die Obhut der jungen Frau und blickte ihnen nach, als sie den Raum verließen. Während er auf die Rückkehr seines Sohnes wartete, betrachtete er seine schlafende Frau. Leise Schritte kündigten die Rückkehr seines Sohnes an und erwartungsvoll riss er sich von dem Anblick seiner Frau los. Doch das Zimmer betrat nicht die Amme, sondern seine kleine Schwester Julia. Ihre helle Haut hob sich deutlich von den dunklen Mustern des Saumes ihres Gewandes ab. Unsicher blieb sie auf der Schwelle stehen und blickte zwischen Aurelia und ihm hin und her. Ein kleines Seufzen unterdrückend erhob sich Gaius vorsichtig, strich Aurelia eine wirre Haarsträhne aus dem Gesicht, dann schlich er zu seiner Schwester und zog hinter sich die Schlafzimmertür zu. Wortlos lief Julia in den Wohnbereich seiner Privatgemächer und ließ sich auf eine der Liegen fallen. Sofort verdrängte Gaius die Erinnerung daran, wie er genau diese Liege vor ein paar Wochen durch das Zimmer geschleudert hatte und setzte sich neben seine Schwester.
„Was liegt dir auf dem Herzen, kleine Schwester?", fragte er. „Kannst du dich nicht für mich freuen, ist es das?"
Langsam schüttelte sie den Kopf und wich seinem Blick aus. Nervös trommelten ihre Finger auf ihrem Oberschenkel. Diesen Tick hatte er nicht mehr bei ihr beobachtet, seit Urgroßmutter Livia gestorben war. Vollkommen ruhig lehnte Gaius sich zurück und ließ sich von einem der Sklaven einen Kelch Traubensaft reichen.
„Das ist es nicht, ich konnte es nicht", wisperte Julia beschämt. „Ich konnte Aurelia nicht wie Agrippina beistehen. Ich bin nicht so stark wie unsere Schwester. Alles, was ich sah, war Drusilla. Ich erinnere mich daran, wie ich gerannt bin. Erst durch die Gänge und später durch den Regen. Irgendwann bin klitschnass vor dem Altar der Vesta auf den Marmorboden gesunken und habe angefangen zu beten. Eine Ewigkeit habe ich sie angefleht unserer Familie weiteres Unheil zu ersparen. Plötzlich schlug der Blitz krachend in das Kohlebecken ein und, oh Gaius, die Flamme war so gewaltig. Im nächsten Augenblick hörte ich das Geschrei eines Kindes und da wusste ich, dass meine Gebete erhört worden waren"
Mit weit aufgerissenen Augen begegnete Julia endlich seinem Blick, in ihnen schimmerten Tränen und für einen Moment war Gaius vollkommen ratlos, wie er sie trösten sollte.
„Ich habe den Blitz gesehen", gestand er sanft und Julia blinzelte. „Keine Minute später war das Unwetter verschwunden. Wäre dies nicht für jeden Augur ein gefundenes Fressen? Du weißt, dass ich nicht an solche Zeichen glaube, deshalb behalte, was du gesehen hast, für dich."
Ein zaghaftes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, dann nickte sie eilig. Mit einem Seufzen fuhr er sich durchs Haar. Sein Sohn war noch keine drei Stunden alt und schon war seine Geburt beinahe so legendär wie die von Alexander dem Großen. Hoffentlich würden die Schicksalsgöttinnen für Julius nicht das gleiche Schicksal bereithalten. Denn auch wenn Gaius nicht an Prophezeiungen glaubte, so zweifelte er nicht an der Macht des Schicksals und die der Götter. War Aurelias Anwesenheit nicht der beste Beweis für ihre Macht? Auf keinen Fall wünschte er sich für seinen Sohn so früh zu sterben wie Alexander oder dass sein früher Tod gar das Ende Roms bedeuten könnte. Bevor seine Gedanken sich noch weiter verdüstern konnte, betrat die Amme mit dem schlafenden Julius das Zimmer und übergab ihn Gaius wortlos. Neugierig setzt Julia sich aufrechter hin und musterte das kleine Wesen.
„Bei den Göttern, Gaius!", rief sie etwas zu laut aus und Julius wand sich unruhig im Schlaf. Gaius warf ihr einen strafenden Blick zu. Aber sie war zu sehr vom Anblick ihres Neffen hingerissen, als dass sie auf ihren Bruder achten konnte. Vielleicht war es das Schicksal seines Sohnes die ganze Welt in seinen Bann zu ziehen, dachte Gaius und lächelte stolz auf seinen Sohn herab. In diesem Moment war er froh, dass Aurelia ihm noch keine Tochter geschenkt hatte. Denn zweifellos würde sie mit ihrer Schönheit nicht nur einen Vater wie ihn, sondern auch einen Bruder wie Julius brauchen, damit sie vor allen Übeln geschützt war.
Als Gaius aus seinen Tagträumen erwachte, war bereits der Rest seiner Familie im Zimmer versammelt und von dem kleinen Jungen vollkommen verzückt, den jeder von ihnen einen Augenblick halten wollte. Selbst Tryphaina stand etwas Abseits und bedachte seinen Sohn mit einem nachdenklichen Lächeln. In diesem Moment fiel Gaius ihre Anwesenheit besonders auf. In den vergangenen Wochen hatte er sie immer wieder flüchtig bei seinen Gastmählern erblickt und natürlich hatte sie Drusilla die letzte Ehre erwiesen. Aber die ehemalige Königin hatte sich stets im Hintergrund gehalten. Vermutlich war sie zu sehr damit beschäftigt gewesen ihre Delegation von Händlern zu unterstützen. Bis jetzt hatte sie Gaius noch nicht zu einem vertraulichen Gespräch aufgesucht, fast so als wäre sie ihm bewusst aus dem Weg gegangen. Aber er spürte, dass dies sich bald ändern würde. In der Art und Weise wie sie seinen Sohn betrachtete, konnte Gaius erkennen, wie sehr sich Tryphaina nach diesem Moment gesehnt hatte. Aber er war es leid darauf zu warten, dass sie den ersten Schritt unternahm. Vielleicht sah sie sich als ehemalige Königin auch nicht in der Position dazu. Bei diesen Völkern aus dem Osten konnte man nie wissen, von welchen gesellschaftlichen und sozialen Vorstellungen sie geprägt waren, weil diese nun mal nicht vollkommen römisch waren. Falls Aurelia heute Abend bereits am Abendessen teilnehmen konnte, ohne dass es sie zu viel Anstrengung kostete, würde er sie bitten Tryphaina auf ihre subtile Art für ihn anzusprechen. Behutsam nahm er ihr seinen Sohn ab.
Nach einer Weile hörte er Aurelia seinen Namen rufen und erhob sich vorsichtig von seiner Liege, damit er den Kleinen nicht weckte. In diesem Augenblick betrat Aurelia bereits das Wohnzimmer und blickte sich suchend um. Als sich ihre Blicke kreuzten, seufzte sie vor Erleichterung leise auf und ihr Gesicht erstrahlte vor Freude. Den anderen Mitgliedern ihrer Familie schenkte sie keinerlei Beachtung, sondern huschte zu ihm und vergewisserte sich, dass es Julius gut ging. Aus dem Augenwinkel beobachtete Gaius, wie alle Gespräche verstummten und sich alle Aufmerksamkeit auf Aurelia richtete. In diesem Moment war er erleichtert, dass sie sich hastig ihren seidigen Morgenmantel über die transparente Tunika, mit der sie für gewöhnlich schlief, geworfen hatte und sie dadurch wenigstens ein kleines bisschen vor den neugierigen Blicken geschützt war, mit denen sein Onkel, seine Schwager, Sabinus und Vespasian sie bedachten. Ihre Haare fielen ihr offen wie ein goldener Wasserfall über die Schulter, als sie ihm Julius abnahm und dem Kleinen einen Kuss auf die Stirn hauchte. Sofort legte Gaius seinen Arm um sie und konnte wenigstens Vespasian und Sabinus dazu bewegen seine Frau nicht mehr anzustarren, als wäre sie geradewegs vom Olymp zu ihnen herabgestiegen. Still lächelte Gaius in sich herein und gestand sich in Gedanken ein, dass ihre Schönheit ihn ebenfalls jedes Mal aufs Neue überwältigte und er nur zu gut verstand, weshalb sie den anderen Männern wie eine Göttin vorkam. Denn genau das war sie für ihn, seine kleine Göttin. Ganz so als hätte sie seinen Gedanken gelauscht, hob Aurelia den Kopf und schaute ihn fragend an. Grinsend strich er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Solltest du dich nicht ausruhen?", neckte er sie leise und sie verdrehte die Augen - vor der gesamten Familie. Gaius ignorierte das Kichern seiner Schwestern. Mit zuckersüßem Ton antwortete sie: „Hinterlass mir das nächste Mal eine Nachricht, wenn du vor hast mit meinem Sohn das Zimmer zu verlassen, während ich schlafe. Dann mache ich mir auch keine Sorgen, wenn ich aufwache und ihr verschwunden seid"
Zu dem lauter werdenden Kichern mischte sich belustigtes Hüsteln. Auch das ignorierten sie beide gekonnt. Ihr Gesicht verlor langsam an Farbe.
