33 | BOB
Zwei Monate sind vergangen, seit Ivete mein Krankenzimmer verlassen und ich das letzte Mal etwas von ihr gehört habe. Zwei Monate, die sich anfühlen, wie ein ganzes Leben. Ich bin in dieser Zeit mehrere Phasen durchlaufen, in denen ich das, was passiert war, versuchte zu begreifen.
Nachdem ich eine Nacht darüber geschlafen hatte, kam die Phase der Verleugnung. Ich wollte nicht wahrhaben, dass sie einfach weg war. Ich weigerte mich einfach, diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Ich redete mir ein, dass sie einfach mit den Ereignissen zu kämpfen hatte und sich deshalb nur für kurze Zeit zurückziehen wollte. Ich erinnerte mich, dass sie gesagt hatte, sie müsse noch einige Dinge klären. Wahrscheinlich wollte sie mir nur keine Hoffnung machen, dass sie so schnell wie möglich nach L.A. zurückkehren würde, da sie ihre Rückkehr zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehen konnte.
Mit Justus' Hilfe hatte ich schnell ein neues Handy mit meiner alten Nummer. Und nachdem alle Daten synchronisiert waren, hatte ich auch wieder Zugang zu Ivetes Nummer. Aber sie hat auf keinen meiner Kontaktversuche reagiert. Weder auf Anrufe noch auf Nachrichten. Ständig schaute ich auf mein Handy, ließ es keine Sekunde aus den Augen und wartete auf eine Nachricht von ihr. Aber nichts kam.
Als ich nach Tagen endlich das Krankenhaus verlassen konnte, überredete ich Peter, mich zu Ivetes Wohnung zu fahren. Doch statt Ivete traf ich dort nur ihre Freundin Mae an, die anscheinend im selben Haus wohnte. Von ihr erfuhr ich, dass Ivete ihr Studium abgebrochen hatte und bereits ausgezogen war. Demnächst würde ein Umzugsunternehmen die Wohnung ausräumen und alles nach Brasilien schicken.
Die Information war der letzte Stoß in die nächste Phase: der Wut.
Ich war auf alles und jeden wütend. Vor allem auf Ivete, weil sie einfach verschwunden war, ohne ein klärendes Gespräch, ohne uns eine Chance zu geben. Ohne dem, was wir hatten, einen Sinn zu geben. Ich fühlte mich verraten und ausgenutzt, weil sie mich nach einer Nacht, nach all der Scheiße, die ich mitgemacht hatte, einfach sitzen ließ. Was war ich für sie? Nur ein netter Zeitvertreib? Oder hat sie mich in der Nacht ihrer Beichte belogen und es ging ihr letztendlich nur darum, über mich an unsere Ermittlungsergebnisse zu kommen?
Ich war gleichzeitig auch sauer auf mich. Warum zur Hölle hatte ich zugelassen, dass sie mir so schnell und so tief ans Herz gewachsen war? Warum ging mir ihr Verhalten so nah? Wie hatte ich nur so dumm sein können, mich überhaupt auf sie einzulassen?
Es hat Wochen gedauert, bis ich wieder einigermaßen klar im Kopf war. Die Uni hat einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, mich abzulenken, weil sie einen ziemlich großen Teil meiner Zeit in Anspruch nahm. Ich versuchte die zwei Wochen, in denen ich krankgeschrieben war, so gut wie möglich nachzuholen. Da blieb zum Glück wenig Zeit zum Grübeln. Und ansonsten nahmen mich Just und Peter in Beschlag. Peter schleppte mich oft mit zum Strand. Sport in jeglicher Form war mir lange nicht möglich, aber der Wind und das Rauschen der Wellen halfen, den Kopf freizubekommen. Und Justus machte sich einen Spaß daraus, unsere Abende entweder mit zocken oder alten Filmklassikern zu verplanen.
Die beiden hielten meine Launen mit einer stoischen Gelassenheit aus, die bewundernswert ist. Zumindest Justus. Peter hielt sich für seine Verhältnisse extrem zurück, aber immer mal wieder ließ er durchblicken, dass er Ivetes Verhalten unverzeihlich fand. Justus hat mir inzwischen von den Auseinandersetzungen der beiden erzählt und ein kleines bisschen bereue ich es, nicht dabei gewesen zu sein. Ansonsten versuchen meine beiden Freunde das Thema Ivete so gut es geht zu vermeiden. Genauso wie ich.
Der Fall ›Maya-Amulett‹ ist ansonsten abgeschlossen. Mrs Monet hat das wertvolle Kleinod zurückerhalten und sich überschwänglich bei uns bedankt. Raynor sitzt hinter Gittern und wartet auf seine Gerichtsverhandlung. Er bestreitet natürlich nach wie vor, dass er das Amulett gestohlen hat, aber die Indizien sprechen gegen ihn. Und selbst wenn er sich dort rauswinden könnte, was er mir angetan hat, kann er unmöglich leugnen.
