-4- Marlow
Der Abend sollte sich scheinbar noch zum Guten wenden, weil ich eine nette junge Frau kennengelernt hatte. Und was machte sie? Sie ergriff von jetzt auf gleich die Flucht vor mir.
„Hey! Ich weiß nicht mal deinen Namen!“, rief ich ihr hinterher, doch sie drehte sich nicht mehr um und verließ den Club.
Verdammt, hatte ich irgendetwas falsches gesagt?
Sie sah unfassbar hübsch aus. Ihre langen dunkelblonden Haare trug sie offen und sie wirkte so klein und zierlich, dass ich wirklich Angst hatte, sie würde sich etwas brechen, wäre sie gestolpert.
Mit ihren smaragdgrünen Augen, sah sie mich durch ihre dichten Wimpern an. Ich verlor mich geradezu in ihrem Blick und spürte, wie sich eine Gänsehaut auf meinem Körper ausbreitete. Doch vielleicht war es besser so, dass sie nun weg war. Mein schlechtes Gewissen war ohnehin riesengroß, weil ich sowas wie Gefallen an einer anderen Frau gefunden hatte.
Ausgerechnet heute.
Im vergangenen Jahr hatte ich natürlich die ein oder andere Frau getroffen. Es war auch mehr zwischen uns gelaufen, doch es war nur rein körperlich. Einfach und allein, um meine Bedürfnisse zu befriedigen. Nicht mehr und nicht weniger. Es waren nur One Night Stands, denn zu mehr fühlte ich mich einfach nicht bereit.
Auch wenn mir alle um mich herum versuchten einzubläuen, dass sie nicht gewollt hätte, dass ich einsam und alleine blieb. Natürlich hätte sie nicht gewollt, dass ich leide. Das wusste ich. Dafür kannte ich sie gut genug und für ihre herzensgute Art liebte ich sie. Andersherum wäre es genauso gewesen. Doch ich entschied selbst, wann ich es für richtig hielt, mich auf mehr einzulassen.
Und solange mein schlechtes Gewissen da war, hatte ich keine Chance.
Als Wyatt auf mich zugelaufen kam, stellte ich mein Bier auf einen Tisch und entschloss, dass es für heute reichte. Egal, was er nun versuchen würde, ich wollte nicht länger hier bleiben. Ich fühlte mich unwohl und irgendwie Fehl am Platz. Alle hatten gute Laune. Alle. Bis auf einer und das war meine Wenigkeit.
Er hätte sich auf den Kopf stellen können - mein Entschluss stand fest.
„Ich gehe.“
„Was? Jetzt schon?“
„Halt die Ohren steif, Kumpel.“
Widerwillig verabschiedete er sich mit einem brüderlichen Handschlag von mir, woraufhin ich mich nach draußen begab, um mich auf den Nachhauseweg zu machen. Ich wusste von vornherein, dass es ein Fehler war, heute rauszugehen. Hätte Wyatt mich einfach mal zuhause gelassen. Aber ich musste mich ja unbedingt von ihm breitschlagen lassen.
Vor der Tür sah ich mich nochmal nach der Kleinen um. Einfach nur um sicherzugehen, dass es ihr gut ging. Immerhin war sie so überstürzt abgehauen, dass ich fast an mir selbst zweifelte.
Hatte ich sie mit meiner Laune vergrault?
Hatte ich mein elendiges Selbstmitleid ausgestrahlt?
Vielleicht hatte sie auch einfach schlichtweg keine Lust, mit mir etwas zu trinken und nahm mein Angebot zur Wiedergutmachung aus reiner Höflichkeit an.
Im Endeffekt war es sowieso egal, denn sie war weg und ich würde sie nicht wieder sehen.
Nachdem mich ein Taxi nach Hause gefahren hatte, schüttete ich mir einen irischen Whiskey ein und schaute auf ein Foto an, welches auf dem Fenstersims stand.
Meine einstige große Liebe.
„Du fehlst mir, Süße!“
Es machte mich fertig, dass sie nicht mehr da war. Mein Herz zog sich schmerzlich zusammen. Das Atmen fiel mir schwer. Ich war über ihren Verlust zutiefst traurig, dass ich mich tatsächlich fragte, ob ich je wieder glücklich werden würde.
Und natürlich hatte ich keine Antwort darauf.
Verzweifelt griff ich nach einer Zigarettenschachtel, die schon monatelang offen herum lag, da ich nur in ganz seltenen Fällen mal eine Zigarette rauchte. Eben, wenn mir danach war - und jetzt war so ein Moment.
Also setzte ich mich bei offener Terrassentür auf den Boden, lehnte mich gegen die Wand und zündete die Kippe an. Der Wind tobte draußen, Schneeflocken wurden umher gewirbelt und landeten vor mir auf meinem Parkettboden.
Doch trotz der Kälte war es die reinste Wonne, diesen blauen Dunst zu inhalieren und ihn langsam wieder auszupusten. Es beruhigte mich gerade ungemein. Als könnte ich meine Sorgen einfach so wegblasen.
Wenn es mal so einfach gewesen wäre...
Nachdem ich die Zigarette zu Ende geraucht hatte und ich mittlerweile zu einem bibbernden Eisklotz mutiert war, schloss ich die Tür und sah nochmal auf das Foto. Mit meinem Daumen streichelte ich vorsichtig über ihr Gesicht und verzog mein Gesicht, vor lauter Selbstmitleid.
Was war ich nur für ein Häufchen Elend?
Ich wusste, dass es irgendwann weiter gehen musste, doch heute gestattete ich mir selbst, einfach mal zu trauern. Das ganze Jahr über war ich stark. Warum sollte ich ausgerechnet zu dieser Zeit nicht traurig sein dürfen?
Ich legte mich mit dem Bilderrahmen in mein Bett und verkroch mich unter meiner weichen Bettdecke. Doch an Schlaf war kaum zu denken. Immer wieder kreisten die Gedanken um diesen einen Tag, der mein Leben verändert hatte.
Hier sah mich niemand. Keine Mitarbeiter, dessen Vorgesetzter ich war.
Kein Wyatt, der versucht hätte, mich vom trauern abzuhalten.
Keine Mutter, die mich wie ein Häufchen elend ansah. Mitleidig und zutiefst bestürzt.
Nur ich. Und ich erlaubte mir in dieser Nacht, einfach meine Gefühle rauszulassen.
Am nächsten Morgen fühlte ich mich wieder um einiges besser, doch die Tatsache, dass es auf Weihnachten zuging, war nicht gerade hilfreich.
Das Fest der Liebe ... Und wo war meine Liebe? Sie war nicht mehr da.
Sie hatte mich verlassen. Einfach so.
Im letzten Jahr hatte ich Weihnachten ausfallen lassen, wofür jeder in meiner Familie natürlich Verständnis hatte. Doch in diesem Jahr hätten meine Mutter und mein Bruder es nicht zugelassen, dass ich es erneut ausfallen ließ.
Meine Mutter ging stark davon aus, dass wir drei bei ihr sitzen würden. Sie würde kochen, ihre Söhne verwöhnen und mit Geschenken überhäufen. Um uns glücklich zu machen, weil es sie wiederum glücklich machte. Und natürlich um mich abzulenken.
Doch für mich war die Vorstellung grauenvoll, einfach da zu sitzen und so zu tun, als würde es mir gut gehen. Besinnlich Weihnachten feiern. Denn so war es einfach nicht. Es war alles andere als besinnlich.
Fröhliche Weihnachten ... Dass ich nicht lache. Das würde es bei mir nicht geben. Nie wieder.
Ich hatte mir in letzter Zeit überlegt, ob es nicht besser wäre, wenn ich einfach eine Reise buchen würde. Weg. Weit weg. Einfach raus hier.
So würde mich wenigstens niemand stören und wer etwas dagegen hatte, hatte schlichtweg Pech gehabt. Immerhin war es mein Leben.
Da auch am Samstag in einer Bank gearbeitet werden musste - vor allem in der Weihnachtszeit - machte ich mich frühzeitig auf den Weg zu meiner Arbeitsstätte. Ich versank regelrecht in dem Papierkram und schaffte es doch tatsächlich, mich von allem abzulenken.
So sehr, dass ich aufschreckte, als es plötzlich an meiner Tür klopfte und Greta, meine Assistentin, ihren Kopf hindurch steckte. „Hier ist jemand für dich.“
„So? Wer denn?“, fragte ich, obwohl ich es mir schon denken konnte.
„Wyatt. Er fragt, ob du Zeit hast“, antwortete sie mit leuchtenden Augen. Ich kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie ein Auge auf ihn geworfen hatte.
Doch egal, was ich ihr jetzt geantwortet hätte, mein Bruder war hartnäckig und wäre so oder so herein gekommen. Schließlich nickte ich und Greta machte Platz, damit er herein kommen konnte.
Ich wusste genau, was er jetzt von mir wollte. Mein abrupter Abgang gestern, ließ ihn wahrscheinlich stutzig werden. Vermutlich war er vorher schon bei mir zuhause gewesen, um sicher zu gehen, dass ich nicht besoffen im Bett lag. Und weil er mich dort nicht fand, musste er natürlich nachschauen, ob ich ungeduscht auf der Arbeit erschienen war.
Letzteres war doch nur einmal vorgekommen. Ich verstehe seinen Aufriss überhaupt nicht?!
„Komm rein. Möchtest du Kaffee?“, fragte ich unschuldig, doch ich ließ ihm keine Zeit zu antworten und sah direkt zu meiner Assistentin.