„Marsch ins Bett", befahl er ihr leise und zu seiner Erleichterung verdrehte sie nicht schon wieder die Augen. Bevor sie ihm Julius zurückgeben konnte, tauchte Agrippina neben ihr auf und bettelte sie an ihr das Kind zu geben.
„Nicht ein einziges Mal hat mein Bruder den Kleinen aus den Augen gelassen und wenn er ihn einmal widerwillig einem anderen geben muss, führt er sich auf als würden wir dem Kind Schaden zufügen", tadelte ihn seine Schwester und Aurelia lächelte müde. Vorsichtig bettete sie den Neugeborenen in den Armen ihrer Schwägerin, dann verließ sie schnell das Zimmer. Besorgt blickte Gaius ihr nach und überlegte, ob er ihr nicht besser folgen sollte, um sich zu vergewissern, dass sie sich tatsächlich ausruhte. Aber dann bemerkte er die Menge an Verwandten, die sich um Julius scharten und beschloss seinen Sohn, der wieder wie eine besonders interessant zu lesende Schriftrolle von einem Verwandten zum anderen gereicht wurde, nicht allein zu lassen. Vielleicht hatte Agrippina recht und er war übervorsichtig. Aber bei seiner Familie konnte man nie sicher sein, was als Nächstes geschah und ob man nicht doch von hinten ein Messer in den Rücken gerammt bekam.
Als der Kleine wach wurde und anfing zu quengeln, erschien aus dem Nichts die Amme und nahm Vespasian das Kind wortlos ab. Erleichtert begegnete Vespasian seinem Blick.
„Ich dachte schon, ich sei der Einzige, den er nicht mag", scherzte sein Freund und nun, da das Kind fort war, schwoll die Lautstärke der Gespräche an. Gaius nutze die Gelegenheit und schlich sich unbemerkt aus dem Raum. Als er das Schlafzimmer betrat, wälzte sich Aurelia unruhig im Bett und murmelte leise in ihrer ihm fremden Sprache. Plötzlich drehte sie sich zu ihm und er sah die Tränen, die über ihre Wangen liefen. Gaius konnte sich nicht daran erinnern, dass sie jemals Alpträume gehabt hatte. Sofort war er bei ihr und rief leise ihren Namen. Es dauerte ein paar Herzschläge, bis Aurelia sich aus ihren Traumbildern kämpfen konnte und die Augen aufschlug. Schlaftrunken blinzelte sie ihn an. Plötzlich lagen ihre Arme um seinen Hals und ihr zitternder Körper presste sich an ihn. Beruhigend fuhr er über ihren Rücken und hielt sie schweigend fest. Irgendwann löste sie sich von ihm und wischte sich mit den Händen die Tränen aus dem Gesicht. Besorgt betrachtete er sie, aber sie wich seinem Blick aus und nachdem die Spuren ihrer Tränen verschwunden waren, starrte sie stumpf auf ihre Hände, die kraftlos auf ihrem Schoß lagen.
„Wie geht es dir?", fragte er leise. Endlich hob sie den Kopf und erwiderte seinen Blick.