Die Alpträume, die mir mein Aufenthalt in diesem Containerloch beschert haben, haben zum Glück nachgelassen. Die Gespräche mit dem Psychologen haben mir tatsächlich gut geholfen. Das ist also nicht mehr der Grund, warum ich immer noch schlecht schlafe, übermüdet aufstehe und mich durch den Tag schleppe und abends dennoch nicht einschlafen kann, weil das Gedankenkarussell sich unaufhörlich dreht.
Zwei Monate ... und ich frage mich so langsam, wie lange das noch gehen soll.
An diesem Abend liege ich auf meinem Bett und versuche, mich auf ein Buch zu konzentrieren. Ich hatte seit Ewigkeiten keines mehr in der Hand, abgesehen von Unilektüre. Mir fehlte schlichtweg die Konzentration, weswegen ich es gar nicht erst probiert habe. Aber diesmal bin ich fest entschlossen zumindest ein Kapitel zu lesen. Vier von neun Seiten habe ich bereits, als es an meiner Tür klopft. Ehe ich reagieren kann, wird sie bereits geöffnet.
»Was denn?«, frage ich ein wenig genervt, weil mich jemand aus meiner Konzentration reißt.
Justus steht in der Tür, sieht mich mit seinem Oberlehrerblick an und zeigt mit dem Finger auf mich.
»Mitkommen!«
Ich runzel die Stirn. Was soll das denn bitte? »Warum?«
»Keine Fragen stellen, sondern mitkommen!«, befielt er mir in einem Ton, für den ich ihm normalerweise einen Vogel gezeigt hätte. Aber ich bekomme weder eine Erklärung, noch die Gelegenheit, etwas zu erwidern, weil er sofort wieder weg ist.
Kopfschüttelnd sehe ich ihm hinterher und bin kurz davor, ihn zum Teufel zu schicken. Aber sein Verhalten macht mich gleichzeitig auch neugierig.
Also lege ich mein Buch weg und gehe ihm hinterher. Zumindest sollte ich die Gelegenheit nutzen, ihm die Meinung zu sagen. Er war ja schon immer ziemlich ›bossy‹, aber das ist selbst für ihn eine Spur zu krass.
Als ich Justs Zimmer betrete, fällt mir sofort Peter auf, der auf der Couch lümmelt, die Füße auf dem Tisch, das Handy vor der Nase, was er jedoch sofort runternimmt, als er mich sieht. Justus steht am Fenster. Beide haben offensichtlich auf mich gewartet.
»Hier bin ich«, ich breite die Arme aus und sehe Justus genervt an. »Und jetzt? Warum werde ich herbestellt, wie ein kleiner Schuljunge?«
Ein mir völlig fremdes Lachen, dass irgendwo rechts von mir ertönt, lässt mich kurz zusammenzucken. Erst jetzt bemerke ich, dass da ein Videocall läuft. Die Person, die auf einem von Justs Bildsschirmen zu sehen ist, ist eine Frau, deren Erscheinung mich überrascht blinzeln lässt. Nicht, weil ich sie kenne, sondern weil ich von ihrem Anblick ein wenig irritiert bin. Ich weiß nämlich nicht wirklich, welchem Detail ihres Aussehens ich zuerst Beachtung schenken soll. Da wären zum einen die vielen Piercings - Lippe, Augenbraue, Nasenflügel, mehrere in den Ohrläppchen. Dann sieht man den Ausläufer eines beeindruckenden Tatoos, dass sich an ihrem Hals entlang über ihr Dekolletee schlängelt und unter dem Stoff ihres Shirts verschwindet. Ihre Augen sind krass schwarz geschminkt, wodurch ihre dunkelbraune Iris stark betont wird. Aber am auffälligsten sind ihre Haare. Sie sind glatt und schulterlang. Am Ansatz sind sie pechschwarz, gehen von einem dunklen Lila hin zu einem leuchtenden Rosa an den Spitzen.
Die Frau, die ungefähr in unserem Alter sein müsste, lacht amüsiert. »Ich dachte erst, ihr übertreibt, aber die Stimmung ist ja wirklich genauso mies, wie hier vor Ort.«
Ich mustere sie. Irgendwie kommt sie mir bekannt vor. Was aber eigentlich nicht sein kann, denn so eine auffällige Person vergisst man nicht so leicht. Aber auch ihr leichter Akzent lässt irgendwas in mir klingeln. Dann lenke ich meine Aufmerksamkeit erneut auf die braunen Augen ... und endlich fällt der Groschen.
»Taís?«
Sie grinst und winkt in die Kamera. »Olá, homem bonito. Nett, dass wir uns endlich mal persönlich treffen.«
Ich runzel die Stirn und blicke zwischen ihr und meinen Freunden hin und her.
