Inzwischen habe ich die richtige Straße erreicht. Es handelt sich um eine schmale Seitenstraße, fernab des Trubels der Hauptstraße. Rechts und links stehen niedrige Gebäude, in denen sich vermutlich Wohnungen oder kleine Geschäfte befinden. Ich sehe nur die Rückseite beziehungsweise die kleinen Hinterhöfe, auf denen vereinzelt Autos geparkt sind. Am Straßenrand stehen überquellende Mülltonnen, deren Inhalte teilweise über die Straße verteilt wurden. Definitiv kein Ort, an dem ich mich länger aufhalten möchte.
Zögernd betrete ich die Straße und behalte meine Umgebung weiterhin aufmerksam im Auge. Ich höre den Autoverkehr der Hauptstraße, Stimmen, Musik, die zu mir dringen. Aber im Grunde scheine ich allein zu sein. Zumindest sehe ich niemanden. Ob mich das eher beruhigt oder zusätzlich nervös macht, habe ich noch nicht entschieden. Nach ungefähr zweihundert Metern zeigt mir mein Handy an, dass ich das Ziel erreicht habe. Auf der linken Seite der Straße steht ein etwa zweistöckiges Haus, dessen Erdgeschoss nur aus Garage zu bestehen scheint. Rechts, direkt gegenüber, geht es in einen kleinen Innenhof, der als Parkplatz genutzt wird und zur Hälfte mit Autos voll steht. Daneben steht ein Wohnhaus, dem man sein Lebensende deutlich ansieht. Die Fassade ist an vielen Stellen schmutzig oder mit Graffitis beschmiert. Teilweise blättert sie ab. Fenster und Türen über zwei Stockwerke sind ebenfalls deutlich mitgenommen, schmutzig oder gar nicht mehr vorhanden.
Da muss ich dann wohl rein.
»Ivete?«, ertönt plötzlich eine Stimme aus den Kopfhörern.
Ich gebe lediglich ein leises Brummen von mir, was Peter Bestätigung genug zu sein scheint.
»Taís hat mir erzählt, wo du hinsollst. Das gefällt mir nicht. Bleib, wo du bist! Ich bin gleich bei dir.«
»Ich denke nicht, dass wir beide zusammen gesehen werden sollten«, gebe ich nun doch zurück, den Kopf gesenkt, damit meine Mundbewegung nicht auffällt.
»Lieber das, als du allein mit diesem skrupellosen Arschloch!«
Irgendetwas in seiner Stimme lässt mich hellhörig werden. Eine unbändige Wut schwingt mit, die vorher nicht dagewesen ist. Was ist passiert? Es kann ja eigentlich nur eines bedeuten.
»Ist mit Bob alles in Ordnung?«
Peter schweigt einen Atemzug, dann höre ich ihn tief seufzen. »Er wird schon wieder. Mach dir keine Sorgen.«
Wut steigt in mir auf, weil ich offenbar etwas Entscheidendes übersehen habe und mich niemand aufklären will. Was soll das? Glaubt jetzt plötzlich jeder, ich würde aufhören zu denken, sobald ich erfahre, wie es wirklich um ihn steht? Oder ist das ein Versuch, mich von ihm fernzuhalten? Eine Retourkutsche dafür, dass ich ihn in diese Schwierigkeiten gebracht habe?
Ich schlucke den bissigen Kommentar herunter, der mir auf der Zunge liegt. Wie gern würde ich Peter jetzt meine Meinung sagen und das mit ihm klären, was auch immer er gegen mich hat. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass Raynor mich beobachtet. Selbstgespräche würde er mir sicher nicht abkaufen.
Ich sehe mich ein letztes Mal um, dann stecke ich mein Handy etwas zu umständlich in meine Tasche zurück und beuge dabei den Kopf soweit, dass ich unbemerkt sprechen kann.
»Ich kann nicht mehr warten«, informiere ich alle, die gerade mithören. »Ich habe Raynor im ersten Stock am Fenster gesehen und gehe jetzt rein.«
Das ist eine Lüge, aber ich will das hier beenden. Je schneller desto besser. Ob Peter jetzt da ist, ist mir inzwischen ziemlich schnuppe. Ich schaffe das auch ohne Rückendeckung!
Wie erhofft vernehme ich keine Einwände mehr, auch wenn ich ein dunkles Knurren zu hören glaube. Meine Schwester knurrt nicht, sonst ist aktuell keiner in der Leitung, also muss es von Peter kommen.
»Tenha cuidado!«, sagt Taís leise. Sei vorsichtig!
Drinnen erwartet mich ein Chaos, dass mich nicht sonderlich überrascht. Bauschutt und Dreck liegen auf dem Boden und machen das Treten etwas schwierig. Lautloses Anschleichen wird damit fast unmöglich. Sollte Raynor mich noch nicht bemerkt haben, jetzt wird er es mit ziemlicher Sicherheit.
