-6- Marlow
Nachdem ich das hübsche Mädchen, welches ich gestern im Club kennengelernt hatte, zufällig im Café traf, ging ich mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen durch die verschneiten Straßen New Yorks und genoss den leckeren und vor allem heißen Kaffee in meinen Händen.
Es war eine gute Idee, mir in diesem unscheinbaren kleinen Laden etwas warmes zu trinken zu holen. Immerhin wusste ich jetzt, wo sie arbeitete und nebenbei konnte ich meine eiskalten Hände wärmen.
Schon öfter hatte ich darüber nachgedacht, dieses Café auszuprobieren, doch bisher ging ich immer dran vorbei. Bis zum heutigen Tage. Was vielleicht gut war, denn vorher wäre sie mir nicht so ins Auge gestochen. Hübsch hätte ich sie trotzdem gefunden, aber so blieb sie mir jedenfalls in Erinnerung.
Tja, was soll ich sagen? Die Kleine hat mir den Tag versüßt.
Abrupt blieb ich stehen und schlug verärgert mit meiner flachen Hand gegen meine Stirn.
Warum? Ich kannte ihren Namen immer noch nicht.
Hatte sie denn kein Namensschild getragen? Oder war es mir einfach nur nicht aufgefallen? Ich ärgerte mich maßlos, dass ich nicht besser darauf geachtet hatte. Aber immerhin wusste ich, wo sie arbeitete und dachte mir, dass ich sie sicherlich nochmal dort antreffen würde.
Wenn ich mir dort nochmal einen Kaffee holen würde ...
Seufzend lief ich weiter in Richtung meines Wohnhauses und genoss den aromatischen Kaffee. Jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt, als ich um die Ecke bog und Wyatt vor meiner Tür stehen sah.
Er rieb sich seine Hände vor lauter Kälte und war dick in Schal und Jacke eingepackt.
Wie lange hatte er hier wohl schon auf mich gewartet?
Bibbernd pustete er in seine gefalteten Hände, um sie zu wärmen und seine Augen strahlten erleichtert, als er mich sah. Sein restliches Gesicht schien eingefroren zu sein. Zumindest war er starr vor Kälte.
„Hey", begrüßte er mich.
„Wyatt, was gibt's?"
Ich war nicht wirklich sauer auf ihn und doch war meine Begrüßung eher kühl. Anders als sonst. Und vor allem anders, als er es von mir kannte.
„Ich wollte nach dir sehen. Mann, ich weiß doch, wie schlecht es dir geht. Sorry, ich hab übertrieben..."
„Entspann dich!", lachte ich leise und schloss die Tür auf.
Nachdem ich Wyatt deutlich gemacht hatte, dass er mir folgen soll, fuhren wir mit dem Aufzug bis in meine Wohnung, wo es auf angenehme Temperatur geheizt war. Kaum hatte ich die Tür hinter mir geschlossen, stellte ich den Kaffeebecher auf meinen hohen Küchentresen und befreite mich von Schal, Jacke und Schuhen.
Wyatt tat es mir gleich und schenkte sich daraufhin ein Glas Wasser ein.
„Tut mir übrigens auch leid. Ich wollte vorhin nicht so ausrasten", entschuldigte ich mich, denn meine Reaktion war vielleicht auch etwas übertrieben gewesen.
Doch Wyatt schien mir gar nicht zuzuhören. Interessierte ihn das überhaupt nicht?
„Was ist das?", wollte er von mir wissen und hielt den Kaffeebecher hoch.
„Das, mein Freund, nennt sich Kaffee. Richtig lecker. Solltest du auch mal probieren", erklärte ich etwas sarkastisch. „Da gibt's so ein kleines Café in der 14. Straße."
Natürlich wusste er, dass Kaffee in diesem Becher war, doch warum er mich fragte, war mir immer noch ein Rätsel.
„Nein, das meine ich nicht. Hier ..."
Mit einem breiten Grinsen im Gesicht, drehte er den Kaffeebecher zu mir um und deutete auf etwas in schwarz Gekritzeltes.
