Kapitel 35 ~ Gezeitenwechsel
Gelassen beobachtete Antonia ihren jungen Enkelsohn, der unruhig im Zimmer hin und her lief. Wenn er sich für einige wenige Augenblicke auf eine der Sitzgelegenheiten fallen ließ, trommelte er so lange nervös mit den Fingerspitzen gegen das Möbelstück, bis er erneut ruckartig aufsprang und wieder seine Runden drehte. Seine unruhigen Schritte zerschnitten die erwartungsvolle Stille. Auf seinen Schultern lastete nun schon seit Monaten die schwere Bürde der Herrschaft und noch vor wenigen Stunden hatte sie befürchtet, er würde irgendwann daran zerbrechen. Der Gaius, den sie kannte und den sie hatte aufwachsen sehen, war berechnend und verspielt, launisch und grüblerisch, überschwänglich und gefühlskalt. Seit der Ermordung seines Vaters trug ihr Enkel eine tiefe Melancholie in sich, die sie um so manche schlaflose Nacht gebracht hatte. Während seiner Zeit auf Capri wurde er durch Tiberius zu einem Schauspieler, der sich selbst hinter seiner Maske verloren hatte. Doch jetzt war ihr kleiner Gaius kein dummer Junge mehr. Er war ein Mann, der Princeps des römischen Reiches und füllte seinen Platz besser aus, als sie es sich je erträumt hatte.
Als ihre Augen zum ersten Mal Aurelia erblickten, hatte Antonia gespürt, dass diese junge, mysteriöse, wunderschöne Frau eines Tages wichtig werden würde. Je mehr sie über die junge Frau in Erfahrung bringen konnte, desto begeisterte war sie. Im ersten Moment war Antonia wegen der Verlobung ihres Enkels skeptisch gewesen, doch je länger sie nun darüber nachgrübelte und die wachsende Unruhe ihres Enkels beobachtete, desto ruhiger wurde sie selbst. Antonia sah den beiden an, wie sehr sie einander liebten. Eine solche Liebe erlischt niemals. Vielleicht war es an der Zeit die nächste Generation agieren zu lassen.
„Könntest du dich bitte hinsetzen?“, fragte Antonia müde und Gaius hob irritiert den Kopf. „Es macht mich selber ganz nervös, wenn du die ganze Zeit sinnlos durchs Zimmer läufst. Sie sitzt in einer Zelle – sie läuft schon nicht weg“
„Avia, ich liebe sie – aus ganzem Herzen. Ihr Plan hat so viele Schwachstellen. So viele Dinge, die wir nicht bedacht haben, können eintreten und sie in Gefahr bringen. Sie unterhält sich dort mit einer Verbrecherin, sie riskiert dort unten ihr Leben für mich, für uns, für unseren Staat. Wenn etwas schiefgeht, kann ich mir das niemals verzeihen. Ich kann mich einfach nicht hinsetzten und abwarten und nichts tun, während sie…“, erwiderte Gaius gereizt und sie hob beschwichtigend die Hände.
„Ich weiß, mein Lieber“, antwortete sie leise. „Aber ich kenne dich und es gibt wichtigere Angelegenheiten, denen du dich mit dem ersten Licht des Tages widmen kannst. Deshalb habe ich auch nach Vespasius schicken lassen. Die Bedingungen für eure Ehe müssen so bald wie möglich ausgehandelt werden. Eine Ehe ist ein Versprechen auf Erben und eine Herrschaft ist nur dann stabil, wenn es genügend Erben gibt. So wie die Dinge stehen, hat sich Gemellus als Erbe selbst disqualifiziert. Du kannst zwar jemand anderen adoptieren, aber ein eigener Sohn...“
Ihre Stimme verklang leise, während sie sich in all den Möglichkeiten verlor, die gerade vor ihrem inneren Auge Gestalt annahmen. Ein kleiner Gaius. Wenn Germanicus das nur hätte erleben können!
Widerstrebend ließ er sich auf ein Sofa fallen und begann auch gleich mit seinen Fingern gegen die Unterkante zu trommeln, während er die Decke ausgiebig betrachtete. Antonia räusperte sich, ihr Enkel blickte sie fragend an und sie starrte nur tadelnd auf seine unruhigen Finger. Gaius verdrehte die Augen, verschränkte aber seine Hände hinter seinem Kopf. Langsam ließ die Anspannung in seinem Körper nach. Nach wenigen Minuten wurde sein Atem gleichmäßiger und er driftete ab in einen unruhigen Schlaf. Nur mühsam widerstand sie dem Drang ihm eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht zu streichen. In solchen Momenten konnte sie nur ihren kleinen Gaius in ihm sehen, der in seinem jungen Leben schon so viel Leid hatte ertragen müssen und nicht den brillanten Staatsmann, der das Potential in dem unkonventionellen, aber genialen Plan seiner Verlobten sofort erkannt hatte.
