16 | BOB
Ausgerechnet heute hat der Wettergott beschlossen, der sengenden Hitze der letzten Tage ein Ende zu bereiten. Noch hat es nicht zu regnen begonnen, aber die Luft ist schwül und drückend und man spürt das nahende Gewitter immer näher kommen. Es passt perfekt zu meiner aktuellen Stimmung.
Ich habe Ivete tatsächlich erreichen können. Sie ist gerade mit ihrer letzten Vorlesung fertig und ich mache mit ihr einen Treffpunkt südlich des Campus aus. In meiner Rage bin ich natürlich viel zu schnell am Ziel. Mit nervös wippenden Knien sitze ich auf einer Bank in der Nähe unseres Treffpunktes. Mein Blick irrt unstet umher, weil ich keine Ahnung habe, aus welcher Richtung Ivete kommt. Vermutlich wirke ich ein wenig seltsam, wie ich hier sitze, sichtlich nervös und kaum in der Lage eine Sekunde stillzusitzen. Von einigen der Wartenden an der nahen Bushaltestelle ernte ich tatsächlich seltsame Blicke.
Als der Bus kommt und alle Fahrgäste mitnimmt, taucht plötzlich auch das silberne Cabriolet auf. Und pünktlich zu Ivetes Auftauchen, fallen die ersten Regentropfen.
Sie steigt aus, wirft einen missbilligenden Blick in den Himmel und hebt eine Hand mit der Handfläche nach oben. Dann verzieht sie das Gesicht, verschließt das Auto und eilt auf mich zu. Der Rock ihres dunkelblauen Sommerkleides umspielt ihre Beine. Das Oberteil schmiegt sich an ihren schlanken Körper und betont ihre Figur. Der Stoff ist bereits auf der kurzen Strecke mit lauter dunkleren Punkten übersäht, weil der Regen immer stärker wird.
»Das ist nicht wirklich das perfekte Wetter für ein Date«, sagt sie, greift nach meinem Arm und zieht mich in Richtung Bushaltestelle, unter der wir uns unterstellen können. »Wo ist der kalifornische Sommer, wenn man ihn braucht?«
Dass ich nichts antworte, lässt sie verwundert aufblicken und erst jetzt scheint sie meinen emotionalen Zustand zu bemerken. An einem Pokerface habe ich mich erst gar nicht versucht. Es wäre mir eh nicht gelungen.
Das leise Prasseln auf dem Dach des Unterstandes wird von Sekunde zu Sekunde lauter, während sie mich mit gerunzelter Stirn mustert. »Eigentlich dachte ich, ich sammel dich ein und wir fahren irgendwohin, wo es nett ist und wo wir was essen können. Aber wenn ich dich so ansehe, war das nicht das, was du vorhattest. Also, warum wolltest du mich treffen?«
Ich atme tief durch, bevor ich zu reden anfange. »Es gibt einige neue Erkenntnisse in unserem Fall.«
»Und die haben dich so aufgewühlt, dass du darüber sprechen musst?«
Mein Lachen klingt ziemlich bitter. Sie ahnt nicht, wie sehr sie ins Schwarze getroffen hat.
