Kapitel 39 ~ Prima luce
Langsam färbte sich ein kleiner Punkt im Osten des Himmels zu einem immer tieferen Rot. Als Aurelia auf seinen Wunsch hin die Augen aufschlug, brach im selben Moment die Sonne zwischen den Hügeln hervor und der erster Strahl des neuen Tages hüllte sie beide in warmes, gelbes Licht. Aurelias einfach zurückgebundenes Haar blitze auf wie poliertes Gold im Feuerschein. Ihre Augen weiteten sich vor Staunen und ihr Mund öffnete sich leicht, während unter ihnen ihre Stadt erwachte.
„Prima luce", flüsterte sie verzückt und lächelte versonnen. Verträumt murmelte sie mehr zu sich selbst, dass sie nun diese Redensart verstand. Denn in Rom erwachte das Leben buchstäblich mit dem ersten Sonnenstrahl. Aber Gaius hatte sie nicht zu dieser frühen Stunde heraufgeführt, um ihr eine geläufige Redewendung zu demonstrieren.
„An meinem sechsten Geburtstag weckte mich mein Vater mitten in der Nacht und wir schlichen uns gemeinsam mit meinen älteren Brüdern durch die Stadt", erklärte Gaius und Aurelia erwiderte lächelnd seinen Blick. Interessiert schob sie ihre freie Hand unter das Kinn und stützte ihren Ellenbogen auf ihrem Knie ab. „Mein Vater konnte aus jeder Situation ein Abenteuer machen und wir Kinder haben ihn vergöttert. Wenn er Zeit hatte, spielte er mit uns die lustigsten Spiele. Als an jenem Morgen die Dämmerung hereinbrach, setzten wir uns auf ebendiese Stufe. Mein Vater befahl uns die Augen zu schließen und als er bemerkte, dass ich immer wieder heimlich durch einen kleinen Spalt linste, setze er mich lachend auf seinen Schoß und hielt mir mit seinen großen, vom Krieg rauen Händen die Augen zu. Von da an war es mir unmöglich zu schummeln. Nach einer Ewigkeit entfernte er endlich wieder seine Hände von meinen Augen und erlaubte uns zu sehen. Die Sonne ging am Horizont auf und was ich erblickte, übertraf alles andere. Bei unserer Ankunft hatte ich zwar einen ersten, kurzen Blick auf Rom erhaschen können, aber von ihrer Größe war ich derart erschlagen, dass ich ihre Schönheit verkannt hatte. Mein Vater sagte zu uns, dass wir ab dem heutigen Tage zwei Möglichkeiten hätten: Rom zu dienen oder von Rom verschlungen zu werden. Meine Brüder hat diese Stadt bereits verschlungen und bevor du am Strand von Capri aufgetaucht bist, wusste ich, dass Rom auch mich bald vernichten würde. In meinem ganzen Leben habe ich an keinem anderen Ort ebenso viel Schönheit wie Verdorbenheit gesehen – abgesehen vielleicht von Capri, das zu diesem Zeitpunkt allerdings für mich ein losgelöster Teil Roms war. Ohne dich hätte ich früher oder später das gleiche Schicksal erlitten wie mein Vater und meine Brüder. Aber gemeinsam können wir einfach alles erreichen und alles überstehen"
Voller Liebe blickte sie zu ihm herauf, beugte sich vor und küsste ihn sanft. Irgendwann lösten sie sich voneinander und betrachteten den wunderschönen Sonnenaufgang. Aufgeregt deutete Aurelia immer wieder auf irgendwelche Gebäude und Stadtviertel, die Gaius ihr geduldig erklärte. Ihre Begeisterung bewegte ihn zutiefst. Seine Verlobte hatte sich in seine Stadt verliebt und Gaius hatte vor sie in ihre Stadt zu verwandeln. Denn auch wenn sie die alten Schranken nach und nach gemeinsam einreißen mussten, eines Tages würden sie Seite an Seite herrschen.
