Kapitel 49
Nach diesem kleinen Fehlstart mit Ada war der Rest des Tages schöner als ich es mir hätte wünschen können. Beinahe schön genug, um mich doch noch zu einem Geburtstags-Fan zu machen.
Nachdem wir den Kuchen verdrückt hatten, wollte Ada natürlich keine Sekunde länger warten meine Haare in die Finger zu bekommen. Und das liessen sich Fangs und Sweet Pea natürlich nicht entgehen. Die Siebenjährige wuselte beinahe eine Stunde um mich herum, während Ricky auf meinem Schoss sass und mir allerlei Geschichten erzählten. Nur Kevin konnte nicht stillsitzen, er war sichtlich beunruhigt darüber, dass Ada sich mit ihrer Kinderschere an meinem Kopf zu schaffen machte und wuselte die ganze Zeit um uns herum. Doch am Ende des Tages - oder besser der Stunde - hatten wir kein Blut vergossen. Nur meine Haare hatten gelitten. Sie waren nun etwa wieder gleich lang wie vor zweieinhalb Jahren, als ich Kevin kennengelernt hatte. Nur etwas schiefer geschnitten und definitiv nicht überall gleich lang. Das würde ich wohl ausbessern lassen müssen, doch für den Moment war es wunderbar so. Schliesslich hätte ich beinahe alles für das Lächeln getan, dass meine Schwester auf ihren Lippen hatte, als sie ihr 'Werk' präsentierte.
Nachdem wir Sierras Küche wieder von meinen Haaren befreit und aufgeräumt hatten, verabschiedeten Sweets und Fangs sich, während Kevin und ich uns mit den Kids in Richtung Innenstadt aufmachten. Wir zeigten ihnen Kevins Schule, die Sheriffstation von aussen und spendierten ihnen schliesslich im Pop's noch einen Milkshake, ehe wir uns auf den Rückweg machten. Ricky mochte irgendwann nicht mehr gehen und so lud Kevin ihn kurzerhand auf seine Schultern - etwas was dem Kleinen sehr gefiel - während Ada weiterhin an meiner Hand hing und sich weigerte sie auch nur für einen Moment los zu lassen. Meinen anderen Arm legte ich irgendwann um meinen Freund, da ich dessen Hand gerade nicht beanspruchen konnte, da er Rickys Beine festhalten musste. Er sollte wissen, wie dankbar ich ihm für all das hier war, auch wenn ich bisher noch nicht wirklich die Möglichkeit gehabt hatte, ihm das zu sagen.
Wir erreichten das Haus der Kellers schliesslich um kurz nach sechs Uhr und dieses Mal stand sowohl Toms Truck als auch ein fremdes Auto vor der Garage. Vom Nummernschild her konnte ich jedoch schnell erahnen, dass das meine Mutter war. Natürlich, jemand musste ja die Kids abholen. Und obwohl ich das im Hinterkopf schon erahnt hatte, war ich plötzlich ziemlich nervös. Was würde Kevin wohl von meiner Mutter halten?
Doch dann erinnerte ich mich, dass sie die Kids heute Mittag auch vorbei gebracht haben musste. Dann waren die Zwei sich wohl schon begegnet.
"Hey, alles okay?", fragte der Braunhaarige und drehte sich um, da ich stehen geblieben war als ich das Auto erblickte. Er hatte Ricky wieder auf den Boden gestellt und hielt den Jungen nun ebenfalls an der Hand.
Ich nickte schnell und schloss mit Ada wieder zu ihm auf. Doch Kevin hatte bereits bemerkt, dass irgendetwas anders war und sah zu den Kids runter: "Eure Mutter wartet drinnen auf euch, wollt ihr schon mal kurz vorgehen? Wir kommen gleich nach."
Ricky schüttelte den Kopf, doch als Ada nach seiner Hand griff und ihn mit zog, ging er ohne sich zu wehren. Wir sahen ihnen nach, bis die Tür sich öffnete, dann wandte Kevin sich wieder mir zu und nahm meine Hände in Seine.
"Du brauchst nicht mit rein zu kommen, wenn du sie nicht sehen möchtest", sagte er leise und ich musste lächeln. Wieso fiel es diesem Jungen nur so einfach meine Gedanken zu lesen?