»Was ist das hier für ein konspiratives Treffen?«
»Wir nennen es liebevoll die Selbsthilfegruppe für WGs mit liebeskranken Mitbewohnern«, antwortet Peter und grinst mich an.
»Ziemlich sperriger Titel, wenn du mich fragst«, erwidere ich trocken, dann stutze ich. »Moment, heißt das, ihr habt euch schon häufiger getroffen?«
»Taís und Just fachsimpeln oder zocken regelmäßig miteinander, ich bin erst vor kurzem dazugekommen«, gibt er unumwunden zu.
Ich starre ihn sprachlos an, dann fällt mein Blick zu Justus, der ihn ruhig erwidert.
»Ich weiß, was du jetzt sagen willst«, kommt er mir zuvor, bevor ich die Worte in meinem Kopf formiert habe. »Ja, seit der Sache vor zwei Monaten haben Taís und ich Kontakt und nein, ich habe es dir absichtlich nicht gesagt. Du hast Ivetes Nummer und wenn sie mit dir hätte reden wollen, hätte sie auf deine unzähligen Nachrichten reagiert.«
»Der Kontakt über mich hätte dir auch nicht viel gebracht«, wirft jetzt Taís ein, »denn der Sturkopf, der sich meine Schwester nennt, wäre auch auf diesem Wege niemals drauf eingegangen.«
Die Information erstickt den winzigen Hoffnungschimmer, der vorsichtig um die Ecke schaut, sofort wieder im Keim.
»Und was mache ich dann jetzt hier?«, frage ich gereizt.
Drei Augenpaare sehen mich an und mich überkommt das Gefühl, etwas Wichtiges verpasst zu haben.
Peter stöhnt plötzlich. »Nun sag es schon, Erster!«
Justs Mundwinkel zucken. »Kollege, wir haben einen neuen Fall!«, verkündet er feierlich.
Entgeistert starre ich ihn an. »Häh?« Erst nach einigen Augenblicken beginne ich zu begreifen. »Wir ermitteln gegen Seay?«
»Korrekt!«, gibt Taís von sich. »Ich bin da auf einige sehr interessante Hinweise gestoßen, komme aber nicht weiter, da ich nicht vor Ort bin. Und hier kommt ihr ins Spiel.«
»Und was sagt Ivete dazu, dass wir ermitteln? Ich dachte, sie will keinen Kontakt?«
Taís zuckt mit den Schultern. »Für mich zählt das Ergebnis. Und Seay das Handwerk zu legen, steht immer noch auf der Prioritätenliste ganz oben. Außerdem solltest du bedenken, dass Ivete die Entscheidung, nach Hause zu kommen, nicht allein getroffen hat.«
Ich horche auf. »Wie meinst du das?«
Sie seufzt und scheint einen Augenblick nach den richtigen Worten zu suchen. »Sagen wir einfach, dass unser Vater einen nicht unerheblichen Anteil daran hatte. Ich habe ihm aber inzwischen klar gemacht, dass es ein Fehler gewesen ist.«
Die Information ist tatsächlich neu für mich und wirft Ivetes Verhalten in ein völlig neues Licht. Etwas, worüber ich dringend nachdenken muss.
Taís Gesichtsausdruck wird ernst und besorgt. »Sie hat sich völlig zurückgezogen und suhlt sich in ihrem Selbstmitleid. Ich habe sie noch nie so erlebt. Keiner kommt mehr wirklich an sie heran und kann sie aus diesem Loch hervorholen. Wir hatten die Hoffnung, dass du vielleicht zu ihr vordringen kannst.«
Ich räusper mich, um den plötzlichen Kloß in meinem Hals zu entfernen. »Und was bringt dich zu der Annahme, dass ausgerechnet ich Erfolg habe? Du hast doch gerade selbst gesagt, dass sie keinen Kontakt will.«
Sie winkt ab. »Nenn es Intuition. Ich glaube, du bist genau der Richtige dafür. Wir müssen es nur geschickt anstellen.«
»Gehört das auch zum Fall?«, hake ich nach.
Jetzt grinst sie wieder und dieses Grinsen erinnert mich so heftig an ihre Schwester, dass ich einen schmerzhaften Stich in der Brust verspüre.
»Nein, das ist eher On Top. Also? Interesse?«
Einen winzigen Augenblick zögere ich. Was, wenn sie mich wirklich nicht mehr sehen will? Wenn es endgültig aus ist zwischen uns? Aber dann schiebe ich alle Bedenken beiseite. Selbst wenn, das hier ist endlich die Chance, auf die ich seit Wochen warte. Eine Chance, mich mit ihr auszusprechen. Und wie auch immer das Ergebnis aussehen wird, diese Aussprache ist dringend notwendig.
Also lasse ich mich auf Justus' Schreibtischstuhl fallen und nicke. »Schieß los. Wie ist der Plan?«
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro