Kapitel 38 ~ Inkognito
Fasziniert sog Aurelia den Anblick des nächtlichen Roms in sich auf. Als sie sich leicht über die marmorne Brüstung des Balkons beugte, wurde ihr zum ersten Mal wirklich bewusst, dass Rom auf Hügeln erbaut war. Denn auch wenn sie noch so oft von den sieben Hügeln gelesen hatte, so blieb die Stadt in ihrer Vorstellung doch ebenerdig und flach. Aber nun erstreckte sich unter und auf den Hügeln neben ihr die ewige Stadt, die gar nicht daran dachte zu schlafen. Denn auch wenn sie sich in einem der vornehmeren Vierteln Roms befand, dem Palatin, so konnte sie von diesem Hügel die Lichter der Tavernen und Bordellen nur zu deutlich leuchten sehen. Manchmal meinte sie auch Hufgeklapper zu hören. In ihrem alten Leben hatte sie einmal gelesen, dass die schweren Fuhrwerke nur nachts in die Stadt durften. Damals hatte sie New York für die Stadt gehalten, die niemals schläft. Doch hier und jetzt empfand sie den Namen für Rom treffender.
Mit einem Lächeln wandte sie den Blick zum Himmel empor und erneut verschlug ihr die Schönheit dieser Zeit den Atem. Auf Vespasians Landgut hatte sie die Sterne noch besser sehen können als in Rom, doch auch hier gab es nicht genügend Licht, um die Sterne wie in ihrer eigenen Zeit zu überstrahlen. Je länger sie hinaufblickte, desto mehr Sternbilder meinte sie zu erblicken, die in zweitausend Jahren verblasst und verschwunden waren. Nicht dass sie wirklich gut in Astronomie wäre - an ihren schlechten Tagen fand sie noch nicht einmal den großen Wagen, doch wenn sie die Sterne betrachtete, entdeckte sie ihre eigenen Motive und fühlte sich weniger verloren.
Plötzlich legten sich sanft zwei angenehm warme Arme auf ihre, sein vertrauter Geruch stieg ihr in die Nase und automatisch lehnte sie ihren Rücken an seine muskulöse Brust. Die Wärme seines Körpers hüllte sie ein wie eine warme Decke und sie fühlte sich geborgen und beschützt. Sie schwiegen eine Weile und genossen einfach nur die Gegenwart des anderen. Zum ersten Mal, seit sie sich wiedergefunden hatten, waren sie allein.
„Ich bin so froh, dass du bei mir bist", flüsterte Gaius ihr zärtlich ins Ohr. Vorsichtig drehte sie sich einmal um die eigene Achse, schlang ihre Arme um seinen warmen Bauch und blickte lächelnd zu ihm auf. Statt etwas zu erwidern stellte sie sich auf die Zehenspitzen und drückte sanft ihre Lippen auf seinen Mund. Als hätte er nur darauf gewartet, fuhr er ihr durchs Haar und zog sie noch näher an sich heran. Während ihr Herz mit den Schmetterlingen in ihrem Bauch um die Wette flatterte, wurde sie von einer Welle von Verlangen erfasst. Sie wollte mehr. Immer mehr von ihm. Viel zu schnell löste er ihre Lippen voneinander und lehnte seine Stirn sanft gegen ihre. Zittrig und atemlos blickte sie ihm in die Augen und fand in ihnen die gleiche Leidenschaft und Begierde, die sie in jeder Faser ihres Körpers spürte. Zärtlich legte sie eine Hand auf seine Wange und fragte ihn leise, warum er aufgehört hatte. Leise lachte er und strich ihr liebevoll eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Weil ich endlich alles richtig machen möchte", gestand er leise und erwiderte offen ihren Blick. „Jahrelang hatte ich keine Kontrolle über jeden klitzekleinen Bereich meines Lebens. Ich habe Dinge tun müssen, auf die ich nicht stolz bin und für die ich mich selbst verachte. Tiberius hat mir beigebracht Gefühle auszunutzen. Lust, Begierde, Sex – für ihn waren das Mittel zur Demonstration und zum Ausleben von Macht und ich wusste, egal wen ich verführen sollte oder wer mich in seinem Auftrag verführte – jedes Wort, jede Berührung, einfach alles wurde ihm erzählt. In einer Nacht, als er besonders betrunken von seinem Fest mit einer seiner Geliebten auf sein Zimmer torkelte, begegnete er mir auf einem der Korridore. Als er mich entdeckte, lachte er und schickte sie vor. Dann kam er zu mir und raunte mir grinsend in sein Ohr, was er bereits alles über mich in Erfahrung gebracht hatte und wie er gemeinsam mit dem Prätorianerpräfekten vor Macro, Sejanus, die Ehefrauen meiner beiden älteren Brüder gegen sie verwendet hatte. Versteh mich nicht falsch – ich vertraue dir mehr als irgendeinem anderen Lebewesen auf dieser Welt. Durch dich habe ich erkannt, dass Liebe nicht die Unterwerfung des Schwächeren ist, sondern Ebenbürtigkeit. Deshalb möchte ich, dass es etwas ganz besonderes ist, wenn wir das erste Mal wirklich zusammen sind und kein gestohlener, überstürzter Moment der Schwäche. Ich möchte dich heiraten, damit wir wirklich für alle Zeit eins sind. Natürlich möchte ich auch später mit dir über alle Neider lachen können, die behaupten, du hättest dich hochgevögelt"
Nachdenklich spielten ihre Finger mit seinen Haaren.
„Ich kann dich verstehen", hauchte sie leise. „Ehrlich gesagt gibt es auch etwas, worum ich dich vor unserer Hochzeit gerne bitten möchte"
Lächelnd nickte er und zog sie näher an sich heran, um sie vor der Kälte der Nacht zu schützen.
„Ich nehme an, bevor wir heiraten, werden wir kaum allein sein und wenn doch, dann wird unsere Zeit wie jetzt sehr begrenzt sein. Wenn wir uns sehen, dann wird es auf öffentlichen Veranstaltungen und Festen geschehen. Das verstehe ich. Du bist immerhin das Oberhaupt eines riesigen Reiches. Aber ich hätte gerne ein Date"
Verständnislos blickte er auf sie herab.
„Was, bei Pluto, ist bitte ein Date?", fragte er verwirrt. Aurelia lachte leise in sich hinein und nach kurzem Überlegen erklärte sie ihm nervös die Strukturen der modernen Verabredung. Langsam verschwanden die Falten auf seiner Stirn und seine weichen Lippen verzogen sich zu einem schiefen Lächeln.
„Dann gehen wir morgen in den Zirkus – die Aussicht aus meiner Loge wird dir gefallen", strahlte er, doch Aurelias Gesicht verdüsterte sich. Besorgt musterte er sie.
„Ich möchte Zeit mit dir verbringen, Gaius", erklärte sie leise. „Nicht mit dem Princeps, während seine Untertanen uns zusehen"
Verständnisvoll nickte Gaius und zog sie wieder enger an sich heran. Langsam begann er die feinen Unterschiede zu erkennen und je mehr er darüber nachdachte, desto größer wurde auch in ihm der Wunsch einen Tag einfach nur ein normaler junger Mann mit seiner wunderschönen Verlobten zu sein.
„Was hast du im Sinn?", fragte er mit einem verschmitzten Grinsen, von dem ihr ganz warm ums Herz wurde. Mit einem verschwörerischen Lächeln auf den Lippen stellte sich Aurelia auf die Zehenspitzen und raunte ihm ihren Plan ins Ohr. Kaum hatte sie geendet, zog er sie näher an sich und vergrub den Kopf in ihrer Halsbeuge. Lächelnd schloss sie die Augen und kostete jede kostbare Sekunde aus.
Ein Räuspern holte sie zurück in die Gegenwart. Rückartig schlug sie die Augen auf und wich einen Schritt von Gaius zurück. Dieser drehte sich missmutig zum Störenfried um.
„Wir würden gern aufbrechen, Aurelia", meinte Vespasian verlegen und kratze sich am Hinterkopf. Dann erinnerte er sich wieder, dass er kein kleiner Junge mehr war und stellte sich aufrechter hin. „Möchtest du uns immer noch begleiten?"
Aurelia nickte knapp und Vespasian verschwand wieder im Haus. Ihr Blick begegnete dem ihres Verlobten.
„Gute Nacht", raunte sie und hauchte einen federleichten Kuss auf seine Halsbeuge. An etwas anderes kam sie gerade einfach nicht heran. Gaius beugte sich zu ihr hinunter und ihre Münder trafen einander.
„Gute Nacht", flüsterte er, als sie sich voneinander lösten. Mit verschränkten Armen lehnte er sich lässig gegen die Brüstung des Balkons, während Aurelia bedrückt den Balkon verließ. Als sie die Schwelle betrat, rief er ihr ein fröhliches „Bis morgen!" hinterher. Lächelnd drehte sie sich zu ihm um und er zwinkerte ihr verschwörerisch zu. Das glückliche Lächeln verschwand auch dann nicht aus ihrem Gesicht, als sie eine Stunde später im Haus ihres Adoptivvaters in ihrem Bett lag und langsam in einen traumlosen Schlaf glitt.
Noch vor dem Morgengrauen wurde sie durch ein leises Klopfen an ihrer Tür geweckt. Da es Vespasius immer noch nicht über sich hatte bringen können eine Sklavin ins Haus zu holen, war dies seine bevorzugte Weckmethode für seine Tochter und Aurelia hatte nichts dagegen sich selbst für den Tag fertig zu machen. Widerwillig verließ sie ihr weiches Bett, warf sich eine Tunika über und wusch sich das Gesicht mit einer Schüssel kaltem Wasser. Doch heute verstummte das Geräusch nicht. Während sie mühsam ein Gähnen unterdrückte, öffnete sie die Tür. Vom Licht einer Öllampe geblendet, hob sie schützend die Hand vors Gesicht. Hastig senkte der Träger seine Lampe und ihre Augen gewöhnten sich langsam an das warme Licht. In seiner rechten Hand hielt er die Lampe, über dem linken Arm lag ein Stapel frischer Kleider.
„Guten Morgen", murmelte sie leise und blickte zu dem Mann auf. Erschrocken sah sie sich im Gang um, dann packte sie ihn am Stoff seiner einfachen Tunika und zog ihn hastig in ihr Zimmer. Sobald sich die Tür hinter ihnen schloss, fuhr sie zu ihm herum und fragte ihn, wie er unbemerkt hierher gelangt war. Doch Gaius ignorierte sie und begutachtete staunend ihr Zimmer. Aurelia verschränkte die Arme vor der Brust und beobachtete ihn ungeduldig. Fasziniert stellte er die Öllampe neben ihre eigene, noch nicht entzündete auf einem Tisch ab, schmiss die Kleider achtlos auf ihr ungemachtes Bett und spazierte gelassen zu ihrem Erker. Die dort liegende Schriftrolle hob er interessiert auf und überflog die ersten Worte der Stelle, an der sie gestern hatte aufhören müssen, um pünktlich zu seinem Fest zu erscheinen. Überrascht wandte er sich zu ihr um.
„Du liest ja wirklich die Werke meines Onkels", meinte er aufgeregt. Wie machte er es nur, dass er um diese Tageszeit ohne Kaffee schon so wach war? „Gestern dachte ich, du würdest seine Gefühle nicht verletzen wollen, weil er... na ja, du weißt schon"
„Weil er im Gegensatz zu dir nicht perfekt ist?", fragte sie spitz und nahm ihm die Rolle sanft aus der Hand. Gaius lachte leise und deutete auf den Kleiderstapel.
„Zieh dich um, wir haben heute viel vor", erwiderte er grinsend, küsste sie hastig auf die Wange und schlenderte aus ihrem Zimmer. Im Türrahmen blieb er kurz stehen und zwinkerte ihr zu, dann schloss sich die Tür hinter ihm. Im sanften Schein der Öllampe begutachtete Aurelia stirnrunzelnd die Kleidung. Hastig tauschte sie ihre seidene Tunika gegen die einfachere aus cremefarbener Wolle, schnürte die braunen Ledersandalen, wickelte sich den braunen Gürtel um die Taille, kämmte sich die Haare und band sie mit einem einfachen, braunen Band zurück. Zufrieden mit sich griff sie nach einem kleinen Lederbeutel und steckte ein paar wenige Denar ein. Wen auch immer ihre Verkleidung darstellen sollte, ihr Geldbeutel sollte auch zu ihrem verkörperten Stand passen. Denn wer solche einfachen Kleider trug, besaß auch keine Aureli oder trug mehr mit sich herum, als er in einer Woche verdiente. Rasch löschte sie die Lampe, wartete kurz bis sich ihre Augen an die Finsternis gewöhnten und verließ dann eilig ihr Zimmer. Gaius wartete lässig an der Wand gegenüber und ergriff ihre Hand.
„Bist du bereit für ein kleines Abenteuer?", flüsterte er aufgeregt und seine gute Laune vertrieb auch noch den letzten Rest Müdigkeit aus ihrem Körper. Statt zu antworten legte sie den Finger an die Lippen und führte ihn leise durch die vertrauten Gänge. Zum Glück begegneten sie keiner Menschenseele, die ihre Pläne für den Tag womöglich hätte zunichte machen können. Als sie durch den Sklaveneingang auf die Straße traten, atmete sie erleichtert aus. Gaius strahlte sie begeistert an. Nun konnte ihr erstes gemeinsames Date beginnen. Mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht folgte sie Gaius durch die schmalen Gassen, von denen die wenigsten wirklich beleuchtet waren. Sie waren in ihrem eigenen kleinen Abenteuer und zogen los um die Geheimnisse ihrer Stadt zu erkunden.
Ein paar Mal mussten sie Fuhrwerken ausweichen, die über die dunklen Straßen klapperten, doch ansonsten kamen sie unbehelligt voran. Die Blicke der wenigen Menschen, die unterwegs waren, glitten einfach über sie hinweg als wären sie unsichtbar. Faszinierend was Kleidung alles bewirken konnte.
Immer wieder zeigte Gaius auf einige der Gebäude, an denen sie vorbeikamen und erklärte ihr leise deren Geschichte. Auf dem Forum Romanum blieb Aurelia mit offenem Mund stehen und drehte sich um die eigene Achse. Mittlerweile hatte die Dämmerung eingesetzt und im Zwielicht erschien ihr alles um so vieles echter. Sie war wirklich hier und sah nicht die letzten verbliebenen Steine einer verhallten Zeit. Obwohl sie ganz genau wusste, dass jedes der Gebäude bemalt war, konnte man die Farben noch nicht deutlich erkennen und so überlappten in ihrem Kopf Realität, Fernsehdokumentationen und Bilder zu prächtigen, reinen, unbemalten Marmorgebäuden. Nicht einmal in ihren schönsten Tagträumen hatte sie sich diesen Platz in ihrer Vorstellung so wunderschön und bezaubernd rekonstruieren können. Aufgeregt betrachtete sie die hölzernen Rammsporne der Rostra. Für einen Moment stellte sich Cicero vor, der dem Volk die Vollstreckung der Todesurteile für die Beteiligten der Catilinarischen Verschwörung verkündete. Seine Stimme dröhnte über die stille Menschenmasse. Sie haben gelebt. Die Menge begann zu jubeln. Dann fiel ihr schlagartig wieder ein, dass man auf den Befehl von Marcus Antonius Ciceros Hände und seinen Kopf an genau diese Rednerbühne angebracht hatte und ihre Begeisterung legte sich etwas. Erst jetzt registrierte sie die vielen Tempel und Triumphbögen, die wahrscheinlich Augustus oder Tiberius hatten errichten lassen. Vielleicht hatte auch Gaius sich in seiner kurzen Amtszeit bereits an einigen Stellen der Stadt ausgetobt und in neuen Gebäuden verewigt. Das Leben in der Politik war unbeständig und kurz. Die Zuneigung des Pöbels ebenso flatterhaft wie ein Kolibri. Nachdenklich musterte sie ihren Verlobten. Gemeinsam würden sie es schaffen seine Ermordung in ungefähr drei Jahren zu verhindern. Langsam glaubte sie die fehlenden oder rätselhaften Stücke in seiner in ihre Zeit überlieferten Geschichte zu durchschauen. In ihrem Hinterkopf begann ein Plan zu reifen. Sie konnten ihre Geschichte gemeinsam schreiben.
Gaius drückte sie näher an sich und zog sie mit sich fort von diesem Schauplatz der römischen Republik, der so viele berühmte Persönlichkeiten bereits hatte kommen und gehen sehen.
Nun folgten sie einer schmalen Gasse einen der Hügel hinaus – Aurelia hatte sich leider nie merken können, an welcher Stelle in Rom sich welcher der sieben Hügel befand. Nach wenigen Minuten mündete die Gasse auf einen kleinen Platz. Gaius steuerte auf die Stufen eines großen Gebäudes zu, gemeinsam stiegen sie die ausgetretenen Stufen hinauf und setzten sich lässig an den Rand der obersten Stufe.
„Mach die Augen zu", flüsterte Gaius und drückte aufgeregt ihre Hand. Folgsam schloss sie die Augen und müde lehnte Aurelia ihren Kopf gegen Gaius' Schulter. Eine gefühlte Ewigkeit saßen sie schweigend und Händchen haltend beisammen, bis er ihr irgendwann sanft ins Ohr flüsterte, sie könne nun die Augen aufmachen. Der Anblick, der sich ihr bot, verschlug ihr den Atem.
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