-30- Marlow
Überall im Central Park hatte ich sie gesucht. Mit Bailey zusammen, der nebenbei bemerkt, einfach super war. Unglaublich. Er hatte geschnüffelt, was das Zeug hielt und hatte mir den Weg gezeigt. Als wüsste er ganz genau, wo sie war. Ich wusste zwar, dass Hunde diese Gabe hatten, aber es in so einem Moment live zu erleben, war nochmal etwas ganz anderes.
Als ich jemanden von Weitem im Schnee liegen sah, wurde ich schneller. Denn irgendetwas in mir sagte mir, dass es Millie war.
Und tatsächlich hatte ich recht. Sie war es.
Millie saß ganz alleine im Schnee und weinte. Oh Gott, was hatte ich ihr nur angetan? Ich dachte, dass wir über den Tod von Cathy sprechen würden, sie Verständnis zeigen würde und vielleicht auch Mitleid mit mir haben würde. Doch scheinbar hatte das alles sie so sehr mitgenommen, dass sie nun vollkommen fertig in dem eiskalten Schnee saß und fror.
Ich wollte sie eigentlich zur Rede stellen und sie fragen, warum zum Teufel sie so reagiert hatte, doch nun waren wir scheinbar beide mit dieser Situation überfordert. Mitfühlend kniete ich mich zu ihr und tastete sie an ihrem Körper ab. Ging es ihr gut? Hatte sie sich verletzt? Was war passiert, dass sie so fertig war?
„Bist du verletzt? Ist alles gut bei dir?"
Doch von ihr kam absolut keine Reaktion. Sie wirkte total abwesend. Gedankenverloren. Als wäre sie nicht ganz da. Körperlich ja, aber psychisch schien sie in einer anderen Welt zu sein. Immer wieder hatte sie geschluchzt. Als ich sie aufforderte, mir zu antworten, nickte sie endlich. Auch wenn sie mich dabei nicht ansah.
Sie konnte mir nicht einmal mehr in die Augen sehen. Dabei fragte ich mich, womit ich das verdient hatte. Ich hatte doch nun wirklich genug Scheiße erlebt. Konnte sie nicht reagieren, wie jeder andere auch? Einfach über mein Schicksal traurig sein, mir sagen, dass es ihr leid tat und mich in den Arm nehmen?
Zugegeben, mir gingen alle auf die Nerven, die meinten, es mit der Fürsorge und dem Mitleid übertreiben zu müssen. Doch nun wünschte ich mir nichts sehnlicher, als diese völlig normale Reaktion ihrerseits. Welch eine Ironie des Schicksals.
„Was ist mit Bailey?", fragte sie plötzlich, woraufhin ich erleichtert durchatmete. Sie hatte mit mir gesprochen, was bedeutete: Sie hatte mich wahrgenommen.
„Keine Sorge, er ist hier", antwortete ich, um sie zu beruhigen und nahm sie direkt in den Arm. Millie kam mir so hilflos vor und obwohl sie mich heute verabscheut und wahrscheinlich mehrfach verflucht hatte, wehrte sie sich nicht gegen meine innigen Berührungen. Mir zeigte das allerdings, dass es ihr gerade wirklich nicht gutging. Die Millie, die ich kennengelernt hatte, hatte Power. Feuer im Hintern. Und nun war sie anders. Hilflos und verletzlich.
„Millie, du musst aufstehen", forderte ich sie auf. „Es ist kalt, komm schon."
„Das werde ich. Versprochen."
Sie war unglaublich süß, wenn sie so desorientiert war. Sie hatte mir versprochen aufzustehen und ich hatte gleich das Gefühl, dass wir uns gerade wieder annäherten. Ich half ihr hoch, während sie sich kurz sammelte und weiterhin in die Ferne sah. Dann schaute ich nach, ob sie verletzt war, doch es war nichts zu erkennen. Als sie von der Sonne geblendet wurde, kniff sie ihre Augen zusammen und wurde daraufhin urplötzlich panisch, was mir erneut Sorgen bereitete.
„Was? Wo ...?", rief sie.
„Was ist denn, Millie? Was ist los?"
Ich legte meine Hände auf ihre Schultern und versuchte, sie zum Gehen zu überreden. „Du musst dich aufwärmen. Lass uns gehen. Dann kannst du mir alles erzählen, in Ordnung?"
„Ich kann nicht ... Ich kann hier nicht weg, Marlow. Sie ..."
Sie ... Ich wusste, dass sie Cathy gemeint hatte. Es war rührend, dass sie so ergriffen war. In mir stieg die Hoffnung, dass es von nun an besser werden würde. Sie brauchte vielleicht einen Moment für sich. Einfach, um das Ganze zu verarbeiten. Immerhin hatte sie sich selbst lange mit dem Tod beschäftigt und vielleicht war das einfach ihre Art, mit dieser Situation umzugehen. Doch hier zu bleiben, kam nicht in Frage. Auf keinen Fall.
„Keine Widerrede. Entweder bringe ich dich nach Hause oder du kommst mit zu mir. Du musst dich aufwärmen."
