Kapitel 56 ~ Domitius Ahenorbarbus
In dem Moment, als er ihre Hand nahm und sich ganz von dem verängstigten Jungen abwandte, überkam Aurelia ein ungutes Gefühl. So konnten sie Gemellus nicht zurücklassen. Entschlossen blieb sie stehen und hielt Gaius sanft zurück. Sie warf ihrem Mann einen kurzen Blick zu, mit dem sie sich vergewisserte, dass er sie gewähren ließ. Federleicht fuhr sie ihm mit den Fingerspitzen beruhigend über den Arm, dann drehte sie sich wieder zu Gemellus um und trat mit ernster Miene auf ihn zu. Unsicher blickte Gemellus zu ihr auf. Langsam und behutsam wie mit einem verletzten Tier sank sie auf seine Augenhöhe herab.
„Macro hat dich benutzt, Gemellus", erklärte sie mit ruhiger Stimme dem noch immer zitternden Jungen. „Sein Plan war es immer der Erste im Staat zu werden. Von Anfang an hatte er vor erst uns und danach dich zu beseitigen, sobald du seinem Wunsch Agrippina zu heiraten aus Dankbarkeit nachgegeben hättest. Du bist noch sehr jung, Gemellus. Lass nicht zu, dass er dich mit sich in den Abgrund stürzt!"
Berechnend bohrten sich Gemellus verquollene Augen in die ihren. Als er nach einer Weile nachdenklich den Blick zu Gaius wandern ließ, wirkte er vollkommen verändert. Gemellus erschien ihr ruhiger, weniger innerlich zerrissen und fast so, als könnte er zum ersten Mal die Last sehen, die Gaius' Schultern seit über neun Monaten trugen. Aber das Wichtigste war, dass er ihnen endlich glaubte.
„Es gibt vieles, worüber ich noch nachdenken muss", sagte Gemellus mit heiserer Stimme. „Aber von nun an werde ich mich auf die wirklich wichtigen Dinge konzentrieren und mich nicht länger in diesem Strudel aus Dunkelheit verkriechen"
Verständnisvoll nickte sie ihm zu, erhob sich elegant und fixierte einen nach dem anderen die anwesenden Prätorianer.
„Wenn auch nur ein Wort von dem, was sich heute hier zugetragen hat, diesen Raum verlässt", erklärte sie gelassen und blickte den Männern tief in die Augen. „Werde ich dafür sorgen, dass es das letzte Wort war, dass jemals über eure Lippen gekommen ist. Habt ihr mich verstanden?"
Die Männer salutierten hastig vor ihr und bekundeten somit stumm ihr Verständnis. Zum Dank nickte sie ihnen ernst zu, dann streckte sie die Hand nach ihrem Gaius aus. Wortlos schoben sich seine Finger zwischen ihre und gemeinsam schritten sie aus der Zelle. Kaum erreichten sie das helle Atrium ihres Palastes, fiel endlich alle Angst von ihr ab und machte einem neuen Gefühl Platz: Erschöpfung. Mühsam versuchte sie ihre aufwallende Müdigkeit unter Kontrolle zu bringen und konzentrierte sich ganz darauf einen Schritt vor den anderen zu setzen. Schweigend durchquerten sie die restlichen Gänge und gelangten endlich an den Ort, an dem sie sie selbst sein konnten. Mit dem vertrauten Klicken rastete die schwere Holztür hinter ihnen ins Schloss. Gaius zog sie sofort in seine Arme und vergrub das Gesicht in ihren Haaren, während Aurelia müde den Kopf gegen seine Brust lehnte, die Augen schloss und seinen vertrauten Geruch tief einatmete.
„Es tut mir leid", flüsterte er in ihr Ohr. Träge schlug Aurelia die Augen auf, legte den Kopf in den Nacken und erwiderte seinen Blick. Unter seinen Augen hatten sich dunkle Schatten gebildet.
„Kannst du mir bitte etwas versprechen?", fragte sie leise und er hob fragend die Augenbraue hoch, nickte jedoch sofort.
„Wenn du das nächste Mal vor einer so wichtigen Entscheidung stehst, rede bitte mit mir darüber und entscheide nicht einfach irgendetwas", bat sie ihn ernst. Zaghaft strich er ihr eine Strähne aus dem Gesicht und versicherte ihr in Zukunft ihren Rat einzuholen. Erleichtert kuschelte sie sich wieder an ihn. Nach einer Weile raunte er ihr ein kleines Danke zu. Fragend blickte sie ihn an.
„Dafür, dass du mich vom Abgrund gezogen hast", erklärte er mit einem feinen Lächeln und lehnte seine Stirn sanft gegen ihre.
„Gaius", sagte sie zärtlich. „Ich liebe dich von ganzem Herzen und wenn es sein muss, würde ich dich selbst aus dem Tartarus schleifen"
Sein leises Lachen vibrierte in ihrem Körper nach.
„Ich hoffe, dass es dazu niemals kommen wird", erwiderte er und das feine Lächeln verzog sich zu seinem typischen, schiefen Grinsen. Doch die dunklen Schatten unter seinen Augen konnte er damit nicht verbergen. Besorgt musterte sie sein vertrautes Gesicht und nahm es behutsam in die Hände.
„Du arbeitest zu viel", stellte sie fest und runzelte beunruhigt die Stirn. Gaius verdrehte die Augen und erklärte lässig, dass Politik nicht an die Tür klopfe und frage, ob ihr Erscheinen nun gelegen sei oder ob sie zu einem günstigeren Zeitpunkt wiederkommen sollte. Obwohl sie ernst bleiben wollte, konnte sie ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Lachend hob er sie hoch und wirbelte sie trotz ihres halbherzigen Protests herum.
„Heute habe ich frei", erklärte er feierlich und setzte sie vorsichtig wieder auf ihre Füße.
„Dann solltest du deine freie Zeit nutzen und dich ausruhen", entgegnete sie, ergriff noch etwas schwindlig seine Hand und zog ihn mit sich ins Schlafzimmer. Ohne Widerrede ließ er sich auf das Bett fallen und blinzelte sie träge an.
„Erzählst du mir eine Geschichte aus der Zukunft?", erkundigte er sich wie ein kleiner Junge und Aurelia lachte zum ersten Mal an diesem Tag. Zugleich setze sie sich neben ihn und überlegte, während er seinen Kopf auf ihrem Schoß bettete. Gedankenverloren fuhr sie ihm mit den Fingern durch das volle, blonde Haar.
„Worüber möchtest du denn etwas hören?", fragte sie zurück und sofort antwortete er: „Britannia - Was weißt du über diese mysteriöse Insel?"
Aurelia lachte leise, wurde dann jedoch schlagartig ernst und wünschte sich sie hätte im Englischunterricht besser aufgepasst. Aber schon damals hatte sie sich mehr für die Geschichte des Landes interessiert als für irgendwelche Einwohnerzahlen und Nationalgerichte.
„Ich war noch nie dort, aber die Landschaft ist wunderschön", fing sie an und Gaius saugte jedes ihrer Worte begierig ein. Plötzlich kam ihr eine Idee.
„In ungefähr 1500 Jahren wird es auf der Insel zwei Königreiche geben, die jeweils von einer Königin regiert werden. Im Norden herrscht Mary, im Süden Elizabeth"
„Was für seltsame Namen", warf Gaius ein und Aurelia verdrehte amüsiert die Augen. Gespielt genervt fragte sie ihn, ob er die Geschichte überhaupt hören wollte. Betreten versprach Gaius sie nicht weiter zu unterbrechen und schloss die Augen.
„Sie sind verwandt, Cousinen sogar. Doch man verlangt von ihnen, dass sie sich gegenseitig um die Herrschaft über ganz Britannien bekämpfen. Eines Tages muss Mary aus ihrem Land fliehen und sucht bei Elizabeth Schutz. Diese kann in Mary jedoch nur eines sehen: eine Bedrohung für ihre eigene Herrschaft. So sperrt sie diese ein. 18 Jahren später wird Mary wegen Hochverrats hingerichtet, während Elizabeth in die Geschichte eingeht als eine der größten Königinnen, die es je gegeben haben wird. Unter ihrer Herrschaft erblühen Kunst, Literatur und Theater. Ein Makel haftet ihrem Bild jedoch auf ewig an: Marys Hinrichtung"
Nachdenklich verstummte sie und blickte hinaus auf die wunderschöne Gartenanlage ihres Palastes.
„Glaubst du, dass Geschichte sich immer wieder wiederholt?", fragte sie, doch erhielt keine Antwort. Überrascht wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder Gaius zu, dessen Atmung gleichmäßig geworden war. Behutsam hob sie seinen Kopf an und legte sich neben ihn. Sofort murrte er im Schlaf, zog sie an sich und vergrub das Gesicht an ihrer Halsbeuge. Obwohl seine Haare sie kitzelten, hielt Aurelia still und hoffte, er würde weiterschlafen. Kurz darauf wurde sein Atem wieder gleichmäßiger. Vorsichtig wischte sie sich seine Haare aus dem Gesicht und hauchte ihm einen leichten Kuss auf den Scheitel. Mit ihm fühlte sich alles so richtig an.
„Ich verspreche dir, dass sich deine Geschichte nicht wiederholt", wisperte sie, dann schlang sie lächelnd ihre Arme um seinen Körper, schloss die Augen und lauschte seinem ruhigen Atem bis auch sie in einen tiefen, erholsamen Schlaf fiel.
Als jemand zaghaft, aber vehement an ihrer Schulter rüttelte, wurde Aurelia widerwillig aus dem Schlaf gerissen. Verwirrt blinzelte sie in Naras betretenes Gesicht. An ihrem Hals kitzelten Gaius' weiche Haare und vertrieben ihre Müdigkeit. Am Rande bemerkte Aurelia, dass es mittlerweile heftig zu regnen begonnen hatte. Aus der Ferne grollte leise der Donner. Ein Gewitter war im Anmarsch.
Fragend musterte sie Nara, die lautlos an die Schwelle gehuscht war und ihr stumm zu verstehen gab ihr zu folgen. Behutsam löste sich Aurelia von Gaius, der ihr Kissen umschlang und weiterschlief. Lächelnd schüttelte Aurelia den Kopf und folgte Nara leise aus dem Zimmer.
„Die Herrin Agrippina schickt mich euch zu holen", hauchte Nara. Überrascht blieb Aurelia stehen.
„Das Kind kommt", erklärte Nara leise und mit einem Schlag war Aurelia hellwach.
„Bring mich sofort zu ihr!", bat sie und machte sich schleunigst auf den Weg zu ihrer Freundin.
Um Agrippina hatten sich bereits eine Menge Sklavinnen versammelt, die hektisch im Zimmer herumliefen und alle möglichen Sachen zusammentrugen, während Agrippina auf einem seltsamen Stuhl saß und Atemübungen machte. Sobald sie Aurelia erblickte, leuchteten ihre Augen erleichtert auf. Sofort eilte Aurelia zu ihr und ergriff die nach ihr ausgestreckte Hand ihrer Freundin. Ängstlich klammerte sich Agrippina an ihr fest und sofort fragte Aurelia, was los sei.
„Das Kind liegt falsch", gab Agrippina gepresst hervor und Aurelia schluckte. „Bitte bleib bei mir. Meine Schwestern werden nicht die Kraft haben, das durchzustehen"
Aurelia drückte sanft Agrippinas Hand und stellte sich neben die Gebärende, um der Hebamme den nötigen Platz zu machen.
Bald schon klangen Agrippinas Schreie durch den Raum und Aurelia wünschte sich nichts mehr, als wieder in ihrem Bett sicher und warm in Gaius' Armen zu liegen. Doch Agrippina brauchte sie und so schob sie alle Gedanken beiseite und konzentrierte sich ganz darauf ihrer Schwägerin beizustehen.
Stunden später fing die Hebamme das schreiende Kind auf, welches im gleichen Moment vom ersten Licht der aufgehenden Sonne berührt wurde. Sofort wollte Agrippina wissen, welches Geschlecht ihr Kind hatte.
„Es ist ein Junge, Herrin", antwortete die Sklavin lächelnd und reichte den zappelnden Jungen an eine Jüngere weiter, die es sofort zu waschen und wickeln begann. Agrippina lehnte sich erleichtert auf ihrem Stuhl zurück. Leise gratulierte Aurelia ihrer Freundin und trat zurück. Kurz darauf hielt Agrippina ihren winzigen Sohn im Arm und sog begierig seinen Anblick in sich auf. Leise murmelte sie ihm irgendwelche Worte ins Ohr, die Aurelia nicht verstand. Plötzlich sah Agrippina mit verzücktem Gesichtsausdruck auf und ihre Augen bohrten sich in Aurelias.
„Möchtest du ihn mal halten?", fragte sie fröhlich und Aurelia nickte zaghaft, trat zu den beiden und nahm etwas ungeschickt, aber vorsichtig Agrippinas Sohn auf den Arm. Der Kleine rekelte sich wohlig und schmiegte sich lächelnd an sie. Aurelia war schon immer der Umgang mit kleinen Kindern schwergefallen. Sie selbst hatte nur einen älteren Bruder und als andere Mädchen in ihrem Alter über ein Baby vollkommen aus dem Häuschen waren, hatte Aurelia einfach nur danebengestanden und Mitleid mit dem Kind gehabt, welches ohne zu fragen geknuddelt, gekniffen und für dumm verkauft wurde. Still betrachtete sie das kleine, runde Gesicht. Alles an ihm war einfach nur winzig.
„Du hast noch nicht oft ein Neugeborenes gehalten, oder?", wollte Agrippina interessiert wissen und Aurelia schüttelte den Kopf. Bevor sie etwas antworten konnte, wurde die Tür aufgestoßen und Agrippinas Familie strömte in ihr Gemach. Der Kleine bewegte sich unruhig und Aurelia schenkte ihm sofort ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Leise begann sie dem Jungen eines ihrer Lieblingsmärchen zu erzählen. Sacht legte sich von hinten ein Arm um ihre Taille und Gaius' vertrauter Duft stieg ihr in die Nase. Lächelnd schaute sie zu ihm auf. Rasch drückte er ihr einen Kuss auf die Schläfe, dann legte er sein Kinn auf ihrer Schulter ab und betrachtete seinen winzigen Neffen.
„Wie würdest du ihn nennen, Gaius?", holte Agrippinas Stimme sie beide zurück in die Gegenwart. Achtsam fuhr Gaius seinem Neffen über die Wange und musterte ihn prüfend. Danach erwiderte er gelassen den Blick seiner Schwester und deutete mit einem knappen Nicken auf seinen Onkel Claudius, der etwas unbeholfen neben seiner Mutter Antonia und seiner Frau Messalina auf der anderen Seite des Zimmers stand. Agrippinas Blick huschte in die von Gaius gewiesene Richtung und schnaubte belustigt. Der Kleine begann zu quengeln und Aurelia merkte zu spät, wie sehr sich ihr Körper bei dieser Szene verspannt hatte, die ihr irgendwie dunkel bekannt vorkam, als hätte sie schon einmal davon gelesen. Eingehend musterte sie das kleine Kerlchen mit seinen wenigen rotblonden Flusen auf dem Kopf.
„Ein Claudius in der Familie reicht, oder avunculus?", sagte Agrippina ernst und streckte ihre Arme fordernd nach ihrem Sohn aus. Sofort reichte Aurelia den Jungen an seine Mutter zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, wie Messalina Claudius etwas ins Ohr raunte.
„Wie wäre es mit Lucius?", erkundigte sich ein Aurelia vollkommen unbekannter Mann, der neben Agrippina saß und den Kleinen fasziniert anstarrte. Nachdenklich musterte Agrippina den Mann und Aurelia sah, wie sie sich zu einem Lächeln zwang, von dem sie glaubte, es würde liebevoll aussehen.
„Lucius Domitius Ahenobarbus", murmelte Agrippina und strich ihrem Sohn sanft über die Wange. „Der Name gefällt mir, mein kleiner Lucius"
In Aurelias Kopf rasten die Gedanken. Domitius Ahenobarbus, irgendetwas klingelte da bei ihr. Doch von einem Lucius Domitius Ahenorbarbus, der auch noch der Sohn von Agrippina war, hatte sie noch nie gehört. Sie kannte einen Gnaeus Domitius Ahenorbarbus, den leiblichen Vater von Kaiser Nero. Nero, der nach der Hochzeit seiner Mutter mit ihrem eigenen Onkel von diesem adoptiert worden war. Nero, der zuvor einen anderen Namen getragen haben musste. Nero, der seinen jüngeren Adoptivbruder umbringen ließ. Nero, der vier Versuche brauchte, um seine Mutter zu töten. Nero, unter dem die ersten Christenverfolgungen in Rom stattgefunden hatten. Nero, der angeblich seinen Lieblingssklaven operieren ließ, damit er ihn heiraten konnte. Nero, der letzte Kaiser der claudisch-julischen Dynastie. Nero, der Psychopath. Nero, den sein Leben in den Selbstmord trieb.
Je länger sie das friedlich schlafende Baby betrachtete, desto mehr wurde ihr bewusst, dass sie recht hatte. Lucius war Nero. Sie hatte Nero im Arm gehalten. Plötzlich kam ihr die Luft sehr dünn vor und sie rang verzweifelt nach Atem. Zugleich stieg Übelkeit in ihr hoch und sie wollte nur noch weg von diesem Kind, dessen Zukunft ihr so viel Angst einjagte. Mechanisch schob sie Gaius von sich, erfand für Agrippina eine Ausrede und verließ ohne eine Antwort abzuwarten beherrscht das Zimmer. Kaum hatte sich die Tür hinter ihr geschlossen, begann sie zu rennen. Doch vor ihren Geist konnte sie nicht davonlaufen. Wohin sie auch blickte, sah sie Szenen, die sie über Kaiser Nero gelesen hatte.
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