„Was? Das ist...", doch ich kam nicht zu Wort, so erstaunt war er.
„Eine Nummer, Bro! Das ist 'ne Nummer."
Lachend reichte er mir den Kaffee, den ich stirnrunzelnd betrachtete.
Eine Nummer?
„Ja, das sehe ich, aber ..."
Noch immer überrascht, suchte ich nach den richtigen Worten.
„Also, wer ist sie?"
„Keine Ahnung", sagte ich leicht verwirrt, obwohl nur eine Frau dafür in Frage kam.
„Hör auf, es zu leugnen. Da steht eindeutig eine Nummer drauf und die gehört scheinbar einer gewissen Millie."
Millie.
So hieß die Kleine also? Ein hübscher Name, wie ich fand. Er passte zu ihr.
„Ich schätze, es ist die Kleine aus dem Café."
„Macht Sinn. Oder hast du deinen Kaffee noch anderen in die Hand gedrückt?"
Lachend ließ er sich auf meine Couch fallen und scheinbar erwartete er auch keine Antwort auf seine Frage. Mich hatte nur eine Person bedient. Sollte ihr Kollege Millie heißen und mir seine Nummer aufgeschrieben haben, dann sollte ich mir wohl Gedanken machen.
„Also was ist? Schreibst du ihr?", riss Wyatt mich aus meinen Gedanken.
Ich hatte bisher keine Zeit, mir zu überlegen, ob ich ihr schreiben würde. Doch ich wusste, dass es nicht so einfach für mich war.
„Nein, ich denke nicht."
„Wieso? Ist sie so hässlich?"
Hässlich? Nein. Ganz und gar nicht.
„Nein. Im Gegenteil, sie ist sehr hübsch. Und süß."
„Wo ist dann das Problem? Schau mal, du hast im letzten Jahr mehrere Frauen getroffen und deinen Spaß gehabt. Was ist auf einmal falsch daran?"
Was falsch daran war? Einfach alles.
Der Zeitpunkt. Die Situation. Gestern erst war ihr Todestag gewesen, Weihnachten stand vor der Tür und vor allem machte Millie mir nicht den Eindruck, als wäre sie nur auf einen One-Night-Stand aus.
Bei ihr hatte ich einfach nicht das Bedürfnis, sie einfach nur zu vögeln. Natürlich fand ich sie hübsch und vor allem auch heiß. Mein Schwanz reagierte bei ihr, keine Frage. Aber bei ihr war es anders und das bereitete mir Angst.
„Nichts, aber ich..." Wieder einmal ließ Wyatt mich nicht richtig zu Wort kommen. Vielleicht auch nur, weil ich förmlich nach den richtigen Worten suchte und ewig für eine halbwegs plausible Antwort brauchte.
„Siehst du. Du sagst es doch selbst. Es gibt keinen Grund, ihr nicht zu schreiben."
„Ich wüsste nicht mal, was ich ihr schreiben soll, Wyatt", versuchte ich mich weiter herauszureden, doch er hatte natürlich direkt Tipps für mich parat. Manchmal hasste ich ihn dafür, dass er so war, wie er war.
Hätte er nicht ein schüchterner Mann sein können, der nichts von Frauen verstand?
„Frag sie einfach, ob sie mit dir ausgeht. Das machst du doch nicht zum ersten Mal."
Seufzend setzte ich mich ihm gegenüber auf die Couch und blickte starr auf den Kaffeebecher in meinen Händen. „Ernsthaft Wyatt, ich weiß nicht, ob ich soweit bin", antwortete ich endlich mal ehrlich.
Er atmete langsam ein und aus, bevor er sich zu mir beugte, mir den Becher aus der Hand nahm und die Nummer mit seinem Handy wortlos abfotografierte.
„Was tust du denn da?", fragte ich und im gleichen Moment drückte er mir bereits den Becher wieder in die Hand.
„Auf Nummer sicher gehen. Ich kenne dich. Du wirfst ihn am Ende weg und ich finde, du solltest ihr wirklich schreiben. Und da ich jetzt wieder los muss..."