»Wir haben endlich eine heiße Spur bei der Suche nach diesem geheimnisvollen Dieb. Ich hatte die Möglichkeit mit einer Lateinamerika-Expertin zu sprechen, die mir interessante Dinge erzählt hat.«
Sie lächelt mich an, aber es wirkt aufgesetzt und erreicht ihre Augen nicht. »Das freut mich für euch. Du hast das letzte Mal frustriert geklungen. Endlich geht es einen Schritt weiter.«
»Lass die Spielchen!«, bricht es aus mir heraus. »Du weißt doch genau, was ich herausgefunden habe. Du warst es, die das Amulett gestohlen hat! Und du bist auch für den Einbruch vergangenen Samstag in Bel Air verantwortlich.«
Sie versteift sich sichtlich und sieht mich ungläubig an. »Was? Bist du von allen guten Geistern verlassen? Wie kommst du denn auf sowas? Hast du irgendwelche Beweise für diese Anschuldigung?«
Ich schüttel den Kopf. »Nein, das basiert alles auf logischen Schlussfolgerungen.«
Sie lacht laut auf. »Logische Schlussfolgerungen? Ich weiß nicht, wie das hier bei euch in den USA läuft, aber ich bezweifle, dass das für die Polizei reichen würde.«
Ich trete einen Schritt auf sie zu und lege den Kopf schief. »Und wie läuft das bei euch drüben in Brasilien? Werden da alle Ermittlungen von vorneherein fallen gelassen, weil deine Familie ihre Finger im Spiel hat und genug Geld fließt?«
Von einer Sekunde auf die andere entgleiten ihr die Gesichtszüge. Ihr Blick ist mörderisch. Sie droht mir mit erhobenem Zeigefinger. »Wag es nicht, so über meine Familie zu urteilen, Bob Andrews! Du hast keine Ahnung, von was du da redest!«
Ich stutze und bin mir mit einem Mal völlig sicher, mit allem richtig zu liegen. Ich habe meinen Nachnamen ihr gegenüber nie erwähnt. »Woher kennst du meinen Nachnamen? Also hast du mir wirklich hinterherspioniert! Du wusstest von Anfang an, wer ich bin und was ich mache!«
»Und selbst wenn, gibt dir das kein Recht, so über meine Familie oder mich zu sprechen!«
»Also? Stimmt es, was ich herausgefunden habe?«
Sie schüttelte den Kopf und kneift die Augen zusammen. »Hör auf, dich lächerlich zu machen! Das ist albern! Ich weiß überhaupt nicht, warum ich mir das noch länger anhöre!«
Ich würde sie am liebsten packen und schütteln. Sie tut, als hätte das alles nichts mit ihr zu tun? Warum noch diese Scharade? Ich will eine klare Antwort von ihr, also setze ich noch einen nach und versuche sie weiter zu provozieren.
»Was hast du mit dem Schmuck gemacht? Und mit dem Amulett? Warum hast du es gestohlen? Laufen die Geschäfte so mies, dass die Tochter sich einen Nebenjob als Diebin suchen muss?«
»Du hast keine Ahnung, von was du da redest!«, wiederholt sie ihre Worte mit leiser Stimme, die in dem Rauschen des inzwischen ziemlich heftigen Regens und dem Donnergrollen kaum zu verstehen ist.
Der Wind zerrt an unseren Klamotten, die Donnnerschläge kommen jetzt kurz hintereinander und sind so laut, dass man fast sein eigenes Wort nicht versteht.
»Nein!«, bestätige ich wütend. »Habe ich nicht. Also erhelle mich doch bitte! Was, verdammt noch mal, ist dein Motiv?«
Ivete sieht mich finster an und schüttelt den Kopf. »Glaubst du tatsächlich, selbst wenn alle deine Vorwürfe der Wahrheit entsprechen würden, dass ich sie mit dir hier auf offener Straße ausdiskutiere? Ausgerechnet mit dir?«
Die Worte treffen mich, als hätte sie mir mitten ins Gesicht geschlagen. »Ja, ausgerechnet mit mir«, wiederhole ich mit rauer Stimme. »Womit wir beim nächsten Punkt wären: Warum triffst du dich überhaupt mit mir? Willst du uns ausspionieren? Wolltest du herausfinden, was wir wissen und ob wir dir auf der Spur sind? Und dann? Wolltest du uns in einem geeigneten Moment auf die falsche Spur locken, damit wir niemals auf die Idee kommen, das du hinter allem steckst? Warum, Ivete?«
Sie schweigt und verrät mir damit mehr, als ihr vielleicht bewusst ist. Sie hat mit mir gespielt. Von Anfang an.
Fuck!
Seit wann wusste sie, wer ich bin? Schon auf der Party? War es doch kein Zufall, dass wir uns danach ständig über den Weg gelaufen sind? Im Diner? Im Club?
Tiefe Enttäuschung macht sich in mir breit und schnürt mir die Kehle zu. Ich will gerade erneut etwas erwidern, als ein Bus vorbeifährt und uns ein eiskalter Schwall Wasser trifft. Keiner von uns hat bemerkt, dass die Straße sich durch den Starkregen inzwischen in einen kleinen Bach verwandelt hat. Ivete gibt ein entsetztes Quietschen von sich und springt zur Seite direkt auf mich zu. Ich bin so überrumpelt, dass ich sie zwar instinktiv versuche aufzufangen, aber überhaupt nicht richtig dafür stehe. Ich stolpere über meine eigenen Füße mit Ivete im Arm. Wir stürzen genau in eine Pfütze beträchtlichen Ausmaßes. Wären wir nicht sowieso schon bis auf die Unterwäsche nass, spätestens jetzt wären wir es.