Er war seinem Vater so ähnlich. Auch Germanicus hatte seine Frau und sein Land leidenschaftlich geliebt. Anfangs hatte Antonia Germanicus‘ Liebe zu Agrippina als seine größte Schwäche angesehen und sich immer wieder mit ihrem Sohn gestritten. Heute wusste sie, dass die größte Stärke der Menschen die Fähigkeit aufrichtig und aus ganzem Herzen zu lieben war. Wahre Liebe konnte alles überwinden. Die Liebe hatte dafür gesorgt, dass in ihrem Kerker eine junge Frau gemeinsam mit ihren Vettern nach der Wahrheit suchte, während ihr Enkel sicher und behütet schlafen konnte ohne für die dringend benötigten Informationen Blut vergießen zu müssen. War die Liebe nicht erstaunlich? Lächelnd betrachtete sie ihren schlafenden Enkel und wartete auf den Morgen.
Noch vor dem ersten Sonnenstrahl stahl sich Pallas in das Zimmer. Wie immer zeigte sein Gesicht keine Reaktion. Erwartungsvoll blickte Antonia ihm entgegen. Geräuschlos eilte er an ihre Seite und flüsterte ihr ins Ohr, dass Vespasius im Atrium warte. Antonia nickte und wies Pallas an ihren Gast in ihr Arbeitszimmer zu führen. Kaum hatte der Sklave das Zimmer verlassen, erhob sie sich von ihrer Liege und schüttelte ihren Enkel sanft wach. Verschlafen blinzelte er sie an.
„Gibt es etwas Neues von Aurelia?“, fragte er sofort und sie schüttelte den Kopf. Genervt schloss er wieder seine Augen.
„Aber ihr Vater ist gerade für eure Verhandlung eingetroffen“, sagte sie ruhig und mit einem Ruck saß er aufrecht auf der Liege und sah sie hellwach an. Wortlos warf sie ihm einen Apfel zu und während er kaute, füllte sie Wasser in einen Becher. Zum Dank nickte er ihr knapp zu, kippte den Becher hinunter und verließ eilig das Zimmer. Sie rief ihm noch hinterher, er solle sein Toga auf dem Weg noch etwas richten. Dann fiel die Tür auch schon hinter ihm ins Schloss.
Sanftes Licht der aufgehenden Sonne fiel auf ihr Gesicht. Mit einem Lächeln auf den Lippen verließ Antonia das Zimmer. Es war Zeit für Antworten.
Vor der Kerkertür hielt sie inne. Seit sie Livilla beim Dahinscheiden zugesehen hatte, hatte sie diesen Ort nicht mehr betreten. Hier wurde das Grauen wieder lebendig. Eine warme Hand legte sich sanft auf ihren Rücken. Sie war Antonia Minor, die Tochter des großen Marcus Antonius. Sie war stärker als ihre Erinnerungen, ihre Träume und ihre Ängste. Die Kerkertür öffnete sich mit einem Quietschen und die abgestandene Luft ihres kleinen Gefängnisses drang in ihre Nase. Sie atmete tief durch, streckte den Rücken durch, nickte Magnus dankbar zu und betrat ihre persönliche Hölle.
Das Licht der Fackel vertrieb die Schatten der Vergangenheit. Das Mädchen in der Zelle war nicht Livilla. Golden schimmerndes Haar vertrieb die Erinnerungen von Rabenschwarzem.
Antonia hielt kurz inne und gab einen von Magnus Brüdern das Zeichen Sabinus aus seiner Zelle zu holen. Gemeinsam mit Magnus schritt sie weiter zu Aurelia, die gelassen gegen die Mauer ihrer Zelle gelehnt dasaß. Besiegt, aber nicht gebrochen. Antonia stolzierte durch die gerade aufgeschlossene Tür und blieb außerhalb ihrer Reichweite erhaben stehen. Verächtlich blickte sie auf das Mädchen herab.
„Hast du mir irgendetwas zu sagen?“, fragte sie kühl. Aurelia blickte nur müde zurück und schüttelte schließlich träge den hübschen Kopf. Verächtlich schnalzte Antonia mit der Zunge, dann nickte sie Magnus zu und verließ aufrecht den Kerker. Erst in ihrer Bibliothek machte sie halt und atmete tief ein und aus. Unbemerkt huschte Caenis auf ihren Schemel, Griffel und Schreibtafel in der Hand bereit zum Einsatz. Wenig später traten Sabinus und Aurelia hinter Magnus ein und rieben sich die leicht geröteten Handgelenke.
„Musstest du die Fesseln wirklich für die paar Meter so fest zurren?“, beschwerte sie sich gerade und wieder bereitete der leichte Akzent ihrer seidigen Stimme Antonia Kopfschmerzen. An irgendjemand erinnerte er sie, doch sie konnte ihn einfach nicht mehr richtig einordnen. Besorgt trat Antonia näher an die junge Frau heran und erkundigte sich nach ihrem Befinden. Doch Aurelia machte nur eine wegwerfende Handbewegung.
„Sollen wir auf Gaius warten oder anfangen?“, wollte sie wissen. Auf Antonias Gesicht erschien ein kleines Lächeln.
„Erzählt mir alles, was ihr vergangene Nacht herausgefunden habt“, erwiderte sie und deutete einladend auf eine Sitzgruppe in Caenis‘ Nähe.
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