26 | BOB
Die Geräusche, die ich diesmal höre, sind anders und lassen mich aufhorchen. Ich weiß sofort, dass es nicht Raynor sein kann. Zum einen habe ich keinen Motor gehört. Und zum anderen sind sie leise. Sehr leise. Da sie sich aber deutlich von der Geräuschkulisse unterscheiden, der ich jetzt seit Stunden ausgesetzt bin, fallen sie mir sofort auf. Raynor ist nie leise gewesen, weil er dafür vermutlich keine Notwendigkeit gesehen hat.
Es ist ein leises Klingeln oder Klimpern, dann kratzt etwas am Tor. Und dann ist plötzlich erstmal alles wieder still, bis das Tor mit einem lauten Knarren geöffnet wird. Licht flutet ins Innere und auch wenn ich darauf vorbereitet bin, sticht die plötzliche Helligkeit fast schon schmerzhaft in meinen Augen.
Ich sehe absolut gar nichts und wage kaum daran zu denken geschweige denn zu hoffen, wer sich Zutritt zu meinem Gefängnis verschafft. Aber als ich dann endlich die mir so vertrauten Stimmen höre, durchströmt mich die Erleichterung.
»Bob!«
Ich schnappe nach Luft, weil ich unbewusst das Atmen eingestellt habe und öffne blinzelnd die Augen. Da stehen sie und ich kann mich nicht daran erinnern, jemals so froh gewesen zu sein, sie zu sehen.
»Himmel, siehst du Scheiße aus!«, begrüßt mich Peter.
»Ich hab dich auch vermisst. Ihr habt euch ganz schön viel Zeit gelassen, Kollegen.«
Er eilt herbei, ohne auf meine Stichelei einzugehen und verschwindet hinter meinem Rücken. Sofort spüre ich, wie er sich an den Fesseln zu schaffen macht.
Auch Justus tritt näher und kümmert sich um die Fesseln an meinen Beinen. Trotz des Lichts in seinem Rücken, das durch das offene Tor dringt und mich blendet, kann ich seine besorgte Musterung sehen.
»Was ist passiert?«, fragt er. Er scannt mein Gesicht regelrecht ab. Seinem Gesichtsausdruck nach muss es schlimm sein.
»Wonach sieht es denn aus?«, gebe ich gepresst von mir. »Der Mistkerl hat versucht, Informationen aus mir herauszuprügeln.«
»Über Ivetes Familie?« Das klingt irgendwie mehr wie eine Aussage, als nach einer Frage.
Ich nicke.
»Und?«, hakt Peter nach. »War er erfolgreich?«
Ich hätte ihm gern meinen ätzendsten Blick zugeworfen, aber dazu bin ich gerade nicht in der Lage. »Würde ich sonst so aussehen?«
Peter und Justus wechseln einen Blick miteinander. Und irgendwie wirken meine beiden Freunde seltsam beruhigt. Aber bevor ich die Chance habe, nachzufragen, sind meine Arme plötzlich frei. Im ersten Moment tut es ziemlich weh, als das Blut wieder ohne Hindernis zirkulieren kann. Ich gebe ein leises, schmerzhaftes Ächzen von mir, als ich die Gelenke nach Stunden wieder bewegen kann.
Dann hält mir Peter die Hand hin.
»Hoch mit dir und dann nichts wie raus aus dieser gemütlichen Unterkunft. Schaffst du das?«
»Jo, ich schaffe das.«
Meine Bestätigung klingt schwächer, als mir lieb ist. Ich greife nach seiner Hand. Peter zieht mich auf die Beine und ich komme mehr schlecht als recht zum Stehen. Irgendwie schwankt alles ziemlich. Haben wir gerade ein Erdbeben oder warum wackelt der Boden so? Ist der Container vielleicht schon auf ein Schiff verladen worden? Und woher kommt plötzlich dieses laute Rauschen in meinen Ohren, dass alles andere übertönt?
Ehe ich begreife, was passiert ist, fährt ein stechender Schmerz durch meine Seite und ich registriere verwundert, dass ich am Boden liege. Die Gesichter meiner beiden Freunde sehen nun noch besorgter auf mich herab.
»Alles gut, Kollegen«, murmel ich. »Ich brauch nur noch einen Moment.«
Scheiße ist mir schwindelig. Und mein Kopf bringt mich gleich um. So hab ich mich bisher erst ein einziges Mal gefühlt und da war ziemlich viel Alkohol im Spiel gewesen. Damals war das irgendwie witziger, als das hier.