"Nein, passt schon. Ich hatte nur nicht damit gerechnet und war gerade etwas - verwirrt... Du hast sie schon kennengelernt, oder?"
Kevin nickte. "Ja, ich hab' sie mit Sierras Hilfe angerufen, um das hier alles zu organisieren. Sie war sehr höflich und echt nett, auch wenn es irgendwie komisch war mit ihr zu reden. Nach all dem was ich von dir über sie gehört-" Ich unterbrach den Northsider mit einem sanften Kuss.
"Danke. Danke für den Tag und dafür, dass du das hier ermöglicht hast. Es bedeutet mir echt viel."
Kevin begann breit zu lächeln und liess meine Hände los, jedoch nur um seine Arme um meine Taille legen zu können. "Gern geschehen, es ist ja nicht so als ob es sehr viel Überzeugung gebraucht hätte. Ich brauchte nur deinen Namen und Geburtstag zu sagen. Dann haben deine Geschwister schon losgeschrien."
Ich lachte und legte meine Hände an seine Wangen. "Sie mögen dich. Und ich kann auch sehr gut verstehen wieso."
Er wackelte mit seinen Augenbrauen. "Wieso denn?"
"Ach halt die Klappe, Hübscher", schüttelte ich meinen Kopf und legte meine Lippen wieder auf Seine.
Als wir zwei Minuten später die Tür zum Haus der Kellers öffneten, waren lautstark Ricky und Adas Stimmen aus dem Wohnzimmer zu hören. Sie erzählten gerade ganz aufgeregt davon, wie viele verschiedene Milkshakes es im Pop's gab.
Kevin und ich hatten eigentlich geplant uns einfach still dazu zu gesellen, doch kaum kamen wir durch den Türrahmen, erblickte Sierra uns und stand sofort vom Sofa aus. "Da seid ihr zwei ja. Alles gute zum Geburtstag Joaquin!"
Sie kam zu uns hinüber und hielt ihre Arme leicht auf, umarmte mich jedoch nicht. Anscheinend schien sie immer noch etwas unsicher zu sein, ob das in Ordnung war. Das konnte ich ihr nicht übelnehmen, schliesslich war sie dabei gewesen als Kevin mich vor etwa einem halben Jahr überraschen wollte und seine Arme ohne Vorwarnung von hinten um mich gelegt hatte. Ich hatte mich so heftig erschrocken, dass ich ihn viel zu stark wegstiess und er den Boden unter den Füssen verlor. Damals war sie vor allem erschrocken gewesen, doch seit sie die ganze Geschichte mit Mark gehört hatte, konnte sie sich wahrscheinlich zusammenreimen, weshalb ich so reagiert hatte. Auf jeden Fall war mir aufgefallen, dass sie etwas vorsichtiger um mich herum geworden war, seit ich ihr davon erzählt hatte.
Ich liess Kevins Hand los und machte einen Schritt auf sie zu, da es mir gerade echt nichts ausmachte. Sierra erkannte mein Einverständnis sofort und umarmte mich mit einem herzlichen Lachen auf den Lippen, ehe sie wieder einen Schritt zurücktrat und Kevins Vater Platz machte, der mir seine Hand hinhielt. Ich schüttelte sie und erhielt ebenfalls von ihm eine Gratulation, ehe er den Arm wieder um seine Frau legte. "Ich hoffe, die Überraschung ist geglückt?"
Ich lächelte und sah kurz zu Kevin hinüber. "Ja, komplett. Danke für eure Hilfe, ich hoffe Kevin war nicht allzu hart als er euch vertrieben hat."
"Hey! Ich war sehr charmant", verteidigte er sich sofort und wir begannen zu lachen. Dann traten Kevins Eltern jedoch zur Seite und gaben den Blick auf meine Mutter frei.
Sie sah etwas unsicher aus, doch als ich dann auf sie zu ging, begann sie zu lächeln. "Feliz cumpleaños Joaquín", wünschte auch sie mir und umarmte mich. Doch anders als bei Sierra gerade, fühlte ich mich nicht wirklich wohl in der Umarmung. Ich gab mir dennoch grosse Mühe es zu überspielen.