Ich habe keine Ahnung, wo er mich empfangen wird, also bleibt mir nichts anderes übrig, als jedes Stockwerk einzeln durchzugehen. Das Erdgeschoss und der erste Stock sehen beide fast identisch aus. Leer, bis auf einen Haufen Bauschutt, Unrat und Dreck. Auf jeder Etage scheint es sechs Wohnungen zu geben, jeweils drei auf jeder Seite des Flurs. Teilweise sind die Türen der ehemaligen Wohnungen offen, manche sind fest verschlossen - vielleicht auch einfach nur verzogen und kaputt und deshalb nicht mehr zu öffnen. In mindestens zwei Wohnungen haben sich Obdachlose niedergelassen. Aktuell begegne ich niemandem, aber die provisorischen Schlafplätze sind unübersehbar.
Auch im zweiten Stock zeigt sich das gleiche Bild. Von den sechs Türen sind lediglich zwei angelehnt. Ausgerechnet die hinteren beiden. Es gefällt mir ganz und gar nicht, dass ich mich noch tiefer in dieses Haus begeben muss. Damit werden alle Fluchtwege nur noch schwieriger. Außerdem macht es mich nervös, dass ich bisher keine Spur von Raynor bemerkt habe. Ist er überhaupt da? Bin ich am richtigen Ort? Oder will er mich hier verarschen?
In der linken Wohnung begegnet mir nichts, was ich nicht schon gesehen hätte. Ich scanne die Räume schnell ab und trete dann ans Fenster heran, um nach draußen zu schauen.
Wartet er vielleicht auf der Straße auf mich? Aber auch dort kann ich nichts auffälliges entdecken. Ein Auto fährt vorbei, bleibt aber nicht stehen und ist bald schon wieder um die Ecke verschwunden. Ansonsten ist niemand in diesem Teil der Stadt unterwegs.
Ein leises Geräusch lässt mich herumfahren und mein Herz setzt einen Schlag aus, als ich sehe, wer da steht.
Raynor lehnt mit verschränkten Armen an der Eingangstür der Wohnung und versperrt mir damit unweigerlich den Fluchtweg. Genau das, was ich vermeiden wollte. Er kann nicht hinter mir die Treppe hinaufgekommen sein. Das hätte ich durch den Müll auf dem Boden gehört. Vermutlich hat er sich in der Wohnung verborgen, die ich mir noch nicht angesehen hatte.
Ich straffe die Schultern und richte mich auf. Auf gar keinen Fall will ich ihm jetzt zeigen, wie nervös mich die Situation macht.
»Hallo«, sage ich mit fester Stimme.
Er sieht mich weiter schweigend und abschätzend an. Zumindest bekomme ich ein winziges Nicken.
»Sie sind also das Arschloch, dass mich verkaufen will?«
Seine Augenbraue wandert nach oben und seine Mundwinkel zucken. Dass er sonst keine Reaktion zeigt, mich aber weiterhin intensiv mustert, macht mich nervöser, als mir lieb ist. Normalerweise bin ich da souveräner. Wo ist meine Selbstsicherheit hin?
»Nett haben Sie es hier«, provoziere ich ihn, um ihn aus der Reserve zu locken. Ich lasse den Blick schweifen und rümpfe ein wenig die Nase. »Ich hätte aber erwartet, dass Sie sich mit Ihrem Gehalt bei Mrs Monet etwas mehr leisten können.«
»Wird ja nicht jeder mit dem goldenen Löffel im Schnabel geboren«, antwortet er endlich. Seine Stimme ist dunkel und rau.
Ich lächel nur schwach.
»Warum diese Schnitzeljagd?«, frage ich ihn. »Wäre es nicht einfacher und schneller gewesen, wenn wir alles gleich am Pier erledigt hätten?«
Er kneift die Augen zusammen und schüttelt den Kopf. »Eine Vorsichtsmaßnahme, um sicher zu gehen, dass sie allein sind, meine Liebe.«
»Ich bin nicht ›Ihre Liebe‹. Und natürlich bin ich allein. Wer sollte auch sonst dabei sein?«
Er zuckt mit den Schultern. »Zum Beispiel die werten Kollegen ihres Freundes?«
Ich lache auf. »Warum sollte ich gemeinsame Sache mit Schnüfflern machen?«
»Immerhin gehen Sie mit einem von ihnen ins Bett«, kontert er.
Ich schweige, aber dass seine Mundwinkel weiterhin zucken, ärgert mich maßlos.
»Wo ist er? Wie geht es ihm?«
»Noch geht es ihm gut«, antwortet Raynor. »Wenn Sie meine Anweisungen weiterhin befolgen, bleibt das auch so. Ich muss gestehen, ich bin ein wenig überrascht, wie leicht es dann doch war, den Urutau in die Falle zu locken.«
»Haben Sie das? Was macht Sie da so sicher?«
Er lacht ein dunkles, gefährliches Lachen, das von Selbstüberschätzung zeugt. »Oh, ich weiß es einfach.«
»Sie wissen gar nichts!«
»Ich habe sogar das Gefühl, Sie ziemlich fest an den - Pardon - Eiern zu haben.«
Oh, wie gern würde ich ihm jetzt die Meinung geigen und ihm verdeutlichen, wer hier wen an den Eiern hat! Aber ich belasse es dabei, meine Augenbrauen arrogant hochzuziehen.