Irgendjemand zieht mich ins Sitzen. Eine Hand fuchtelt vor meinem Gesicht herum.
»Wie viele Finger siehst du?«, fragt mich Justus.
Ich blinzel und versuche mich zu konzentrieren, was bei den Kopfschmerzen gar nicht so einfach ist. »Drei? Verdammt, Just, ich hab meine Brille nicht auf. Du weißt, dass ich da halb blind bin.« Das ist nur die halbe Wahrheit. Eine leise Stimme in mir flüstert, dass ich die Finger eigentlich auch ohne Brille hätte sehen müssen. Aber ich verdränge sie.
Ohne sein Rätsel aufzulösen, lässt Justus die Hand wieder sinken und sieht wieder zu Peter, der hinter mir steht und mich stützt.
»Okay, Planänderung. Du bringst uns zur Straße und fährst dann weiter zu Ivete. Ich schnappe mir ein Taxi und bringe ihn ins Krankenhaus.« Er greift sich ans Ohr, was mich ziemlich irritiert. Erstrecht, als er plötzlich zu sprechen beginnt. »Taís? Kannst du uns ein Taxi bestellen? Wir müssen Bob ins Krankenhaus bringen.«
Wer zur Hölle ist Taís?
Justus lauscht seinem unsichtbaren Gesprächspartner und nickt dann zufrieden. »Sehr gut. Danke!«
Ohne Vorwarnung packt mich Peter plötzlich unter den Achseln und zerrt mich wieder hoch.
»Langsam, langsam!«, beschwere ich mich.
»Ruhe! Du hast genau zwei Möglichkeiten: Entweder reißt du dich zusammen und läufst, mit meiner Unterstützung. Oder ich trage dich bis zum Taxi.«
Bloß nicht!
»Wer ist Taís?«, frage ich, statt auf Peters Wahlmöglichkeiten zu antworten.
»Ivetes Schwester.«
»Wo ist Ivete?«
»Unterwegs zur Übergabe. Bei der werde ich übrigens auch gebraucht. Also, was ist jetzt? Können wir?«
Warum spricht Peter in diesem genervten Tonfall mit mir, den er eigentlich nur für besonders lästige Personen reserviert hat?
»Ich will mit.«
Peter lacht.
Justus verdreht die Augen und schüttelt den Kopf. »Vergiss das mal ganz schnell wieder, Dritter.«
Ich öffne den Mund, um etwas zu erwidern, aber heraus kommt lediglich ein überraschter Aufschrei, als Peter mich kurzerhand hochhebt und ich plötzlich quer über seinen Schultern liege. Meine Rippen protestieren schmerzhaft und würden durch die plötzliche Bewegung nicht Kopfschmerzen und Schwindel wieder stärker werden, ich würde vor Scham im Boden versinken. So hab ich aber genug damit zu tun, nicht das Bewusstsein zu verlieren. Oder ihm über den Rücken zu kotzen.
Wir verlassen meinen beschaulichen Aufenthaltsort der letzten Stunden und ich muss die Augen schließen, weil die Helligkeit mich blendet.
Es ist vorbei. Das wird mir mit einem Mal gänzlich bewusst. Und mit der Erkenntnis fällt auch plötzlich jegliche Anspannung von mir ab. Ich hab keine Ahnung, wohin Peter mich trägt, weil ich einfach die Augen geschlossen halte und es über mich ergehen lasse. Er wird schon wissen, was er tut. Und sollte uns doch noch jemand mit bösen Absichten entgegen kommen, werden meine beiden Kollegen uns schon aus der Situation manövrieren.
Vielleicht bin ich zwischendurch auch mal kurz weggetreten. Nach einer Weile spüre ich Finger an meinem Hals, die vermutlich nach meinem Puls tasten.
»Keine Sorge, ich bin noch da«, murmele ich.
»Gut«, antwortet Justus lediglich. Aber die Erleichterung klingt deutlich aus seinen Worten.
»Achtung, ich lass dich jetzt runter.«
Peter ist extrem vorsichtig und dennoch überkommt mich eine Schmerzwelle, die mir kurzzeitig den Atem raubt. Blinzelnd öffne ich die Augen und erkenne, dass ich an einem Zaun hocke. Dahinter Schiffscontainer soweit das Auge reicht, vor uns eine einsame Straße, an deren Rand Peters MG parkt. Ich registriere außerdem, dass die Sonne schon ziemlich tief steht. Es muss also später Nachmittag oder früher Abend sein.