Nach einer halben Stunde stupste er Aurelia sanft an und wollte von ihr wissen, ob sie bereit für das nächste Abenteuer war. Ihre Augen funkelten voller Freude, als sie nickte. Lächelnd zog er sie mit sich auf die Füße und deutete auf den Eingang des Tempels hinter sich.
„Dann lass uns zuerst den Göttern danken, dass sie uns zusammengeführt haben", meinte er vergnügt und zog sie lächelnd mit sich in die erhabene Stille des Tempels. Als Gaius sich aus Gewohnheit eine Falte seiner Toga über den Kopf ziehen wollte, griff er ins Leere und musste beinahe über seine eigene Unachtsamkeit lachen. Im selben Moment als er bereits über seine tiefe Pietas scherzen wollte, durchfuhr seinen rechten Arm ein kleiner Ruck nach hinten. Sofort hielt er an und konzentrierte sich wieder auf seine wunderschöne Begleitung.
Auf der Schwelle war Aurelia wie vom Donner gerührt stehen geblieben und starrte nun mit offenem Mund die Statuen der drei Götter an. Gaius hatte gar nicht lange überlegen müssen, womit er ihre kleine Besichtigungstour beginnen würde. Der Kapitolinische Tempel war der göttlichen Trias – Jupiter, Juno und Minerva – geweiht und in seinem Leben hatte Gaius bisher kaum einen heiligeren und faszinierenderen Tempel betreten. Wenn man eintrat, blickte man direkt in das bemalte Gesicht des Obersten aller Götter. Im Zwielicht des Tempels schien er auf die Sterblichen hinabzublicken und absolute Verehrung einzufordern. Vor ihm befand sich sein eleganter Altar. Darauf stand ein Kohlebecken, dessen träg glühende Glut auf das nächste Opfer zu warten schien. Auf der linken Seite befand sich die Statue seiner Frau Juno, die wie Minerva zu Jupiters Rechten ihren eigenen Bereich einnahm. Natürlich wurden auch sie durch Farbe menschlicher. Ihre Altäre wirkten zwar weniger massiv, aber nicht winzig.
Aurelia klappte mühsam ihren Mund zu und näherte sich den Götterbildern. Gaius, der immer noch ihre Hand fest umschlossen hielt, passte seine Schritte an die ihren an und versuchte diesen Ort mit ihren Augen zu sehen. Vor Jupiters Altar blieb sie stehen und legte den Kopf in den Nacken, um die riesige Statue zu betrachten. Geräuschlos zog Gaius ein Bündel Salbei und Weihrauch aus seiner Tasche und reichte es Aurelia. Diese schien aus einem Traum zu erwachen. Mit großen Augen blickte sie ihn an.
„Möchtest du das Gebet sprechen?", fragte er leise und sie murmelte, sie wisse doch gar nicht, wie das funktionieren würde. Beruhigend erklärte Gaius, dass sie bei dieser Art Gebet einfach aus dem Herzen sprechen konnte und zögerlich griff sie nach den Kräutern. Nachdenklich drehte sie diese in der Hand und ihr Blick huschte wieder zu Jupiter hinauf. Dann nickte sie.
„Oh ihr Götter", begann sie mit ruhiger Stimme. „Wer auch immer von euch uns beide zusammengebracht hat – wir danken dir. Durch dich haben wir die Chance auf ein gemeinsames Leben erhalten, dass hoffentlich lang und glücklich sein wird. Ich verspreche, dass ich alles dafür tun werde meine Chance zu nutzen"
Ohne zu zögern warf sie die Kräuter ins Feuer, das augenblicklich in einer großen, blauen Flamme aufleuchtete und sofort erfüllte ein angenehmer Geruch die Luft. Gaius meinte kurz eine salzige Brise auf dem Gesicht zu spüren, dann wurde die Flamme im nächsten Moment kleiner und er war sich sicher, dass er sich den Geruch nur eingebildet hatte. Die Gestalt einer hochgewachsenen Frau im Schatten einer Säule hinter ihnen bemerkte er nicht. Stolz lächelte er auf seine Verlobte herab und im Stillen gelobte er vor allen Göttern, seine Chance mit Aurelia zu nutzen. Er gelobte, dass seine Pläne für ihr gemeinsames Leben nicht nur Hirngespinste bleiben würden. Gemeinsam würden sie diesen Staat zum besseren verändern und die Fehler seiner Vorgänger beheben.