„Es geht mir gut", antwortete sie automatisch und Gaius legte den Kopf schief. Nach einer Weile fügte sie seufzend hinzu: „Ich weiß es nicht. Die Ereignisse des heutigen Tages haben mich vollkommen überwältigt und ich weiß nicht, was ich fühlen soll. Auf der einen Seite bin ich überglücklich. Unser Sohn ist gesund und kräftig und so hübsch, Gaius. Aber auf der anderen Seite bin ich so unendlich traurig. Es betrübt mich, wie viele Menschen unseren Sohn niemals kennenlernen können. Irgendwie habe ich immer gedacht, dass mein Vater eines Tages meinem Sohn voller Begeisterung beibringen wird, wie man Fußball spielt und meine Mutter den Kleinen mit ihrem Essen verwöhnen wird. An Tagen wie diesen fehlen sie mir besonders. Ich versuche nicht daran zu denken und mich auf all das Gute zu konzentrieren, das mich umgibt. Aber manchmal will es mir nicht so recht gelingen"
„Ich kann dich verstehen", gestand Gaius leise und umfasste behutsam ihr Gesicht mit seinen Händen. Langsam schloss Aurelia die Augen und gerade als sie etwas sagen wollte, klopfte es an der Tür. Sofort schlug Aurelia die Augen auf und im gleichen Augenblick betrat Agrippina mit einem sich heftig windenden Julius das Zimmer. Augenblicklich streckte Aurelia fordernd die Arme nach ihrem Sohn aus und sobald er in ihren Armen lag, beruhigte sich der Kleine und schlief ein.
„Er wollte unbedingt zu euch", erklärte Agrippina unnötiger Weise und zu seiner Freude sah er Aurelia schmunzeln.
An diesem Abend konnte er Aurelia nicht dazu überreden ihr Abendessen gemeinsam mit Julius und ihm in ihrem Bett einzunehmen. Sie murmelte irgendetwas über Krümel und kraulte ihrem Tiger hinter den Ohren, der ihr kaum von der Seite wich. Sie nannte die große Katze Catulus.
„Warum nennst du einen Tiger eigentlich Catulus?", fragte er irritiert und sie legte den Kopf schief.
„Soll ich ihn Rex nennen?", konterte sie spitz und er verbiss sich jeden weiteren Kommentar. Dennoch fand er den Namen nicht wirklich passender für eine Raubkatze dieser Größe. Catulus war definitiv eher ein König und kein kleines Schmusekätzchen. Aber er schien von Julius ebenso begeistert zu sein wie von Aurelia und wenn er nicht bei Aurelia war, passte der Tiger auf seinen kleinen Sohn auf. Gerade als Gaius sie bitten wollte, heute Abend das Gespräch mit Tryphaina zu suchen, fiel sein Blick auf die dunklen Schatten unter ihren Augen und er blieb stumm.
Während des Essens wich er keinen Augenblick von ihrer Seite und versicherte sich immer wieder, dass es sie nicht zu viel Kraft kostete. Irgendwann ließ Aurelia ihn genervt stehen und gesellte sich zu seiner Großmutter und Tryphaina. Innerlich lächelnd konzentrierte er sich auf sein eigenes Gespräch mit Onkel Claudius und Sabinus.
„Worüber hast du dich mit Tryphaina und meiner Großmutter unterhalten?", wollte er wissen, kaum dass sie in die Sicherheit ihrer Gemächer zurückgekehrt waren. Aurelia verdrehte nur die Augen und begann sich die Nadel aus den Haaren zu ziehen. Schon bald floss es ihr in sanften Wellen über die Schulter, doch sie begann zugleich es in einen neuen, weniger strengen Zopf zu flechten. Neugierig beobachtete er sie bei dieser einfachen Arbeit, die sie sonst von ihren Sklavinnen erledigen ließ. Nach einer Weile schaute sie gedankenverloren auf und fing seinen Blick auf.
„Vor allem über Pontos und Thrakien", antwortete sie auf seine ausgesprochene Frage. „Hast du die Herrschaft ihrer Familie über das Klientelkönigreich eigentlich bereits bestätigt oder denkst du darüber nach daraus eine römische Provinz zu machen?"