Justus hält mir meine Brille hin, die ich dankbar aufsetze. Endlich sehe ich wieder was ... theoretisch zumindest. Praktisch ist mein Sichtfeld ganz seltsam eingeschränkt und ich sehe weiterhin leicht verschwommen.
Peter wendet sich an Justus. »Ihr kommt klar?«
Justus nickt, auch wenn er nicht überzeugt aussieht. »Schau, dass du wegkommst. Wir kriegen das schon hin. Ich komme dann nach, sobald ich unseren Invaliden versorgt hab.«
»Ich bin immer noch hier und kann euch hören«, maule ich. »Und ich will auch mit. Ich muss zu Ivete.«
»Klar«, sagt Peter trocken. »Dann mal hoch mit dir! Wer zuerst am Wagen ist, darf fahren.«
»Arsch!«
Peter wirft mir eine Kusshand zu, dreht sich kommentarlos um und sprintet zum MG. Mit quietschenden Reifen braust er davon.
»Was meintest du mit Planänderung?«, frage ich Justus, als der MG verschwunden ist. »Was war der eigentliche Plan?«
Justus seufzt tief, während er in seinem Rucksack herumkramt und mir plötzlich eine Flasche Wasser und einen Energieriegel hinhält. Ich merke erst jetzt, wie durstig und hungrig ich bin. Die Schmerzen und die ganze Anspannung haben mich erfolgreich davon abgelenkt. In weiser Voraussicht hat er mir den Deckel der Flasche bereits geöffnet. Ich halte sie mir an die Lippen und genieße, wie mir das Wasser die ausgetrocknete Kehle hinunterläuft. Am liebsten hätte ich sie komplett leer getrunken, aber mein Magen rebelliert eh schon. Also beschränke ich mich auf viele kleine Schlucke. Bei dem Riegel bin ich hingegen weniger geduldig.
»Der Plan war, dass wir alle zum Übergabeort fahren. Aber dein Gesundheitszustand lässt das nur bedingt zu.«
Ich will protestieren, aber ein Blick in sein Gesicht verrät mir, dass es wohl besser ist, wenn ich die Klappe halte.
»Wie lange war ich weg?«, frage ich stattdessen.
Justus lässt sich neben mir nieder und faltet die Arme über die Knie. »Schätzungsweise 36 Stunden.«
Verdammt! Doch soviel? »Und was ist passiert? Wie habt ihr Ivete getroffen?«
»Sie ist nach dem ersten Anruf zu uns gekommen und hat uns alles erzählt.«
Erstaunt sehe ich ihn an. Diese Erklärung hat so viele Lücken, wie ein Schweizer Käse. »Einfach so?«
Sein Schulterzucken ist keine wirkliche Antwort auf meine Frage und verrät mir doch einiges. Natürlich nicht einfach so. Ich kann mir ungefähr vorstellen, wie Justus sie auseinandergenommen hat.
»Was hat sie euch erzählt?«
»Alles«, antwortet er. »Von ihrem Vater, dem Urutau und ihren Motiven für die Diebstähle. Außerdem habe ich mit Carolin Diaz sprechen können.«
Die Information lässt mich unbewusst aufatmen. Ein Problem weniger, dem ich mich stellen muss.
Als wir ein Motorengeräusch hören, setzt mein Herzschlag einen Augenblick aus und ich werde nervös. Just bemerkt, wie ich weiter zurück rutsche und mich versuche hinter ihm zu verstecken. Stirnrunzelnd wirft er mir einen Blick über die Schulter zu, kommentiert es aber nicht. Wofür ich ihm sehr dankbar bin. Die Stunden in dem Container und in Raynors Gesellschaft haben definitiv Spuren hinterlassen. Aber darüber will ich jetzt gerade in diesem Moment nicht sprechen.
Doch es ist nicht Raynor, sondern nur das angeforderte Taxi, das um die Ecke biegt und auf Justs Winken hin auf uns zu fährt.
Der Fahrer weigert sich erst uns mitzunehmen, nachdem er mich gesehen hat. Aber Justus kann ihn erfolgreich überzeugen, dass keine Gefahr von uns ausgeht und die Polizei bereits informiert ist.
Das irgendwie jeder von meinem Allgemeinzustand schockiert ist, sollte mir zu denken geben. Aber ich bin viel zu fertig. Kaum sinke ich in die weichen Polster auf der Rückbank, fallen mir die Augen zu. Ich bekomme noch mit, welches Ziel Justus dem Fahrer nennt, dann bin ich wieder weg.
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Na, wer erkennt, welches Hörspiel sich im dieses Kapitel geschlichen hat? :D
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