Kapitel 3: Das umgeschriebene Gedicht
Marjorie mochte gute Gedichte.
Die Gedichte, die Mr Tompson in seiner Freizeit schrieb und seiner Klasse (nur noch bestehend aus sieben Jugendlichen) danach gerne vortrug, waren nicht gut. Umso glücklicher war Marjorie darüber, dass sie heute mit den Gedichten aus dem schulischen Gedichtband arbeiten würden.
„Meine lieben Poeten und Poetinnen; schlagen sie ihre Bücher bitte auf Seite 64 auf. Wir werden uns heute der aufrührenden Nachricht und Rosie zu ehren, mit einem Spiel beschäftigen.", fing Mr Tompson an und deutete auf den leeren Stuhl, auf dem Rosie Vaughn sonst immer saß.
Marjorie hob die Hand und Mr Tompson deutete auf sie, forderte sie stumm dazu auf, ihre Gedanken mit der kleinen Klasse zu teilen. Es gab mehrere Dinge, die Mr Tompsons Unterricht von dem der anderen Lehrerinnen und Lehrer unterschied; zum einen war da die Tatsache, dass er sie siezte. Außerdem musste man aufstehen, wenn man etwas sagen wollte, also schob Marjorie ihren Stuhl zurück, als sie aufstand: „Wissen sie, wo Rosie ist?"
Mr Tompson seufzte tief und schwer, als würde die Last der Welt auf seinen Schultern liegen, was seiner Auffassung nach auch tatsächlich so war: „Ich bedaure, ihnen diese Antwort geben zu müssen, aber mir liegt ein Nein auf der Zunge. Aber ich habe selbstverständlich von der Kreidenachricht gehört, die Erzählung von einem Spiel. Also wenden wir uns, wie eben bereits erwähnt, heute einem spielerischen Gedicht vor. Setzten sie sich wieder."
Marjorie gehorchte und schlug das Buch auf Seite 64 auf.
„Ach, verdammt.", zischte Darcy neben ihr und sah wütend auf die Bleistiftkritzeleien in ihrem Gedichtband.
„Na na, Miss Darcy; seien sie offen für die alten Anmerkungen alter Denkerinnen und Denker!", mahnte sie Mr Tompson, während er den Arbeitsauftrag an die Tafel schrieb. „Lesen sie sich bitte das Gedicht durch und setzten sie es anschließend in einen anderen Kontext, überlegen sie, weshalb die gewählten Worte gewählt wurden. Fangen sie an."
Es war kein langes Gedicht.
Eine Welt aus 64
Eine Welt mit einem Ziel,
getrennt durch ordentliche Quadrate,
denn die Ordnung ist ein Ziel
Eine Welt mit zwei Seiten,
dazu verdammt einander auszulöschen,
denn nur eine Seite kann bestehen
Eine Welt gegen die Zeit,
die Züge sind kostbar,
denn ein Fehler kostet dich zu viel
Eine Welt mit Figuren,
erschaffen für nur eine Aufgabe
denn das eigene Opfer ist mehr wert als das andere
Eine Welt ohne Ende,
denn das Ende ist das Aufgeben
Und ein gewähltes Aufgeben
ist kein Ende.
„Psst, March.", zischte Darcy. „Worum geht es in dem Gedicht?"
„Darcy, das herauszufinden ist quasi unsere einzige Aufgabe.", erwiderte Marjorie.
„Aber bei mir ist der letzte Paragraph neu geschrieben, ich kann das also gar nicht lesen oder entschlüsseln!"
„Was? Zeig her.", wisperte Marjorie und Darcy reichte ihr ihren Gedichtband.
Es stimmte; der Vorbesitzer oder die Vorbesitzerin hatte den letzten Absatz umgeschrieben.
Eine Welt mit Ende
denn das Ende ist vorbestimmt
Es ist ein Versehen
Und ein fatales Versehen ist ein Ende
„Wem gehörte das Buch?", fragte Marjorie leise.
„Steht vorne.", antwortete Darcy und Marjorie blätterte vorsichtig die dünnen Papierseiten um.
Josephie Carter
„Hey, die kenne ich!", fiel Darcy ein. „Phie ist auch im Physikclub!"
„Super, dann kannst du ja beim nächsten Mal ihre Gedichtskünste loben.", erwiderte Marjorie trocken und wandte sich wieder ihrem eigenen Buch mit dem Originalgedicht zu.