Sein Blick fiel auf Junos erhabenes Gesicht. Mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen schien sie auf ihn zu warten und plötzlich tauchte ein Gedanke in seinem Kopf auf, der ihn begeisterte. Dieser Tag gehörte nur ihnen allein. Warum sollten sie das nicht für sich nutzen?
Hastig griff er in seine Tasche und ertastete erleichtert ein weiteres Kräuterbündel, obwohl er sich sicher war nur eins eingesteckt zu haben.
„Aurelia?", raunte er leise und sofort trafen sich ihre Blicke. „Heirate mich"
Verwirrt runzelte sie die Stirn und erwiderte, dass er selbst den Termin ihrer Hochzeit auf die Kalenden des Oktobers in sechs Tagen gelegt habe. Aufgeregt schüttelte Gaius den Kopf.
„Nein, du verstehst mich falsch", meinte er. „Heirate mich jetzt. Hier. Nur wir beide mit den Göttern als unsere Zeugen. Ich will dich heiraten, weil ich dich liebe und wenn wir für das Volk aus unserer Hochzeit ein großes Fest inszenieren müssen, werden unsere Gefühle vielleicht auf der Strecke bleiben. Deshalb heirate mich jetzt"
Statt zu antworten stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn leidenschaftlich. Kurz vergaß er, wo sie sich befanden und verlor sich in ihr. Als sie sich lächelnd voneinander lösten, schritten sie eilig zu Junos Altar hinüber und stellten sich einander gegenüber auf. Leise begann Gaius ihr das einfache Ritual zu erklären, welches das Herzstück einer jeden römischen Hochzeit bildete. Nervös beugte er sich vor und zog Aurelia das schlichte Band aus den Haaren, die sich sofort wie ein Brautschleier über ihre Schultern ergossen und ihr schönes Gesicht sanft umrahmten.
Behutsam ergriff er ihre Hand und verband ihre verschlungenen Hände mit Aurelias Haarband. Voller Liebe blickte Aurelia zu ihm auf.
„Wo du Gaius bist, bin ich Gaia", verkündete Aurelia zärtlich und kurz verzogen sie beide zeitgleich ihre Lippen zu einem ironischen Lächeln. Was für ein Zufall, dass man sich damals ausgerechnet für seinen Vornamen für dieses Ritual entschieden hatte. Rasch warf er das Bündel in die Flammen, dann schnappte er sich seine Frau und küsste sie wie noch nie zuvor. In diesen Kuss legte er seine ganzen Gefühle und er spürte, wie sich ihre Seelen unwiderruflich miteinander verbanden. Sie war sein zweites Ich. Von ihrer reinen Liebe und ihrem puren Glück berauscht lösten sie sich voneinander und verließen Hand in Hand den Tempel hinein in ihr nächstes Abenteuer. Amphitrite blickte ihnen glücklich lächelnd nach und wischte sich eine Träne der Rührung aus dem Augenwinkel. Nur zu gern erfüllte sie die Gebete ihrer beiden Lieblinge und schenkte ihnen ihren Segen.
Seit zwei Stunden zogen sie durch die immer voller werdenden Straßen seiner Stadt und mittlerweile hatte er ihr fast jeden seiner Lieblingsorte zeigen können. Aurelia war vollkommen begeistert. Sie sah sich mit großen Augen um, genoss die Schönheit und manchmal hüpfte sie sogar wenig würdevoll auf der Stelle auf und ab, um besser sehen zu können.
