Kapitel 64 ~ Iudicia iusta
29. Januar 38 n. Chr.
Blaue Funken flitzten getrieben vom Licht der untergehenden Sonne durch den Raum und trafen auf Wände, Möbel, Papyrus, Kleidung. Einer dieser Funken stach Gaius ins Auge und ließ ihn aufblicken. Geküsst vom rötlich-goldenen Sonnenlicht stand Aurelia wie eine Statue vor dem großen Fenster seines Arbeitszimmers und starrte gedankenverloren auf die langsam erlahmende Stadt. Ihre Haare fielen ihr in weichen Wellen über die Schulter, ihr beinahe durchsichtiges Kleid schmiegte sich eng an ihren Körper und betonte die leichte Wölbung ihres Bauches. Die Finger ihrer rechten Hand spielten nervös mit ihrem Ehering, eine Angewohnheit, die Gaius immer bei seiner Frau beobachtete, wenn sie nachdachte. Die gleiche unbewusste Geste, die er auch bei seiner Mutter unzählige Male gesehen hatte. Seine Mutter hätte Aurelia sicher wie ihre eigene Tochter geliebt.
Im nächsten Moment legte Gaius den Calamus seines Vaters beiseite, erhob sich, überbrückte die wenigen Schritte, die sie trennte und schloss Aurelia in seine Arme. Doch sie war so tief in ihre Gedanken versunken, dass sie ihn gar nicht wahrzunehmen schien.
„Woran denkst du, meine Schöne?", raunte er ihr ins Ohr und sie zuckte erschrocken zusammen. Danach legte sie automatisch ihre Armen auf die seinen, welche sie an der Taille sanft umschlungen hielten und begann gedankenverloren Muster auf seine Unterarme zu zeichnen.
„An morgen", antwortete sie schlicht und er seufzte tief, darauf wartend, dass sie fortfuhr. Doch sie blieb stumm. Nach einer Weile bohrte er behutsam nach und sie murmelte leise: „Ich mache mir Sorgen um Gemellus. Was ist, wenn sie ihn zum Tode verurteilen?"
Gaius zog sie enger an sich und küsste sanft ihr Haar.
„Sie werden ihn nicht zum Tode verurteilen", meinte er leise und hoffte, ihr würden die Zweifel in seiner Stimme entgehen. „Er ist schuldig, aber er ist immer noch ein Teil unserer Familie. Außerdem habe ich ihm öffentlich verziehen. Sehr viel wahrscheinlicher ist es, dass sie ihn in die Verbannung schicken und falls nicht, wird er mich sicher um Gnade bitten und ich werde seine Strafe in Verbannung ändern"
Aurelia nickte und ihr Körper entspannte sich ein wenig. Schweigend blickten sie über die Stadt und beobachteten den Sonnenuntergang. War Verbannung überhaupt gnädiger als der schnelle Tod durch das Schwert?
„Werden wir ihm helfen, wenn es so weit ist?", fragte sie müde, als hätte sie seine Gedanken gehört. Vielleicht hatte er auch laut gedacht. Vorsichtshalber fragte er noch einmal nach, wobei genau sie Gemellus helfen wollte. Aurelia schnaubte, als wäre das so offensichtlich. Aber vielleicht lag es für sie auch wirklich auf der Hand. Als er sie vor ein paar Tagen gefragt hatte, welches Strafmaß in ihrer Zeit über Macro verhangen worden wäre, hatte sie nur gelacht und gemeint, dass man ihn vermutlich für fünfundzwanzig Jahre ins Gefängnis gesteckt hätte. Zu Beginn hatte Gaius ihre Antwort für einen Scherz gehalten und mit ihr gelacht. Da wurde sie schlagartig ernst und erklärte ihm, dass sowohl Folter als auch Todesstrafe in ihrer Zeit abgeschafft waren – zumindest in ihrem Land und dabei rümpfte sie die Nase, als ob jedes Land, welches an diesen Methoden in ihrer Zeit festhielt, barbarisch und rückständig sei. Vielleicht war es das auch. Vielleicht war es ein Zeichen der Ohnmacht und des Machtmissbrauchs gegenüber den Untertanen eines Staates, wenn dieser Staat das Leben seiner Schützlinge beenden konnte. Aber sie lebten nicht im Jahr 2019 nach Christus – wer auch immer dieser Christus sein sollte. Sie lebten weder in einer Republik noch in einer richtigen Monarchie. Sie lebten in einem Rom, welches politische Stabilität dringender benötigte als alles andere. Solange Gemellus lebte, ging von ihm eine Gefahr aus, die Rom aus dem Gleichgewicht bringen konnte. Wäre Tiberius noch an Gaius' Stelle, wäre Gemellus schon längst zu einem Häufchen Asche verbrannt.
„Der Wortlaut des Gesetzes sieht bei einer Verbannung vor, dass dem Verbannten in einem gewissen Umkreis um Rom der Zugang zu Wasser und Feuer versagt wird, mein Schatz", erklärte Gaius bedrückt. „Jeder, der Gemellus helfen wird, begeht damit eine Straftat"
Wieder schnaubte Aurelia verächtlich. Plötzlich drehte sie sich um die eigene Achse und nahm sein Gesicht in ihre Hände. In ihre Augen trat ein neuer Glanz.
„Dann geben wir ihm eben weder Feuer noch Wasser", murmelte sie eindringlich und ein verschmitztes Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus. In diesem Moment wurde sich Gaius erneut bewusst, dass diese wunderschöne Frau in seinen Armen die Antwort auf all seine Fragen und Gebete war. Auch wenn ganz Rom hinter ihren Rücken über sie beide tuschelte und tratschte, sollten sie doch reden. In seinem ganzen Leben hatte ihn noch keine Frau vor ihr auf diese Weise berührt und keine andere würde es jemals können. Es gab nur sie. Sie waren zwei Hälften eines Ganzen – wie die Kugelmenschen bei Platon und Aristophanes. Wie konnte nur irgendjemand glauben, er würde jemals das Interesse an ihr verlieren können?
Automatisch spiegelten seine Züge verschwörerisch ihre Miene. Leicht neigte er seinen Kopf und ihr warmer Atem strich ihm verführerisch über das Gesicht. Sanft zeichnete er mit den Fingerspitzen die Konturen ihres Halses nach und er registrierte zufrieden, wie ihr Puls sich unter seinen Fingern augenblicklich beschleunigte, ihr Körper sich sofort an ihn schmiegte und ihre Augen dunkel vor Verlangen wurden. Sie gehörte ihm ebenso wie er ihr gehörte. Unwiderruflich ewiglich.
In dieser Nacht schlief er keine einzige Sekunde. Normalerweise hätte er sich nach einer Weile vorsichtig von Aurelia gelöst, sich aus dem Bett geschlichen und sich in seiner Arbeit oder einer Lektüre verkrochen, bis sie wach wurde und ihn ermahnte endlich wieder ins Bett zu kommen oder sein Geist so müde geworden war, dass er Schlaf finden konnte. Aber in dieser Nacht hatte Gaius Angst vollkommen durchzudrehen, wenn er ihren warmen, weichen Körper nicht mehr an seinem spürte und ihr göttlicher Duft ihm nicht mehr in die Nase stieg. Ihre gleichmäßigen Atemzüge gaben seinem Herzen den Rhythmus vor und hinderten es daran panisch auszuschlagen wie ein verängstigtes Pferd. Aurora pirschte sich langsam und unaufhaltsam an sie heran. Wenn er doch nur wüsste, was vor Einbruch der nächsten Nacht geschehen würde. Immer wieder zeigte sein Geist ihm alle Ereignisse, Entscheidungen und Konsequenzen für seine Familie und ihn auf. Wenn er doch nur wüsste, welches Szenario eintreten würde. Dann könnte er planen und die Kontrolle über die Situation erlangen. Doch er hatte die Kontrolle abgeben, als er Gemellus beinahe in seinem Begehren nach Sicherheit in den Selbstmord getrieben hatte. Denn Gaius wusste, dass sein eigenes Bedürfnis nach Frieden und Sicherheit immer noch stärker war als seine Vernunft. Seine Angst benebelte seinen Geist, spielte mit ihm wie eine Katze mit einer Maus und trieb ihn erbarmungslos vor sich her. Er war nicht stark genug der Versuchung zu widerstehen. Zumindest nicht allein.
Statt sich eine Ablenkung zu suchen hielt er Aurelia eng umschlungen und starrte blind zur Decke hinauf, während sich seine Gedanken im Kreis drehten.
„Du hast das Richtige getan", wisperte eine verschlafene Stimme leise in sein Ohr. Ertappte zuckte er zusammen und ruckartig drehte er seinen Kopf zu ihr. Schlaftrunken stützte sie sich auf ihrem Ellbogen ab, rieb sich über die Augen und erwiderte ernst seinen Blick. Nur das bleiche Licht des Mondes schimmerte sacht auf ihrem Gesicht. Schuld durchzuckte ihn wie ein Blitz. Sie sollte schlafen, ihr Körper brauchte ihre ganze Kraft.
„Schlaf weiter, Liebste", drängte er sie augenblicklich. Als Nächstes versicherte er ihr, dass es ihm gut ginge. Doch Aurelia schnaubte nur verächtlich und verdrehte die Augen. Wie konnte er es ihr verdenken, wenn er sich selbst nicht glaubte?
„Ich glaube wirklich, dass du richtig entschieden hast – für dich, für deine Familie, für uns, für Rom", meinte sie ernst und ihr Blick wurde so intensiv, dass Gaius ihm nicht mehr standhalten konnte und beschämt wieder die Decke anstarrte. Warum hatte eigentlich keiner seiner Vorgänger dort ein Fresko anbringen lassen?
„Wie kannst du dir da nur so sicher sein?", fragte er leise in die Stille hinein und schloss die Augen. Ein Rascheln verriet ihm, dass Aurelia ihr Gewicht auf der Matratze verlagert hatte und im nächsten Moment spürte er ihre kleine, kühle Hand an seiner Wange.
„Ich weiß es einfach", murmelte Aurelias Stimme emotionslos und viel näher als er erwartet hatte. Überrascht schlug er seine Augen auf und versank in den ihren. Im Mondlicht wirkten sie wie zwei silbrig schimmernde Ozeane. Automatisch vergrub er eine Hand in ihren Haaren und zog sie näher an sich heran. Sein aufgewühltes Herz lechzte danach ihren Worten Glauben zu schenken, doch sein Verstand ließ sich nicht so einfach überzeugen. Dafür hatte er die letzten Stunden in Gedanken zu oft auf ihren leblosen Körper mit glanzlosen Augen als Konsequenz seiner eigenen Unfähigkeit und Machtlosigkeit geblickt. Er wollte, dass sie weitersprach und ihm erklärte, was sie in ihrer eigenen Zeit über ihn in Erfahrung gebracht hatte. Doch sie schwieg.
„Sag mir, was du über mich gelesen hast", flehte er sie an und ihr Gesicht spiegelte ihren inneren Kampf wider. Eine Träne entrann ihrem Auge, huschte über ihre Wange und landete lautlos auf das Kissen neben seinem Kopf.
„Nichts habe ich über dich gelesen, Gaius", erklärte sie leidenschaftlich. „Denn du bist anders. Deine Leben verläuft anders. Ich weiß nicht warum, aber dieser Mensch, von dem ich gelesen habe, das bist nicht du. Caligula hat Entscheidungen getroffen, die ihn letztendlich zerstört haben. In jeder dieser Situationen hast du dich anders entschieden als er. Du bist Gaius, mein Gaius. Es gibt keinen Caligula und ich schwöre bei allen Göttern, ich werde niemals zulassen, dass du ihm ähnlich wirst"
Dann brach sie über ihm zusammen, krallte sich an ihm fest, schluchzte und weinte, während er sie festhielt und das Gesicht in ihren Haaren verbarg. Erst nach einer Weile bemerkte er, dass er lautlos in ihr Haar weinte. Langsam wurde Aurelia ruhiger und ihr Körper entspannte sich. Doch Gaius klammerte sich an ihr fest und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Er wusste, weshalb Aurelia andere, düstere Geschichten über ihn kannte und dafür konnte es nur einen Grund geben: In dieser anderen Zeit oder anderen Welt oder Dimension oder wie man es auch immer nennen konnte, gab es sie nicht. Ohne sie wäre der Anschlag vermutlich erfolgreich gewesen und was dann? Hätte ihn der gleiche unwürdige Tod ereilt wie seinen Vater oder hätte er den Anschlag überlebt?
Irgendwie spendete ihm dieses Wissen Trost. Gaius schloss die Augen und seine Gedanken entspannten sich etwas. Aufmerksam lauschte er Aurelias regelmäßigen Atemzügen und er fiel in einen seltsamen Dämmerzustand zwischen Wachen und Schlafen.
„Du siehst furchtbar aus", begrüßte Agrippina Gaius kalt und zupfte nervös an ihren Kleidern. Aurelia verdrehte nur die Augen und lenkte das Gespräch schnell auf ein unverfänglicheres Thema. Doch Gaius hörte den beiden Frauen nur mit einem Ohr zu, während langsam der Rest seiner Familie im Atrium eintraf. Gefolgt von Julia kam Drusilla gähnend die Treppe hinunter, trotz der vielen Schminke waren ihre Augenringe fast so tief wie die seinen und Gaius fragte sich, wo sie sich die vergangene Nacht herumgetrieben hatte. Irgendwann würde er sie zu ihrer eigenen Sicherheit einsperren müssen, bevor sie sich auf einem ihrer nächtlichen Streifzüge ernsthaft verletzte. Wann wurde sie nur endlich wie seine anderen beiden Schwestern ein bisschen erwachsener und ernsthafter? Doch gerade als er sie darauf ansprechen wollte, erschien Gemellus am oberen Absatz der Treppe und all die halbherzig geführten Gespräche verstummten. Höflich begrüße Gemellus die Anwesenden und gesellte sich schnell zu ihnen. Nur wenige Schritte hinter ihm löste sich eine Frau aus dem Schatten. Im ersten Moment hatte Gaius sie für eine gewöhnliche Sklavin gehalten, doch dann erhaschte er einen Blick auf das attraktive Gesicht und erkannte seine Trägerin.
„Ich wollte ihnen die Gelegenheit geben miteinander ins Reine zu kommen", raunte Aurelia ihm leise zu und legte ihm beruhigend eine Hand auf seinen Arm unter dem Stoff seiner Toga, sodass diese Geste verborgen blieb. Schnell huschte Gaius' Blick über die Gesichter der Anwesenden, doch allen übrigen waren seine wahren Gefühle verborgen geblieben. Erleichterung durchflutete ihn und er nickte Aurelia dankbar zu. Aber sie hatte ihre Hand schon wieder von seinem Arm genommen und war in ein Gespräch mit seinen Schwestern vertieft. Gelassen schlenderte Gaius zu Gemellus und erkundigte sich nach dessen Befinden. Gemellus lachte trocken.
„Besser als ich es erwartet habe", antwortete er leise und musterte die kleine Versammlung ihrer Familie und verschiedener Senatoren, die in Grüppchen zusammenstanden und sich leise unterhielten. Eine Weile schwiegen sie.
„Irgendwie ist es seltsam", fuhr Gemellus fort. „Meine Mutter hat mir immer gesagt, dass ich mich vor dir in Acht nehmen muss, weil du mich sonst töten wirst. Aber wenn ich heute sterben sollte, dann trage ich allein Schuld an meinem Tod. Es waren meine Entscheidungen, die mich hierhergebracht haben und was die Richter auch entscheiden werden, beruhigt es mich zu wissen, dass das Urteil nicht von dir angeordnet worden ist"
Aufmerksam hörte Gaius ihm zu und war verblüfft keine Anzeichen von Groll oder Bitterkeit in den Worten seines Vetters zu finden.
„Ich hoffe sehr, dass es dazu nicht kommen wird", erwiderte Gaius und klopfte Gemellus freundschaftlich auf die Schulter. Leise bedankte Gemellus sich und Gaius zog unmerklich die Augenbraue hoch.
„Ich danke dir, dass du letzte Nacht Persia zu mir geschickt hast", fuhr Gemellus mit gedämpfter Stimme fort. Gaius spürte, wie sich ein wissendes Lächeln auf seinen Lippen ausbreitete.
„Das war Aurelia, nicht ich", gab Gaius zurück. „Wenn du jemandem danken willst, dann ihr. Bis gerade eben habe ich davon nichts gewusst"
Gemellus' Blick wanderte automatisch zu Aurelia, die sich immer noch gedämpft mit Gaius' Schwestern unterhielt, und musterte sie nachdenklich.
„Sie ist wirklich eine bemerkenswerte Frau", murmelte Gemellus mehr zu sich selbst. Dann vergewisserte er sich noch einmal rasch, ob jemand ihr Gespräch belauschte und fuhr etwas leiser fort: „Jeder hat sie unterschätzt. Als du plötzlich verschwunden bist und wenige Tage später wieder mit ihr als deiner Verlobten aufgetaucht bist, haben alle gedacht, es würde wie üblich nicht lange dauern, bis du ihrer überdrüssig wirst und dich einer anderen zuwendest. Aber so wird es nicht kommen, nicht wahr? Sie ist alles, was du brauchst"
Bevor Gaius antworten konnte, trat Suetonius zu ihnen und salutierte. Dann erklärte er laut genug, sodass alle Anwesenden ihn hören konnten, dass nun alles bereit zum Aufbrechen sei. Plötzlich hatte er ein flaues Gefühl im Magen und im nächsten Moment erschien Aurelia gefolgt von Clemens an seiner Seite.
„Seid ihr bereit?", flüsterte sie und legte ihre Hand unauffällig auf seinen Arm. Schlagartig verflog seine Übelkeit. Gemellus nickte ihnen zu, dann steuerte er selbstsicher auf den Ausgang zu.
„Lass uns gehen", murmelte Gaius und zog Aurelia mit sich hinaus auf die in grelles Sonnenlicht getauchten Straßen Roms.
Der Weg bis zur Basilika und der restliche Verlauf des Prozesses rauschten an Gaius vorbei wie im Traum. Nur bruchstückhaft schnappte er Fetzen des Geschehens auf, während Aurelia keinen Augenblick von seiner Seite wich. Erst als die Richter Gemellus erneut fragten, ob er tatsächlich auf einen eigenen Prozess verzichten wollte, erwachte Gaius aus seiner Trance. Gefasst erhob sich sein Vetter und erklärte: „Wenn Ihr mich in einem eigenen Prozess anklagen möchtet, dann werde ich mich Eurem Willen beugen, ehrenwerte Richter. Angesichts der Tatsache, dass dieser Mann der einzige aussagekräftige Zeuge gegen mich ist, möchte ich Euch bitten, dies nicht zu tun. Dieser Mann hat meine Familie zu lange bedroht. Wenn mein Opfer meine Familie und diesen Staat beschützt, dann verzichte ich gern auf einen eigenen Prozess. Schuldig bin ich so oder so"
Der oberste Richter nickte, dann wandte er sich zu seinen Kollegen. Gemeinsam kehrten sie den Anwesenden den Rücken und hielten leise Rat. Vor Nervosität begann Aurelias Bein neben ihm zu vibrieren und am liebsten hätte er seine Hand beruhigend auf ihr Knie gelegt. Aber mit dieser kleinen Geste hätte er allen Anwesenden die Anspannung verraten, welche seine Frau und ihn beinahe den Verstand raubte.
Nach einer Ewigkeit nahmen die Richter ihre ursprünglichen Positionen ein. Macro lehnte sich entspannt auf der Anklagebank zurück und zwinkerte Aurelia verschwörerisch zu. Doch sie hatte nur Augen für Gemellus, der ernst und kerzengrade neben dem ehemaligen Prätorianerpräfekten saß. Zum ersten Mal in seinem Leben verriet das Gesicht des jungen Mannes keine einzige Gefühlsregung. Sein Gesicht war eine undurchdringliche Maske und er machte sich nicht einmal die Mühe, für die Zuschauer ein Gefühl zu schauspielern. Gemellus war leer und bereit für alles, was die Richter über ihn verhängen würden.
Der oberste Richter erhob sich zur Verkündung des Urteils. Seine Kollegen taten es ihm gleich. Das Getuschel der Menschen in der vollgestopften Basilika verstummte. Leise räusperte sich der oberste Richter, dann verkündete er mit lauter Stimme: „Quintus Naevius Sutorius Macro, Ihr wurdet von diesem Gericht des Hochverrates für schuldig befunden. Hiermit entziehen wir Euch Eure Bürgerrechte und verurteilen Euch zum Tod durch Strangulieren. Euer Leichnam soll auf der Gemonischen Treppe zur Schau gestellt werden, sobald das Urteil vollstreckt worden ist. Ihr habt das Recht in Berufung vor die Volksversammlung zu gehen"
Macro lachte belustigt auf, während Mitglieder der cohortes urbanae, vigiles, sich aus dem Schatten lösten und zu ihm traten. Prustend versicherte Macro, dieses Urteil anzuerkennen. Sofort entspannte sich Gaius ein wenig, die Männer unterstanden seinem Stadtpräfekten, Quintus Sanquinius Maximus, und sie würden dem Befehl eines anderen niemals Folge leisten – außer der Befehl käme direkt von Gaius. Als der oberste Richter seine Aufmerksamkeit auf Gemellus richtete, ebbte Gaius' Welle der Erleichterung schlagartig ab.
„Tiberius Gemellus, auch Ihr seid in den Augen dieses Gerichts des Hochverrates schuldig", gab der oberste Richter bekannt und Gaius griff nach der Hand seiner Frau. Gequält schloss er die Augen, als der oberste Richter fortfuhr: „Zur Strafe entziehen wir Euch Eure Bürgerrechte und in einem Umkreis von 400 Meilen um unsere Stadt soll Euch der Zugang zu Wasser und Feuer versagt sein. Erkennt Ihr dieses Urteil an oder werdet Ihr vor der Volksversammlung in Berufung gehen?"
Mit offenem Mund starrte Gemellus die Richter an. Nach einem Wimpernschlag fing er sich und erklärte gelassen, er erkenne das Urteil an. Der oberste Richter nickte und erklärte, der Bann beginne am nächsten Tag bei Sonnenaufgang. Die vigiles ergriffen den lachenden Macro und zogen ihn mit sich zum Carcer, in dem das Urteil unverzüglich verstreckt werden sollte. Die Menge folgte ihnen und riefen Macro Beleidigungen entgegen. Suetonius erschien neben Gemellus und brachte ihn unbemerkt durch den Seitenausgang nach draußen. Dort wartete bereits eine Sänfte auf sie, die sie auf direktem Weg zum Palast brachten. Plötzlich tauchte Onkel Claudius neben Aurelia auf und riss Gaius aus seinen Gedanken.
„Kommt", forderte sein Onkel sie beide auf. „Wir müssen bei der Vollstreckung des Urteils vor Ort sein"
Sofort wich aus Aurelias Gesicht sämtliche Farbe. Rasch stand Gaius auf und zog sie mit sich. Wie gern würde er ihr versichern, dass sie wie so viele andere Frauen einfach nach Hause gehen konnte. Aber er brauchte sie. Verängstigt klammerte sie sich an ihn und schien gar nicht wahrzunehmen, wie Agrippina ihre andere Hand nahm und Clemens mit ihren Vettern Vespasian und Sabinus zu ihnen trat. Still und blass folgte sie Claudius.
Amüsiert stand der gefesselte und von Wachen umringte Macro vor der geöffneten Falltür im Carcer und erwartete ihre Ankunft. Sein Blick wanderte über die Versammelten. Von Ennia fehlte jede Spur.
„Wie es scheint, ist die Zeit für letzte Worte nun gekommen", meinte Macro ruhig und wandte sich an Agrippina.
„Pass gut auf dich auf. Du weißt ja, unsere Seelen sind gleich", riet er ihr. „Sei klüger als ich und überlebe"
Eine ganze Weile überschüttete er die übrigen mit Spott und verächtlichen Ratschlägen, die keiner von ihnen auch nur ernsthaft in Betracht zog. Als sein Blick an Aurelia hängen blieb, zogen sich Gaius' Innereien krampfhaft zusammen.
„Ich habe Euch unterschätzt", gestand Macro Aurelia leise, deren Gesicht seltsam ausdruckslos wurde. „Das war der Fehler, der mich zu Fall gebracht hat. Ennia hat von Anfang gespürt, dass Ihr eine Bedrohung für meine Pläne sein werdet. Aber für mich wart Ihr nichts anderes als eines von vielen hübschen Gesichtern, welches gerade die flatterhafte Aufmerksamkeit meines Princeps auf sich gezogen hatte. Erst jetzt beginne ich zu begreifen, wer Ihr wirklich seid"
Kurz schenkte Macro ihr ein bewunderndes Lächeln, dann wandte er sich mit folgenden Worten an Gaius: „Ich bin weder der Erste noch werde ich der Letzte sein, der dich versucht zu ersetzen. Sei jederzeit auf der Hut. Du wirst niemals jemandem trauen können"
Macro nickte würdevoll in die Runde, dann sprang er durch die Lucke und verschwand aus ihrem Blickfeld. Besorgt richtete Gaius seinen Blick auf Aurelia. Zitternd stand sie neben ihm und starrte auf das Loch im Boden, aus dem Macros scherzende Stimme zu ihnen hinauf drang.
„Sieh nicht hin", wisperte Gaius in ihr Ohr, als er sie an sich zog. Wie eine Ertrinkende klammerte sie sich an ihn, vergrub das Gesicht an seiner Brust und automatisch legte er schützend seine Hände auf ihre Ohren. Beruhigend legte er sein Kinn auf ihrem Kopf ab und warf den anderen Anwesenden düstere Blicke zu. Niemand achtete auf sie. Jeder von ihnen schien sich in diesem Augenblick in seine eigene kleine Welt zurückzuziehen. Als eine Stimme aus dem Boden die Vollstreckung des Urteils verkündete, lehnten sich Gaius und Claudius kaum merklich vor und spähte flüchtig in das spärlich beleuchtete Licht. Als sein Blick auf Macros weit aufgerissene Augen fiel, kam Gaius nur ein einziger Gedanke: Endlich war dieser Spuk vorbei. Rasch gab er Aurelias Ohren frei, ergriff ihre Hand und zog sie mit sich aus dem dunklen und feuchten Carcer zurück ins warme Licht der Sonne, die für diese Jahreszeit ungewohnt kräftig über Rom strahlte. Vielleicht wirkte sie auch nur für ihn so hell und heiß, nachdem er diesen grässlichen Ort verlassen hatte.
Erst in ihren Gemächern fand sie die Sprache wieder. Ab und zu meinte Gaius den Jubel des Volkes zu hören und schloss die Augen.
„Immerhin erhält Gemellus die Gelegenheit sich zu verabschieden", meinte Aurelia und strich sich eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Ist es wirklich vorbei?", fragte sie und starrte mit leerem Blick aus dem Fenster. Im ersten Moment wollte Gaius ihr widersprechen. Gemellus würde immer eine Bedrohung darstellen, solange er lebte. Doch gerade als er den Mund öffnen wollte, erinnerte er sich an ihre Verzweiflung im Carcer und schluckte die finstersten Gedanken hinunter. Langsam trat er zu ihr und legte seine Hand auf die kleine Wölbung ihres Bauches.
„Es ist vorbei", versicherte er ihr und verlor sich in ihren meerblauen Augen. „Wir sind in Sicherheit"
In ihren Augen las er, was er dachte. Sie würden niemals in Sicherheit sein.
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