„Psst.", machte Darcy wieder.
„Was jetzt?", flüsterte Marjorie zurück.
„Du hast mir noch nicht gesagt, worum es eigentlich geht!"
„Es geht um Schach, du Poesiegenie.", zischte Marjorie.
„Ach so.", sagte Darcy, als würde das auf der Hand liegen. „Oder ehrlich gesagt: Hä?"
„Denk einfach ein bisschen darüber nach, okay? Du schaffst das schon!"
„Können wir dann wenigstens später in der Bibliothek unsere Interpretationen vergleichen?", bat Darcy. Marjories Wangen färbten sich rosig: „Ich kann nicht."
„Wieso? Du hast nicht so viele Freunde, mit denen du dich treffen könntest - "
„Ich lerne mit Korbinian für die Englischprüfung in zwei Tagen.", antwortete Marjorie schlicht und fing dann mit ihrer Gedichtsinterpretation an, um ihre roten Wangen bestmöglich zu verbergen.
„Korbinian.", murmelte Darcy, als könnte der Name allein ihr schon Informationen über ihn geben. „Der aus unserem Mathekurs?"
„Wie viele Korbinians kennst du?!"
„Guter Punkt, guter Punkt. Aber -"
„Es tut mir leid, eure bestimmt sehr geistreichen Konversationen unterbrechen zu müssen, aber der menschliche Geist braucht auch Zeit alleine, um ganz individuell auf Gedanken zu kommen, denn -"
„- denn auf Individualität beruht die Kreativität.", beendete Darcy augenrollend den Satz, den Mr Tompsons fast jede Stunde einmal in den Raum warf und sich dabei ungeheuer toll vorkam
„Exzellent, Miss Darcy. Und jetzt wenden sie sich bitte wieder dem Gedicht zu."
Marjorie blendete Darcys genervtes Murmeln aus und konzentrierte all ihre Gedanken auf das vorliegende Gedicht.
Eine Welt mit einem Ziel – Schachmatt, natürlich.
Eine Welt mit zwei Seiten – schwarze Spielfiguren gegen weiße Spielfiguren.
Eine Welt gegen die Zeit – jeder Zug kostete Zeit, wenn man das Zentrum nicht schnell genug besetzte, hatte die andere Person bessere Chancen auf einen Sieg.
Eine Welt mit Figuren – unnötig zu sagen, dass wieder die Spielfiguren damit gemeint waren.
Eine Welt ohne Ende – das war er. Das war der Punkt, an dem die Wege abbogen.
Es gab nicht nur den Sieg, es gab auch das Remis. Spielten beide Spielerinnen oder Spieler absolut perfekt, konnte das Spiel nur in einem Remis enden. Doch auch ein Remis war ein Ende. Es gab immer ein Ende.
Marjories Blick schweifte zu Darcys aufgeschlagenem Buch, das neben ihrem lag. Der umgeschrieben Absatz hatte Recht, Schach hatte ein Ende. Aber war es vorbestimmt? Es gab zu viele Möglichkeiten, es konnte gar nicht vorbestimmt sein.
Die Gedanken in Marjories Kopf überschlugen sich, weshalb sie zunächst gar nicht bemerkte, dass die Direktorin in das Klassenzimmer trat: „Entschuldigen sie bitte, aber ich möchte kurz mit Marjorie Fall reden."
Mr Tompson zog die Augenbrauen zusammen: „Aber wir befinden uns gerade in einem tiefen Meer aus kreative Gedanken, kann das nicht warten?"
„Ich fürchte nicht; es geht um Rosalie Vaughn.", antwortete Miss Gibson.
„Nun gut.", seufzte Mr Tompson. „Miss Marjorie, ich hoffe sie werden ihre einzigartigen Gedanken nicht in der Zwischenzeit vergessen."
„Das wird sie ganz bestimmt nicht. Es dauert auch hoffentlich nicht allzu lange.", meinte die Direktorin. Die wenigen Blicke, die die Schülerinnen und Schüler in der Klasse zu bieten hatten, hefteten sich allesamt an Marjorie auf ihrem Weg zur Tür, was ihr das Gefühl verschaffte, als würden dumpfe Messer in ihr Rückenmark stechen.
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