Wirklich Kopfschmerzen hatte Gaius die Gestaltung des Höhepunktes ihres ersten Dates bereitet. Ovid empfahl die Liebste ins Amphitheater auszuführen, weil man dort nebeneinander sitzen konnte, aber Gaius kannte Aurelias Einstellung zu Gladiatorenkämpfen mittlerweile nur zu gut und er hatte leider für den heutigen Tag keine nachgestellte Seeschlacht auf dem Tiber organisiert. Aurelia hätte sicherlich Gefallen an einer Komödie oder Tragödie in den vielen Theatern Roms finden können, aber dort war die Sitzordnung strenger als im Amphitheater. Zwar erweckten sie durch ihre Verkleidung den Anschein einen sehr niedrigen sozialen Rang zu begleiten, weshalb sie sehr weit oben sitzen müssten. Doch selbst die Armen wurden nach Geschlechtern getrennt. Frauen mussten allein in einem gesonderten Bereich sitzen. Nur in seiner kaiserlichen Loge in der ersten Reihe wurde eine solche Ausnahme toleriert. Diese konnten sie heute allerdings nicht benutzen. Nach langem Überlegen hatte sich Gaius für die Wagenrennen im Zirkus Maximus entschieden.
Hand in Hand schlenderten sie an den Marktständen des Zirkus vorüber. Immer wieder achtete Gaius darauf, dass sie nicht versehentlich bei einem der Magier anhielten, der Fluchtäfelchen verkaufte. Auch wenn Magie per Gesetz verboten war, so wurzelte dennoch der Aberglaube tief in seinem Volk. Gaius selbst verabscheute diese Tradition der Wagenrennen. Ganz gleich wie leidenschaftlich man sich für einen der vier Rennställe begeisterte, wie konnte man nur den Fahrern anderer Teams so viel Schlechtes, ja sogar den Tod, wünschen? Früh genug würde Aurelia die schlechten Seiten ihrer Zeitgenossen erkennen, aber ihr Tag sollte nicht von diesen Schatten getrübt werden.
An einem der Stände kauften sie sich eine trotz ihres fragwürdigen Aussehens überraschend gut schmeckende Speise, die ihre mittlerweile knurrende Mägen wohltuend füllte. Ganz gleich wie lange sie darüber rätselten und scherzten, woraus ihr Essen bestanden haben mag, so genau wollte Gaius die Antwort dann doch nicht wissen.
Mit gespielt fachmännischer Miene musterte Gaius gerade das Angebot an Öllampen, als jemand am Saum seiner Tunika zaghaft zupfte. Überrascht drehte er sich nach links, doch da war niemand. Schulterzuckend wollte er sich wieder den Waren zuwenden, da war das Zupfen wieder da. Verwirrt richtete er den Blick nach unten und begegnete dem eines kleinen Jungen, der ihn mit großen Augen anstarrte.
„Was kann ich für dich tun?", fragte Gaius sanft und der Kleine blickte sich nervös um. Aurelia trat unauffällig neben Gaius und lächelte den Jungen freundlich an. Der Kleine hielt einen frisch geprägten Denar hoch, sodass Gaius sein eigenes Abbild entgegenblitzte und der Junge piepste in seiner hohen, aber lauten Stimme: „Seid Ihr der Princeps?"
Schlagartig wurde Gaius übel. Panik stieg in ihm auf. Wie hatte er nur erkannt werden können und dann auch noch von einem Kind? Wer wusste noch über sie Bescheid? Der Händler? Die Gaffer, die sich sofort um sie bildeten? Alle? Alle starrten sie an und tuschelten, doch er konnte ihre Worte nicht verstehen. Er musste hier weg. Sofort. Doch Aurelias melodisches Lachen verscheuchte seine Angst. Kurz drückte sie seine Hand, dann ließ sie diese los und hockte sich zu dem Jungen hinunter, der verstimmt zu ihr aufschaute. Ruhig erkundigte sie sich nach seinem Namen und widerwillig erwiderte er diesen, Lucius.
„Lucius, es tut mir leid, wenn meine Reaktion dich gekränkt hat", sagte sie beruhigend und der Kleine schaute sie wie hypnotisiert an. „Aber die Vorstellung, dass von allen Männern ausgerechnet Marcus so ein hohes Amt erreicht, ist einfach nur lächerlich. Weißt du, er ist ein Träumer und vergräbt sich manchmal tagelang in seinen Büchern, weil er der Realität zu entfliehen versucht. Schau ihn dir doch einmal an, würde der Princeps sich dazu herablassen in so einem Aufzug ohne seine Prätorianer hierher zu kommen?"
Die Menge um sie herum verstreute sich lachend. Der Junge schüttelte beschämt den Kopf, murmelte eine Entschuldigung für diese Störung in Gaius' Richtung und wandte sich zum Gehen. Aurelia ergriff tröstend seine kleine Schulter und deutete auf die winzige Münze in seiner Hand.
„Die Abbildung ist wirklich sehr klein und ich vermute, du konntest den Princeps noch nie aus der Nähe sehen", meinte sie und der Kleine nickte verlegen. „Dann solltest du dich wegen deines Fehlers nicht schämen, Lucius. Irren ist menschlich und unter uns: Es wäre wirklich aufregend gewesen, wenn du recht gehabt hättest"
Der Kleine nickte lächelnd und Aurelia richtete sich lächelnd wieder auf.
„Bewahre dir deine Neugierde, eines Tages wird sie dich zur Wahrheit geleiten", warf Gaius ein und ahmte Aurelias Akzent fehlerfrei nach. Der kleine Lucius strahlte sie beide an, dann tauchte er in der Menschenmenge ein.
„Lass uns schnell verschwinden, bevor dich noch jemand erkennt, der nicht so leicht zu überzeugen ist", raunte Aurelia ihm ins Ohr und mit einem Lächeln ergriff er ihre Hand.
„Danke", flüsterte er und küsste ihre Wange. Aurelia zwinkerte ihm zu, dann verschwanden sie in Richtung der Eingänge für die weniger reichen und vornehmen Besucher des Zirkus, deren Plätze sich auf der Holztribüne des Zirkus befanden.
Der Zirkus war ein Meer an Menschen in rot, blau, weiß und grün. Noch nie in seinem Leben hatte Gaius auf einem so schlechten Platz gesessen und sich weniger darum geschert. Aurelia an seiner Seite lauschte aufmerksam seinen Erklärungen über die wichtigsten Fakten des Wagenrennens und stellte ihm immer wieder Fragen. Er war froh, dass sie dieses Gespräch nicht in seiner Loge hielten, denn ihre Unwissenheit unterstrich nur unnötig ihre germanische Vergangenheit. Als er ihr gerade den Kult um die vier verschiedenen, nach Farben sortierten Rennställe erklärte, warf Aurelia dazwischen: „Das ist ja wie bei einem Fußballspiel, nur dass nicht zwei, sondern gleich vier Mannschaften gegeneinander antreten. Kein Wunder, dass manche Fans zu richtigen Hooligans mutieren!"
„Auch wenn ich nicht ganz verstanden habe, was dieser Fußball oder ein Hooligan sein sollen – vermutlich hast du recht, mein Herz"
Bevor sie ihm diesen Fußball erläutern konnte, nahm sie etwas in seiner marmornen Loge wahr. Stirnrunzelnd musterte sie die kleinen Gestalten. Eine von ihnen trat an den Rand und richtete irgendwelche Worte an die wartenden Zuschauer, die sie an ihrem Platz nicht verstanden. Zu weit waren sie auch entfernt um das Zittern des Redners zu sehen. Die Herolde, die seine Rede laut weitergaben, verzichteten das Stottern nachzumachen.
„Dein Onkel vertritt dich?", fragte Aurelia entgeistert und ihre Stimme klang so schrill, dass Gaius sich misstrauisch umsah, doch ihr Umfeld konzentrierte sich ganz auf die Lotterie, die gerade begann.
„Es erschien mir die einfachste und sinnvollste Lösung zu sein. Hätte ich Gemellus bitten sollen mich zu vertreten?", fragte er spitz und Aurelia wich seinem Blick aus. Mittlerweile war die Lotterie in vollem Gange. Sklaven warfen Kugeln in die Menge und wer eine davon auffing, stieß lauten Jubel aus, während seine Nebenmänner seufzten. Aurelia beobachtete dies ohne jegliches Interesse und stellte ihm auch keine weiteren Fragen. Stattdessen schien sie in ihren eigenen Gedanken zu versinken und ein Schatten legte sich über ihr Gesicht. Warum hatte er auch Gemellus erwähnt? Als Kind hatte Gaius nie verstanden, warum alle so auf seinem Onkel rumhakten. Gewiss, Claudius war anders und nicht so perfekt wie sein Bruder Germanicus, aber hinter seiner schüchternen Fassade steckte ein ebenso intelligenter Kopf und als einziger seiner Neffen hatte Gaius ihm auch trotz seines Stotterns gern zugehört. Durch seinen Aufenthalt auf Capri hatten sie sich entfremdet, doch Claudius hatte sich sofort ohne Fragen zu stellen bereiterklärt, seinen Neffen bei den heutigen Wagenrennen zu vertreten.
Nachdem die letzte Kugel gefangen wurde, legte Gaius seinen Arm um Aurelia, sie legte sofort ihren Kopf an seine Schulter.
„Wie seltsam wäre es gewesen, wenn wir etwas gewonnen hätten, dass ich eigentlich verschenken wollte", scherzte er und sie stimmte ihm leise zu.
Dann fuhren auch schon die ersten Wagen der Rennställe ein: erst die Weißen, dann die Roten, die Blauen und schließlich die Grünen. Zum ersten Mal an diesem Tag ging ihm die Verkleidung auf die Nerven. Die Pferde, die Wagen und vor allem die Wagenlenker waren zu winzig.
„Das nächste Mal können wir uns ja in deine Loge setzen und uns von deinem Volk anstarren lassen", flüsterte Aurelia ihm zu und Gaius lachte leise auf. Solange sie bei ihm war, durfte sein Volk ihn gerne anstarren. Gerade wurden die Gespanne für den ersten Lauf angekündigt, da kamen auch schon die ersten Sklaven durch die Reihen um die Wetteinsätze entgegenzunehmen. Der Mann neben Gaius ließ sich die verschiedenen Quoten nennen und Gaius stupste seine Frau unauffällig an.
„Möchtest du auf eines der Gespanne setzen?", wollte er wissen und Aurelia blickte ihn an, als hätte er den Verstand verloren.
„Ich wette nicht auf Dinge, auf deren Verlauf ich keinen Einfluss nehmen kann", erwiderte sie irritiert und Gaius gab den Sklaven ein Zeichen weiterzugehen.
„Da bin ich ganz deiner Meinung", gab er zurück und lächelte sie an. Eine Strähne hatte sich aus ihrem Zopf gelöst, den sie sich vor dem Essen wieder gebunden hatte. Nachdenklich runzelte sie die Stirn und als er ihre Gedanken erriet, musste er erneut lachen.
„Was? Als Princeps kann ich es mir nicht leisten, nicht an den Wetten teilzunehmen. Aber da ich heute nur ein ganz normale Mann mit einer ganz normalen Frau bin, muss ich auch nicht gegen meinen Willen einen Haufen Geld verlieren, nur um andere glücklich zu machen", erklärte er ernst und sie musterte ihn traurig. Dann drückte sie ihm einen Kuss auf die Schulter und murmelte: „Du wirst nie normal sein"
Die Art und Weise wie sie es sagte, machte Gaius deutlich, dass ihre Worte als Kompliment gemeint waren und er erinnerte sich an ein Gespräch auf Capri, indem sie meinte wie langweilig normal sein doch sei. Mit ihr war einfach alles so einfach und aufregend zugleich – selbst Normalsein. Als das Rennen begann, betete er zu jeder Gottheit die Wagenlenker vor Unfällen zu bewahren.