Ihre Hose war mittlerweile klitschnass, ihre Lippen waren von der Kälte schon blau und sie war ganz blass im Gesicht. Ein Blinder hätte bemerkt, dass es ihr nicht gut ging. Sie war mit ihren Kräften am Ende. Vermutlich hatte sie sich körperlich überanstrengt und war einfach zu viel gerannt.
Sie schloss ihre Augen und als wäre es fast ein Dauerzustand bei ihr, liefen Tränen an ihrer Wange entlang. Ihre Augen waren dick, rot unterlaufen und man sah deutlich, dass es ihr schwer fiel, sie offen zu halten. Doch aus irgendeinem Grund zwang sie sich dazu und sah sich weiterhin im Park um.
„Was suchst du denn? Bailey ist hier. Neben uns."
Unser kleiner Freund war ganz brav und saß neben uns. Er musste geahnt haben, dass Millie mich jetzt gerade gebraucht hatte. Sie nickte, sah zu Bailey hinab und im gleichen Moment, legte ich meine Arme um ihren Rücken und zog sie an mich. Während sie ihre laufende Nase ununterbrochen hochzog, inhalierte ich ihren Duft und war einfach nur froh, sie noch einmal in meinen Armen halten zu können.
Ich streichelte über ihren Rücken und redete ihr weiterhin gut zu.
„Wir kriegen das hin, okay? Ich mein ... das Foto", stockte ich und hoffte, nicht die Wunden direkt wieder aufzureißen. „Ich kann es weghängen, wenn es dich zu sehr mitnimmt. Aber hör mir bitte zu und lerne mich kennen. So richtig. Bitte, Millie", flehte ich sie an, als wäre es das Wichtigste für mich auf dieser Welt und tatsächlich war es das auch. Sie war mir das Wichtigste.
„Nein", sagte sie plötzlich. Gleichzeitig zog sich mein Magen zusammen und mein Herz wurde in meiner Brust immer schwerer. Wollte sie uns wirklich keine Chance geben? Auch jetzt, wo sie die Wahrheit kannte?
„Nein? Du willst also ...", begann ich, doch sie unterbrach mich.
„Nein. Du musst das Bild nicht abhängen."
Zum ersten Mal in den letzten Minuten, hatte ich das Gefühl, dass sie bei klarem Verstand war. Diese Worte von ihr bedeuteten mir alles. Erleichtert atmete ich aus und gab ihr einen sanften Kuss auf ihr Haar, welches mittlerweile durch den Schnee durchnässt war. Sie zitterte immer noch und auch Bailey schien dies zu bemerken. Er drängte uns fast schon zum Gehen, weshalb ich ihm über seinen weichen Kopf wuschelte und leise lachte.
Mit Millie fest in meinem Arm und Bailey vor uns, der die ganze Zeit brav ohne Leine ging, machten wir uns auf den Weg in mein Apartment. Unterwegs redeten wir nicht. Es war okay, ich wollte ihr auch einfach Ruhe gönnen und vor allem musste sie erst einmal wieder zu Kräften kommen.
Als wir oben angekommen waren, half ich ihr dabei, ihre nassen Sachen auszuziehen. Dann legte ich eine wärmende Wolldecke über sie, nachdem sie sich auf meine Couch gelegt hatte. Bailey wich nicht von ihrer Seite. Das zu sehen, erwärmte mein Herz und ließ mich lächeln. Sie streichelte noch immer vollkommen verträumt und abwesend über sein Fell und doch schien es ihr wieder besser zu gehen.
Mit zwei Tassen Pfefferminztee setzte ich mich neben sie auf die Couch und strich fürsorglich eine Strähne hinter ihr Ohr, welche sich vor ihrem Gesicht verirrt hatte.
„Wie geht's dir jetzt?"
„Ich weiß es nicht."
„Sollen wir ins Krankenhaus? Nicht, dass du doch untersucht werden musst. Du hattest glaube ich eine ziemlich heftige Panikattacke", sagte ich leise, doch sie hob sofort ihren Kopf und sah mir in die Augen.
„Nein! Alles okay. Wirklich. Es geht mir gut, Marlow. Das ... Ich war nur ... etwas geschockt. Das ist alles", erklärte sie mit leiser, zittriger Stimme, woraufhin ich meine Hand in ihrem Haar vergrub und sie einfach einen Moment lang ansah. Ich war wirklich dankbar, dass es sie so mitgenommen hatte. Das zeigte mir einfach, dass ich ihr genauso viel bedeutete, wie sie mir.
Wir blieben beide still, denn ich wollte das Thema Cathy nicht direkt wieder ansprechen. Ich fand, sie musste sich erst noch ein wenig ausruhen. Besser war das ...
Sie schloss ihre Augen und genoss meine Streicheleinheiten scheinbar so sehr, dass sie kurze Zeit später auf meiner Couch einschlief. Mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht, hob ich sie hoch und trug sie in mein Bett. Dort war es um einiges gemütlicher, als auf dem Sofa. Und wenn sie vielleicht sogar mehrere Stunden am Stück schlief, dann sollte sie zumindest keine Rückenschmerzen bekommen. Sie hatte heute genug durchgemacht.
Ich beugte mich zu ihr und gab ihr einen zärtlichen Kuss auf die Stirn. Dann schloss ich die Schlafzimmertür und setzte mich zu Bailey. Er legte sofort seine Schnauze auf ein Bein und sah mich mit seinem treuen Blick an.
„Was für ein aufregender Tag, oder Kumpel?"
Mehrfach dachte ich heute, dass Bailey und ich uns nicht mehr sehen würden. Dass Millie mir nicht zuhören und nichts mehr mit mir zu tun haben wollte. Und doch war es anders gekommen, als angenommen. Was mich natürlich freute.
Da ich nicht wusste, wann Millie aufwachte und davon ausging, dass sie sicherlich Hunger haben würde, wenn sie aufwachte, stellte ich mich an den Herd. Während ich uns eine Kleinigkeit zubereitete, klingelte es an der Tür.
Bailey stand wieder einmal schwanzwedelnd davor, bevor ich den Türöffner betätigte und mich fragte, wer es war. Doch als sich kurz darauf die Fahrstuhltüren öffneten, sah ich Wyatt und schon fiel mir ein, dass wir verabredet waren. Ich selbst war es gewesen, der ihn hierher gebeten hatte.
„Shit! Wir waren verabredet", begrüßte ich ihn und rieb mir die Stirn.
„Was für eine nette Begrüßung", lachte er. „Was ist los? Hast du wen anders erwartet? Du hast doch unseren Männerabend nicht vergessen, oder?"
Er hob das Bier an und grinste, während er eine Pizzaschachtel in seiner anderen Hand hielt.
„Fuck, sorry. Ich hab's vergessen, Wyatt", entschuldigte ich mich bei ihm.
Doch er ging an mir vorbei, stellte die Sachen in die Küche und sah auf den Herd. „Pizza und irgendwas mit Nudeln. Passt doch."
Seufzend schloss ich die Tür und schaltete den Herd aus, als er bereits mit Bailey beschäftigt war und ihn freudig begrüßte.
„Also, was ist los?"
„Psst ...", erwiderte ich und dabei wusste ich nicht einmal, wieso ich ihn aufforderte, leiser zu sprechen. Ich wollte akribisch vermeiden, dass sie uns hören würde. Dieses Thema war einfach noch sensibel zu behandeln.
„Wieso? Ist sie hier?" Wyatt sah sich grinsend um und senkte seine Tonlage. „Ahhhh", schien ihm ein Licht aufzugehen. Mit einem stolzen Lachen, nahm er sich ein Bier und öffnete es mit einem herumliegenden Feuerzeug. „Verstehe. Sie ist hier und lass mich raten ... sie schläft in deinem Bett. Waren die letzten Stunden so anstrengend, ja?"
Bevor ich zu Wort kam, redete er weiter. „Jetzt verstehe ich auch, wieso du unseren Abend vergessen hast. Soll ich gehen? Stör ich euch?", fragte er und wackelte grinsend mit seinen Augenbrauen.
„Du verstehst das alles falsch", versuchte ich zu erklären. „Es ging ihr nicht so gut. Deswegen schläft sie."
„Wieso? Ist sie krank?"
„So in etwa." Ich atmete tief durch und zeigte auf den Kühlschrank. „Sie hat Cathys Foto entdeckt und hat eins und eins zusammengezählt. Sie ist heute Morgen abgehauen, als ich Brötchen holen war. Es gab ein riesiges Hin und Her und ich habe mehrfach versucht, es ihr zu erklären. Naja, das Ende vom Lied war, dass ich sie im Park gefunden habe. Im Schnee. Wy, es hat sie unglaublich mitgenommen. Das hätte ich überhaupt nicht gedacht. Sie war vollkommen fertig deswegen."
Er ließ das alles erst einmal sacken, griff nach einem Stück Pizza aus dem Karton und nahm einen Bissen.
„Ernsthaft?", hakte er mit vollem Mund nach.
„Ja."
„Naja ... Aber es ist dir doch passiert und nicht ihr. Wieso nimmt sie das so extrem mit?", wollte er wissen, doch ich hatte keine Antwort parat.
Aber es war mir auch egal. Vielleicht hatte sie einen schlechten Tag gehabt oder vielleicht hatte es sie einfach an ihre eigene Krankheit erinnert. Was Wyatt allerdings nicht wusste.
„Keine Ahnung. Ist doch egal. Sie hat geglaubt, wir wären zusammen und vermutlich war sie wegen den Küssen so verwirrt. Es war vermutlich einfach die Anspannung, die sich dann gelöst hat."
„Sicher? Nicht, dass sie ..."
Mit seinen Fingern machte er eine kreisende Bewegung an seinem Kopf, was darauf hindeuten sollte, dass sie vielleicht verrückt war. Gaga, um genau zu sein. Doch ich unterband es sofort.
„Spinnst du? Lass den Scheiß. Sie war einfach überfordert."
„Ja sorry. Ihre Reaktion überrascht mich einfach", sagte er, während mein Blick zur Seite wich und sich schlagartig ein schwerer Kloß in meinem Hals bildete.
„Millie!"
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