Prustend versuche ich mich aufzurichten. Überall ist Wasser. Oben, unten, einfach überall. Zu allem Überfluss hab ich auch ausgerechnet heute meine Brille angezogen, die natürlich jetzt voller Tropfen ist und meine Sicht dementsprechend eingeschränkt.
Ein Geräusch, dass ich zunächst nicht zuordnen kann, dringt an mein Ohr. Eine Hand taucht vor meinem Gesicht auf. Ivete.
Sie lacht. Sie steht dort vor mir und kann sich kaum beherrschen vor lauter Lachen. Ihre schwarzen Locken hängen ihr feucht ins Gesicht, auf den Wangen glänzen kleine Wassertropfen. Ihre Augen funkeln amüsiert. Ich kann nicht anders, als sie anzustarren. Zu absurd ist die Situation. Zu bezaubernd sieht sie aus.
Und dann lache ich einfach mit. Ich muss völlig den Verstand verloren haben, aber ich kann einfach nicht anders. Ihr Lachen lässt mir keine andere Wahl.
»Komm, lass uns hier verschwinden, bevor wir noch weggespült werden.«
Sie hilft mir auf und rennt mit mir im Schlepptau durch den Sturm zu ihrem Auto. Erst dort lässt sie meine Hand wieder los.
»Wir machen dein Auto total nass.«
Sie winkt unbeeindruckt ab und startet den Wagen. Unsere Kleidung klebt unangenehm nass an unserer Haut und ich beginne zu frieren. Ihr scheint es nicht anders zu gehen, denn sie dreht sowohl Sitzheizung als auch Innenraumheizung voll auf.
»Wo fährst du hin?«, frage ich, als ich bemerke, dass wir nicht in Richtung meiner Wohnung fahren.
Sie wirft mir einen kurzen Seitenblick zu. »Zu mir nach Hause«, antwortet sie. »Dort können wir uns aufwärmen und dann reden wir.«
Ich nicke einfach nur. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll und was mich erwartet. Und um ehrlich zu sein, ist es mir jetzt gerade in diesem Augenblick egal. Die eiskalte Dusche und der Sturm haben auch meine Emotionen abgekühlt. Die Wut ist verschwunden. Vielleicht kommt sie später wieder, wenn ich nicht die Antworten erhalte, auf die ich hoffe. Aber jetzt aktuell fühle ich mich einfach nur wie erschlagen. Erschöpft und ausgelaugt.
Wir fahren schweigend in Richtung Beverly Hills, was mich nicht sonderlich überrascht. Es geht ziemlich langsam voran, weil die Straßen mit den Wassermassen mehr schlecht als recht klarkommen. An einem Hochhaus, das ziemlich modern und neu aussieht, biegt sie auf einen schmalen Weg ab und bleibt an einem Wachhäuschen stehen. Nachdem wir uns beide bei dem diensthabenden Wachmann ausgewiesen haben, fährt sie in die Tiefgarage.
Ein hochmoderner Aufzug bringt uns in den sechsten Stock. Zielstrebig geht Ivete auf eine der sechs Türen in dem Flur zu und öffnet sie mit einer Keycard. Einladend hält sie mir die Tür auf. Ich trete ein und stehe direkt in einem schlauchförmigen Raum, an dessen Ende man durch eine riesige Fensterfront das draußen tobende Gewitter sehen kann.
Wir entledigen uns unserer nassen Schuhe direkt im Eingangsbereich. Ivete durchquert den Raum und tritt an eine hohe Bar heran, die die Küchenzeile vom Rest des Wohnbereichs trennt und legt ihre Tasche über einen der Barhocker. Dahinter, direkt neben der Fensterfront, liegt der Wohnbereich. Von dort sehe ich zwei Türen abgehen, wobei es sich vermutlich um Schlafzimmer und Badezimmer handelt.
Die Wohnung überrascht mich. Nach dem, was ich über Ivete erfahren habe, hätte ich etwas anderes erwartet. Größer. Mehr Luxus. Alles ist neu und von einem sehr klaren, hellen Design. Weiße Wände, heller Parkettboden, dazu dunkle Akzente wie zum Beispiel einzelne Elemente in der Küche oder die dunkle Couch. Die Wohnung inklusive der Einrichtung haben definitiv mehr gekostet, als die allermeisten Studierenden sich leisten können. Aber dennoch ist es weit von dem Luxus entfernt, den Ivete sich eigentlich leisten können sollte.