Die zwölf Wagenlenker warteten geduldig in ihren Startboxen, bis Claudius das Startsignal gab und sie zeitgleich aus ihren Boxen auf die Rennbahn der Arena preschten. Sobald das Rennen begann, setzte sich Aurelia aufrechter hin und beobachtete fasziniert den Verlauf. Die Menge schrie – mal feuerten sie ihre Favoriten an, mal beschimpften sie deren Gegner. Gaius genoss, dass nicht alle Augen auf ihn gerichtet waren und er nicht für das Volk vollkommen die Beherrschung verlieren musste, indem er die Wagenlenker übertrieben heftig anfeuerte. Er konnte sich einfach zurücklehnen und die verschiedenen Strategien der Fahrer beobachten, die mehr oder weniger gut aufgingen. Er konnte einfach nur die Schönheit und Kraft der Pferde betrachten, auch wenn er sie nur aus der Ferne bewundern konnte.
Kurz bevor sein Vater gestorben war, hatte er ihm beigebracht einen Streitwagen zu lenken. Dafür hatte Germanicus extra für seinen jüngsten Sohn einen Miniaturwagen bauen lassen. Im Nachhinein hatte sich Gaius oft gefragt, inwieweit dies nur ein weiterer Bestandteil zur Erbauung der Truppenmoral seines Vaters gewesen war. Damals war es ihm schon schwer vorgekommen zwei Ponys zu zähmen. Vier dieser wilden Schönheiten wie die Wagenlenker unten in der Arena zu steuern traute er sich nicht zu. Zumindest nicht in diesem Tempo.
Als sich der siebte und letzte Delfin absenkte und auch der letzte Wagen ins Ziel einfuhr, atmete Gaius erleichtert aus. Trotz der hohen Geschwindigkeit und den rücksichtslosen Fahrweisen der Wagenlenker hatte nicht einer der Wagen einen Unfall gehabt – so etwas hatte er bis jetzt nur ein einziges Mal erlebt und damals war er zehn Jahre alt gewesen. Neben ihm klatschte Aurelia begeistert in die Hände.
„Ich dachte immer Wagenrennen wären langweilig, weil die Fahrer ja immer nur im Kreis fahren, aber das war einfach unglaublich", schrie sie gegen den Lärm der tobenden Menge an, die den siegreichen Wagenlenker feierten. Gaius zwinkerte ihr verschmitzt zu, während sich Sklaven eilig ihren Weg durch die Menge bahnten um die Wettgewinne auszuzahlen.
Der Gewinner des Rennens, einer von den Blauen, erklomm die wenigen steinernen Stufen zur Kaiserloge und nahm würdevoll seine Ehrung von Claudius entgegen. Als hätte sein Onkel Gaius' Blick gespürt, schaute er zu ihm auf, sobald der blaue Gewinner ihm den Rücken kehrte. Ein feines Lächeln umspielte die Lippen seines Onkels und Gaius war sich sicher, dass er ihm zugezwinkert hätte.
Mit einem Lächeln wandte sich Gaius Aurelia zu und deutete auf den Obelisken in der Mitte der Spina, der Wendemarke der Rennbahn.
„Den Obelisken hat Augustus aus Ägypten mitgebracht und auf einer hölzernen Spina errichtet", schrie er gegen den Lärm und Aurelia schrie lachend zurück, dass sie das bereits wüsste. Wie ein Irrer begann er zu grinsen.
„Aber wusstest du auch, dass ich erst vor drei Woche die steinerne Spina dort unten eingeweiht habe?", fuhr er schreiend fort und sie schüttelte grinsend den Kopf. Bevor sie etwas erwidern konnte, fuhren auch schon die Wagenlenker für das nächste Rennen in die Startboxen ein und eine weitere Welle von Sklaven wuselte durch die Gänge der Zuschauerränge und nahm Wetteinsetze entgegen. Aufgeregt drückte Aurelia seine Hand und lächelte ihn glücklich an.