„Machst du uns bitte zwei Kaffee?“
Während sie das Büro verließ, stellte sich Wyatt an das Panoramafenster, um auf die verschneite Stadt, die niemals schlief, zu schauen. Von dort aus hatte man eine grandiose Aussicht. Der hell strahlende Weihnachtsbaum, die bunten Lichter auf dem Weihnachtsmarkt, die vielen Menschen, die sich am Rockefeller Center wie eine Traube tummelten.
„Du warst gestern so schnell weg“, stellte er schmunzelnd fest. Den Blick dabei noch immer nach draußen gerichtet.
„Mir war nicht nach Feiern zumute. Das wusstest du ja von Anfang an“, erwiderte ich kühl und reserviert.
„Ich weiß. Trotzdem habe ich dich mit so 'ner kleinen Süßen gesehen.“
„Die hab ich scheinbar mit meiner Art vergrault. Es war wohl keine gute Idee, aber danke, dass du versucht hast, mich abzulenken.“
Mit fragendem Blick drehte er sich zu mir um und verschränkte seiner Arme vor seiner Brust.
„Hast du dir stattdessen die Kante gegeben und im Selbstmitleid gebadet?“
Warum wusste ich, dass das jetzt kommt?
„Nein, Wyatt! Lass gut sein. Es war ein Whiskey und eine Zigarette und da ich heute arbeiten muss, wollte ich ohnehin nicht lange bleiben“ rechtfertigte ich mich.
„Du bist quasi der Chef hier. Du hättest dir locker frei nehmen können. Hör zu, ich weiß, dass es eine schwere Zeit für dich ist, aber du musst mal nach vorne sehen.“
Sagte er ernsthaft, dass er wusste, was ich für eine schwere Zeit durchmachte? Niemand wusste, wie ich mich fühlte. Niemand!
Bei seinen harschen Worten, wütete ein Tornado in mir. Schlagartig weiteten sich meine Nasenflügel und ohne darüber nachzudenken, schlug ich mit meinen Fäusten kräftig auf meinen Schreibtisch.
Genau in diesem Moment, kam Greta herein. Die Tassen auf dem kleinen Tablett wackelten und so schnell es ging, verließ sie mein Büro wieder. Rückwärts.
„Was fällt dir ein, Wyatt? Ich sehe nach vorn, wann immer ich es für richtig halte! Ich trauere und wenn es dir nicht passt, dann lass mich gefälligst in Frieden. Du bist mein Bruder, verdammt. Unterstütze mich, in dem was ich tue und hör auf, mich ständig ablenken zu wollen. Es funktioniert nämlich nicht!“
Wyatt stand stumm da, während ich mir endlich Luft gemacht hatte. Dann bewegte er sich langsam zur Tür und berührte die Türklinke, bevor er sich nochmal kurz zu mir umdrehte.
„Tut mir leid.“
Und damit verschwand er. Verflucht. Ich wusste nicht, was mich geritten hatte, dass ich ihn so blöd angemacht hatte. Doch in dem Moment konnte ich mich einfach nicht mehr länger zurückhalten. Er hatte mich provoziert. Mich aus meiner Reserve gelockt und das kam eben dabei heraus.
Den restlichen Tag konnte ich mich auf nichts mehr konzentrieren und machte somit früher als geplant Feierabend. Viel länger hätte ich es da sowieso nicht mehr ausgehalten.
Als ich durch die frostige Kälte lief und dabei den Reißverschluss meiner Jacke weiter hoch zog, sah ich ein kleines schnuckeliges Café.
Sicherlich würde es nicht schaden, mich ein wenig aufzuwärmen. Zudem wollte ich jetzt einfach nicht nach Hause. Dort fiel mir am Ende sowieso nur die Decke auf den Kopf und wenn es ganz schlimm lief, sollte Wyatt recht behalten und ich würde immer mehr in mein altes Muster verfallen.
Von außen konnte ich erkennen, dass die Schlange endlos lang war, doch ich hatte Zeit und es war meistens ein gutes Zeichen dafür, dass der Kaffee schmeckte. Also ging ich hinein und war sofort von angenehmer Wärme und köstlichen Duft nach Kaffeebohnen und leckerem Gebäck umgeben.
Da es schon fast zu warm war, öffnete ich meine Jacke und sah mich dabei um. Das Café war süß. Kitschig. Na schön, man sah, dass es eine Frau eingerichtet hatte.
Was aber nicht bedeutete, dassnes nicht gemütlich war. Für meinen Geschmack war es etwas zu rosa, aber wer war ich schon, dass ich darüber urteilte? Wenn der Kaffee schmeckte, war alles andere sowieso hinfällig.
Als ich durch die lange Schlange zur Theke sah, musste ich doch tatsächlich zweimal hinsehen.
Sie war es. Zweifellos.
Die Schönheit von gestern Abend aus dem Club, die vor mir geflüchtet war.
Sie hob ihren Kopf, sah hoch zu mir und für einen Moment trafen sich unsere Blicke. Doch dann sah ich nur zu, wie sie sich umdrehte und wieder einmal flüchtete...
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