»Wie können Sie sich sicher sein, dass ich habe, was Sie wollen?«
Raynor legt den Kopf schief. »Hören Sie auf mit den Spielchen. Ich weiß, dass Sie der Urutau sind. Außerdem sind Sie hier. Das ist mir Zugeständnis genug.«
»Hat Bob Ihnen das gesteckt?«
Er seufzt tief. »Bedauerlicherweise nicht. Sie haben ihm offenbar nicht verraten, wer Sie sind. Vermutlich haben Sie sich eh nur an ihn rangemacht, um die Ermittlungsergebnisse zu erfahren, oder?«
Einerseits beruhigen mich seine Worte. Gleichzeitig macht mich sein Vorwurf, ich hätte Bob nur benutzt, rasend. Er deutet mein Schweigen und meinen finsteren Blick als Eingeständnis und zeigt mir ein süffisantes Grinsen, dass ich ihm liebend gern aus dem Gesicht wischen würde.
»Woher kennen Sie den Urutau?«
Er mustert mich und scheint zu überlegen, ob die Frage eine Antwort wert ist. Ich rechen schon kaum noch mit einer Antwort und bin überrascht, als doch eine sehr ausführliche folgt. »Ich habe schon vor Jahren mit ihm zu tun gehabt. Damals hatte ich gerade die Ausbildung abgeschlossen und meinen ersten Job angetreten. Der Urutau hat mich an der Nase herumgeführt und eine Statue verschwinden lassen. Ich habe daraufhin den Job verloren.« Er kneift die Augen zusammen und mustert mich. »Sie können es nicht gewesen sein, dafür sind Sie zu jung. Außerdem bin ich mir ziemlich sicher, dass es ein Mann war. Jahrelang habe ich nachgeforscht und habe doch nie Erfolgt gehabt.«
»Und woher kommt diese plötzliche Sicherheit, dass ich der Urutau bin? Wenn ich es doch damals gar nicht hätte sein können? Wann war das überhaupt?«
»Vor 15 Jahren in Houston. Und woher ich weiß, dass Sie der Dieb sind?« Er legt den Kopf schief. »Ich habe Sie beobachtet.«
Ich erstarre. »Wie bitte?«
Sein Grinsen wird breiter und bösartiger. »Überrascht? Zugegeben, es war eher Zufall. Ich habe beobachtet, wie Sie aus dem Flur, in dem der Ausstellungsraum liegt, kamen.«
»Natürlich war ich dort. Mrs Monet hat mir das Verkaufsobjekt gezeigt.«
Er schüttelt den Kopf. »Nein, Sie waren allein. Ich habe daraufhin den Ausstellungsraum kontrolliert und den Diebstahl festgestellt.«
Ich hebe die Augenbrauen. »Das ist alles?«
»Nein. Ihr Nachname hat Sie endgültig verraten. Der kam gleich bekannt vor. Auch bei dem damaligen Einbruch hatte es im Vorfeld eine Veranstaltung gegeben, bei dem ein Gast mit dem gleichen Nachnamen teilgenommen hat. Ihr Vater.«
Scheinbar gelangweilt verschränke ich die Arme vor der Brust. »Sehr erhellende Ausführungen. Wenn Sie sich so sicher waren, warum haben Sie mich dann nicht gleich festgesetzt?«
»Sagen wir, dass es für mich ein größerer Vorteil war, Sie laufen zu lassen.«
»Das ist kein ›Beweis‹, was Sie da haben.«
»Da haben Sie Recht. Aber mir reichte das als Hinweis. Ich bin mir sehr sicher, dass es weitere solche ›Zufälle‹ gibt, wenn man nur etwas tiefer gräbt. Vermutlich ist das Ihre Masche. Erst die Lage vor Ort sondieren, dann zuschlagen. Habe ich Recht?«
Ich lache auf. »Sie glauben doch nicht, dass Sie darauf eine Antwort bekommen?«
»Wie auch immer. Ich habe Sie daraufhin weiter beobachtet. Und gesehen, wie Sie mit einem der drei Detektive turteln. Sie geben wirklich ein bezauberndes Paar ab.«
Ich schlucke die bittere Galle mühsam hinunter, die mir die Kehle hinaufsteigt. Warum habe ich nicht bemerkt, dass wir beobachtet wurden?
»Wie geht es nun weiter?«, frage ich. »Ich gebe Ihnen, was Sie wollen? Sie sagen mir, wo Bob zu finden ist und wir gehen friedlich unserer Wege und laufen uns hoffentlich nie wieder über den Weg?«
Raynor sieht mich einige Augenblicke mit einem undeutbaren Blick an, dann greift er plötzlich hinter sich und zieht eine Waffe.
Unwillkürlich muss ich schlucken. Mein Herz bleibt einen Augenblick stehen, nur um dann in doppelter Geschwindigkeit weiterzuschlagen.
Ich stecke in noch größeren Schwierigkeiten, als ich bisher geahnt habe!
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