Sie schauten sich nicht alle vierundzwanzig Rennen an, die an diesem Tag im Zirkus Maximus ausgetragen wurden. Nach zehn Rennen, in denen sich zwar kleinere Unfälle ereigneten, aber weder Tier noch Mensch ernsthaft zu schaden kamen, wurde Aurelia unruhig und sie verließen die Tribüne. Hand in Hand schlenderten sie durch die belebten Straßen Roms und unterhielten sich angeregt. Gaius konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so glücklich gewesen war. Am liebsten hätte er Aurelia noch mit in seinen Palast genommen. Aber er wollte ihr diesen Tag nicht durch die nervigen Fragen seiner Schwester und Macros Standpauke verderben. Keiner der vier würden erfreut sein, weil er einen Tag von der Bildfläche verschwunden war – wie Aurelia es ausgedrückt hatte. Da er selbst vor Einbruch der Nacht zurück sein musste, führte er Aurelia eine Stunde vor Beginn der Dämmerung zurück zu Vespasius' Haus. Hoffentlich würde sie keinen Ärger bekommen, weil sie wie er ohne ein Wort den ganzen Tag verschollen war. Doch als er Aurelias glückliches Lächeln sah, verschwanden seine Befürchtungen. Dieser Tag war es wert gewesen alle Regeln zu brechen.
Noch lange küssten sie sich im Schatten der kleinen Gasse im Sklaveneingang, den sie heute morgen unbemerkt benutzt hatten. Widerwillig lösten sie sich voneinander.
„Danke für diesen Tag mit dir", flüsterte Aurelia glücklich. „Das war das beste Date, das ich je hatte"
Gaius lächelte schief und erwiderte: „Ich hatte auch noch nie ein besseres Date"
Aurelia lachte und boxte ihn sanft gegen den Oberarm. Verliebt erwiderte sie seinen Blick.
„Du hattest ja auch noch nie zuvor ein Date", spottete sie und küsste ihn sanft. Jede schlagfertige Antwort vergaß er auf der Stelle und er zog sie näher an sich. Da wurde plötzlich die Tür aufgerissen und sie fielen prustend vor Lachen in die Küche. Ein verdutzter, junger Sklaven musterte irritiert das Paar und erkannte schließlich die Tochter seines Herren. Verwirrt reichte er ihr die Hand, welche sie dankbar lächelnd ergriff und zog sie auf die Füße. Vor Verlegenheit schloss Aurelia das Blut in die Wangen, was sehr reizend aussah. Gut gelaunt stand Gaius auf und trat auf die Türschwelle.
„Euer Vater wird überglücklich sein Euch wieder daheim zu wissen, Herrin", sagte der junge Sklave nervös und sein Blick huschte zwischen Aurelia und Gaius hin und her. Nach Aurelias Aufforderung verließ er erleichtert die Küche. Er sollte Vespasius über Aurelias Rückkehr informieren.
„Ich sollte gehen", meinte Gaius und Enttäuschung über das Ende ihres unbeschreiblich schönen Tages durchflutete ihn. Aurelia strahlte ihn an und sein Kummer verflog.
„Wir sehen uns morgen", meinte sie und drückte ihm ein schnellen Kuss auf die Lippen, dann schloss sie die Tür und verschwand ihm Haus.
Lächelnd spazierte Gaius aus der schmalen Gasse und schlug den Heimweg an. Erst jetzt löste sich Clemens aus dem Schatten und trat zu ihm.
„Meinst du, sie hat bemerkt, dass du uns die ganze Zeit begleitet hast, mein Freund?", fragte Gaius grinsend und der Prätorianer schüttelte rasch den Kopf.
„Wenn ich das sagen darf", setzte er an und Gaius nickte kurz zur Bestätigung. „Es wirkte ganz so, als wäret ihr zu sehr miteinander beschäftigt, um etwas anderes wahrzunehmen"
Bestens gelaunt betraten sie kurz vor Einbruch der Nacht unbemerkt Gaius' Palast, beide glücklich über den Verlauf des Tages. Denn nun wusste Clemens mit Sicherheit, dass seine Verwandte bei Gaius in den besten Händen war und freute sich auf ihre Hochzeit in wenigen Tagen. Denn was auch immer die Zukunft für dieses Paar bereit halten würde, gemeinsam würden sie alles meistern können.
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