Ivete bemerkt meinen Blick und verzieht das Gesicht zu einem schiefen Lächeln.
»Was hast du erwartet? Einen Tanzsaal? Butler? Vergoldete Fußbodenleisten? Feinsten Marmor?«
Ich mustere sie aufmerksam. »Etwas ähnliches vielleicht. Andererseits hast du auf der Party schon angedeutet, dass du keinen großen Wert auf Luxus legst.«
Eine Augenbraue wandert nach oben und ihr Blick wird herausfordernd. »Oder vielleicht siehst du hier einen Hinweis darauf, was ich mit dem gestohlenen Schmuck anstelle.«
Ich weiche ihr nicht aus. »Wenn das tatsächlich der Fall ist, wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, um es mir zu sagen. Dann werde ich nämlich wieder gehen.« Meine Stimme ist fest und zeigt ihr hoffentlich, dass ich es absolut ernst meine. Einen Augenblick sehen wir uns beide einfach nur an, ohne ein Wort zu sagen.
»Bleib«, sagt sie leise und ich muss mich zusammenreißen, um nicht erleichtert aufzuatmen. »Ich bin kein Freund davon, das Geld meiner Familie als Statussymbol vor mir her zu tragen. Privat habe ich es lieber etwas schlichter. Außerdem lege ich keinen Wert darauf, mehr als nötig aufzufallen.« Sie geht in die Küche, öffnet einen der Schränke und holt zwei Gläser hervor. »Möchtest du etwas trinken oder willst du direkt duschen?«
Auch ich trete an die Bar heran und entleere meine Hosentaschen. Für Portemonnaie und Schlüssel ist die Feuchtigkeit nicht weiter schlimm. Auch für mein Handy sollte es eigentlich kein Problem sein. Nachdem Peter bei mehreren unserer Fälle sein Handy durch Wasser geschrottet hat, hat Justus uns wasserdichte Modelle besorgt. Ich habe es bisher noch nie austesten müssen. Aber auf den ersten Blick scheint das Ding noch zu funktionieren. Meine Brille lege ich einfach dazu. Die Tropfen sind inzwischen getrocknet und haben matte Flecken hinterlassen, die mich kaum etwas sehen lassen. Es ist also egal, ob ich sie anhabe oder nicht.
»Ich will aus den nassen Klamotten raus«, gestehe ich.
Ivete kommt mit den Gläsern und einer Flasche Wasser zu mir, stellt alles auf die Bar und nickt. »Ich schaue währenddessen im Schrank, ob ich was habe, was du anziehen kannst. Komm mit.«
Sie öffnet die Rechte der beiden Türen, die direkt nebeneinander liegen und gibt den Blick frei auf das Badezimmer, das in einem sehr ähnlichen, modernen Stil wie der Rest der Wohnung gestaltete ist. An der Wand rechts sind ein Einbauschrank, die Toilette und ein großes Waschbecken angebracht. Die Dusche an der Spitze des Raumes ist ebenerdig und durch eine Glaswand vom Rest abgetrennt. Eine weitere Tür führt auf der linken Seite ins Schlafzimmer.
Ich trete ein und drehe mich einmal im Kreis, während Ivete den Schrank öffnet und mir schließlich ein Handtuch hinhält.
»Bitteschön. Duschgel und Shampoo findest du in der Dusche. Ich nutze am liebsten neutrale Düfte. Du musst also keine Angst haben, später nach Parfümerie zu riechen. Wenn du noch etwas brauchst, ruf mich.«
Mit einem kleinen, nahezu schüchternen Lächeln auf den Lippen dreht sie sich um und will das Badezimmer verlassen.
»Warte.«
Ich strecke ihr meine Hand entgegen, als sie tatsächlich stehenbleibt und sich zu mir umdreht. Was ich hier genau tue, weiß ich selbst nicht so genau. Es ist ein Impuls, dem ich einfach nachgegangen bin, ohne mir über die Konsequenzen bewusst zu sein. Gerade gibt es nichts, was mir egaler wäre. Wichtig ist nur, dass sie bei mir bleibt.
»Komm her.«
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