Mit diesen Worten raffte er sich auf und ging zur Tür, um sich seine Schuhe und die Jacke anzuziehen. Doch bevor er die Tür öffnete, drehte er sich nochmal zu mir um.
„Du wirst es nur herausfinden, wenn du es versuchst, Marlow. Denk daran. Ein Versuch ist es doch wert, oder?"
Während ich auf die Nummer und den Namen auf dem Becher schaute, nahm ich das Schließen der Haustür gedämpft wahr. Wyatt hatte nicht ganz Unrecht. Wenn ich es nicht versuchen würde, würde ich nie herausfinden, ob ich mich auf jemand anderes einlassen konnte. Seien es nur ein paar Dates. Nur ein paar nette Worte, die man austauschte.
Gerade dachte ich tatsächlich darüber nach, dass ich es womöglich mehr bereuen würde, wenn ich ihr nicht schreiben würde.
Wie unhöflich wäre es gewesen, wenn ich mich bei ihr nicht melden würde, nachdem sie so mutig war. Vermutlich erwartete sie sogar, dass ich ihr schreiben würde. Sie schien definitiv Interesse zu haben, sonst hätte sie mir ihre Nummer wohl nicht aufgeschrieben.
Mein Blick fiel wieder auf das Foto, das auf dem Fenstersims stand. Sie hatte sich eine Zuckerstange zwischen Nase und Mund gesteckt und eine Schnute gezogen, die uns beide zum Lachen brachte. Es entstand vor zwei Jahren an Weihnachten. Wir hatten immer Flausen im Kopf. Mit ihr machte alles einfach mehr Spaß. Sie hatte immer gute Laune und vermittelte diese auch. Zumindest meistens. Außer, wenn sie Hunger hatte. Dann war nicht gut Kirschen essen mit ihr.
Traurig stellte ich den Becher auf den Tisch und zog mir Pullover und Hose aus, während ein Kloß meine Atmung beeinträchtigte. Die Klamotten warf ich unachtsam auf den Boden, während ich ins Schlafzimmer ging und mir meine Sportkleidung aus meinem Kleiderschrank heraus nahm. Seit dem Tod meiner Freundin war Sport für mich eine Möglichkeit geworden, meinen Frust abzubauen. Mit meiner Trauer klarzukommen.
Und genau das brauchte ich jetzt. Sport würde mir helfen, meine Gedanken zu sortieren.
Nachdenklich lief ich durch die Kälte, während der Schnee leise auf mich herab rieselte. Der Schnee glitzerte in der Dämmerung und die kleinen Flocken ließen sich tanzend auf Bäumen und Boden nieder.
Meine übliche Runde führte durch den Central Park, so wie auch heute. Doch es war bereits dunkel und zudem unfassbar glatt, daher kürzte ich meine Sportsession und sprang zuhause direkt unter die warme Dusche.
Das heiße Wasser wärmte mich von innen, da ich ziemlich durchgefroren gewesen war. Es tat unglaublich gut und einige Minuten stand ich nur so da und ließ das Wasser auf mich herab prasseln. Ich hatte mich ziemlich ausgepowert, auch wenn die Runde kürzer als sonst war.
Gebracht hatte meine Sporteinheit jedoch wenig, denn noch immer schwirrten tausend Fragen in meinem Kopf herum.
Aber zumindest wusste ich, was zu tun war. Mit einem Handtuch um die Hüften gebunden, ging ich in mein Wohnzimmer und setzte mich mit dem Kaffeebecher und meinem Handy bewaffnet auf meine Couch.
Ich machte es mir gemütlich und dachte noch einmal über Wyatt's Worte nach. Es nicht zu versuchen, wäre dumm. Niemals würde ich herausfinden, ob ich einen Schritt weiter gehen konnte. Und sie gefiel mir.
Warum also nicht?
Mein Blick fiel erneut auf das Bild von ihr und einen Moment lang starrte ich es melancholisch an.
„Es muss irgendwie weitergehen. Verstehst du das?"
Bevor ich es mir anders überlegte, stellte ich den Becher auf den Tisch und verfasste eine Nachricht auf meinem Handy ...
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