Mit offenem Mund starrte er sie an, während sie ihren Zopf mit einem einfachen Band fixierte. Fragend legte sie ihren hübschen Kopf schief, sofort rutschte eine Haarsträhne aus ihrem Zopf und fiel ihr in die meerblauen Augen. Wieder einmal hatte sie ihm die Lösung präsentiert, ohne dass er sie erst danach fragen musste. Nachdenklich fummelte er an den Falten seiner Toga herum, gab jedoch ziemlich schnell auf und rief nach seinen Sklaven, die ihn innerhalb weniger Wimpernschläge still aus dem Stoff wickelten. Nur noch mit seiner Tunica bekleidet ließ er sich aufs Bett sinken und starrte gedankenverloren an die Decke. Je mehr er darüber nachdachte, desto sicher wurde er sich, dass Aurelia das Problem schon lange vor ihm erkannt hatte. In den vergangenen Monaten war er so sehr mit der Beschaffung von Getreide, dem Ausrichten von Spielen, dem Verfassen von Gesetzen, dem Beiwohnen des Senats und seinem Privatleben beschäftigt gewesen, dass er keinen Gedanken an die vielen Klientelkönigreiche verschwendet hatte, die zwar ihr Land im Namen Roms regierten, aber nicht wirklich zu seinem Reich gehörten. Die Belange der Provinzen waren ihm wichtiger erschienen. Aber lohnte es sich Thrakien und Pontos zur Provinz zu machen?
„Nein", murmelte er, als Aurelia sich zu ihm legte und sich an ihn schmiegte. „Es macht keinen Sinn sie zu annektieren. Manchmal ist es besser indirekt zu herrschen"
„Dann legitimiere, wen du am geeignetsten für diese Aufgabe hältst", wisperte Aurelia müde und im nächsten Moment wurde ihre Atmung gleichmäßiger. Selbst lag er noch stundenlang wach und dachte über ihre Worte nach.
Am nächsten Morgen saß er in seinem offiziellen Arbeitszimmer und studierte erneut alle Berichte, die er über die politische Lage im Osten von seinen Statthaltern erhalten hatte. Sie waren allesamt unspektakulär. Vermutlich hatte er ihnen deshalb zuvor nicht mehr Beachtung geschenkt.
Ein Klopfen an der Tür ließ ihn aus den Berichten aufblicken. Hesiod kündigte seinen nächsten Gast an. Kurz darauf betrat Antonia Tryphaina sein Arbeitszimmer und setzte sich ganz selbstverständlich ihm gegenüber auf einen der Stühle. Langsam lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und musterte sie mit höflichem Interesse.
„Zunächst möchte ich dir noch einmal ganz offiziell zu Geburt deines erstgeborenen Sohnes in meiner Funktion als Gesandte meiner Söhne gratulieren", erklärte Tryphaina ohne Umschweife und Gaius nahm ihre weiteren Worte der Gratulation mit einem freundlichen Lächeln entgegen.
„Was kann ich für dich tun, Tryphaina?", erkundigte er sich höflich und Tryphaina setzte sich gerader hin. Jede Faser ihres Körpers strahlte pures Selbstvertrauen aus.
„Nun, wenn du mich so danach fragst, gibt es tatsächlich eine Kleinigkeit, um die ich dich gerne zum Wohle Roms bitten möchte", meinte sie freundlich. Aufmerksam lauschte Gaius ihrer leidenschaftlichen, kleinen Rede, in welcher sie ihn davon zu überzeugen versuchte, weshalb er die Herrschaft ihrer Söhne über die Klientelkönigreiche Thrakien, Pontos und Kilikien verlängern und durch eine neue Legitimation sichern sollte. Seine Entscheidung hatte er schon getroffen, bevor sie durch diese Tür gekommen war.
Kaum beendete sie ihre Rede, schob er ihr wortlos eines der Dokumente zu, die er an diesem Morgen persönlich aufgesetzt hatte. Das Wachs war bereits vor Stunden erkaltet. Mit großen Augen überflog sie seine Worte.
„Genügt dieses Dokument oder soll ich noch eine Rede vor dem Senat halten, sobald er wieder zusammenkommt?", erkundigte er sich höflich und verbarg erfolgreich seine Belustigung. Bemüht ruhig schüttelte sie den Kopf und legte das Dokument zurück auf seinen Schreibtisch.
„Das sollte reichen", antwortete sie und ihre Stimme klang seltsam belegt. Immer noch lächelnd beobachtete er, wie Tryphaina sich bedankte, sich erhob und mit ihrer Version seiner Erklärung sein Arbeitszimmer verließ. Manchmal bereitete ihm seine Aufgabe, die er für Rom übernahm, sehr großes Vergnügen. Aber jetzt hatte auch er sich eine kleine Auszeit von dieser alles beherrschenden Stadt verdient.
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