"Gracias. Y gracias por traer a los niños", erwiderte ich und dankte damit auch ihr dafür, dass die Kids heute hier sein durften. Als wir uns wieder voneinander gelöst hatten, musterte ich meine Mutter kurz. Sie lächelte, doch unter ihren Augen lagen tiefe Schatten. Sie sah müde aus. Hatte das wohl etwas damit zu tun, was Ada gesagt hatte? Dass sie kaum mehr zu Hause war? Ich würde es herausfinden. Doch nicht jetzt und nicht hier.
Glücklicherweise unterbrach auch Ricky die folgende Stille auch direkt in dem er sich meine Hand schnappte und verkündete, dass er bei mir sitzen wollte. Ada passte das natürlich überhaupt nicht und so endeten wir schliesslich damit, dass ich auf dem Boden des Wohnzimmers mit beiden Kids auf meinem Schoss - Ricky links und Ada rechts - landete, während Kevin sich zu seinen Eltern aufs Sofa setzte und meine Mutter wieder im Sessel Platz nahm.
Ada erzählte zu Ende, was wir gemacht hatten. "Und dann hat Kevin uns noch ein Geisterhaus gezeigt, bevor wir zurückmussten."
"Kevin, du weisst doch, dass Martin es nicht mag, wenn ihr Kids das Haus so nennt. Sie haben es schon schwer genug, das Grundstück zu verkaufen", tadelte Kevins Vater seinen Sohn, doch dieser liess sich dafür nicht verantwortlich machen.
"Wenn ich mich richtig erinnere, warst du es, der mich mit diesen Geistergeschichten davon abhalten wolltest zu spät draussen zu bleiben!"
Tom lachte und fuhr sich über den Kopf. "Daran erinnere ich mich nicht." Er zwinkerte Kev zu und ich konnte mir ein Lächeln ebenfalls nicht verkneifen. Ich hatte nie wirklich viele 'Vorbilder' gehabt, um mir vorzustellen, wie es wohl gewesen wäre, einen Vater zu haben. Aber wenn ich die zwei Keller-Männer so sah, wünschte ich mir, dass mein Vater und ich auch so eine Beziehung gehabt hätten, wenn er nicht gestorben wäre. Egal wie unwahrscheinlich das war.
Beim Gedanken an meinen Vater sah ich zu meiner Mutter hinüber und bemerkte, dass auch sie mich beobachtet hatte. "¿Podemos hablar a solas un minuto?", fragte sie leise und ich sah nochmal kurz zu Kevin und seiner Familie. Diese schienen gerade etwas in ihrer eigenen Welt zu sein, weshalb ich dem Wunsch meiner Mutter, kurz allein zu sprechen, nachkam.
"Kids, ich muss mal schnell mit Mama reden, okay?", flüsterte ich meinen Geschwistern zu und sie liessen mich aufstehen. Dann deutete ich meiner Mutter an, mir zu folgen, und ging in Richtung des Esszimmers. Kevin fing meine Hand auf, als ich an ihm vorbei ging und sah mich fragend an.
"Wir kommen gleich wieder. Müssen nur kurz etwas besprechen", erklärte ich ihm und drückte kurz seine Hand, ehe ich meine Mutter in die Küche führte.
"Worüber wolltest du sprechen?"
Die Schwarzhaarige lehnte sich gegen die Spüle und im hellen Licht der Küche, traten die dunklen Ringe unter ihren Augen noch stärker hervor. Sie sah beinahe krank aus.
"Der Anwalt möchte, dass du in Person vorbei kommst, um deine Aussage zu machen und ich habe mich gefragt, ob du vielleicht direkt heute mit uns zurück fahren möchtest? Ich habe am Montag einen Termin und da könntest du mitkommen."
"Ich kann nicht einfach weg hier. Ich muss am Montag arbeiten", erwiderte ich und verschränkte mein Arme.
"Das weiss ich. Aber ich habe heute Abe besucht und mit ihm gesprochen, er-"
Ich unterbrach sie beinahe sofort. "Du hast was?!"
Die Spanierin schien auf der anderen Seite des Raums kleiner zu werden, als sie realisierte, dass ich dieses Vorgehen gar nicht unterstützte.
"Abe kennt mich von früher, ich wollte nur -"
Wieder unterbrach ich sie. "Nein!" Dann schluckte ich jedoch einmal schwer und zügelte meine Lautstärke etwas. "Du kannst nicht einfach hierher kommen und dich in meinem Leben breit machen. Dieses Recht hast du abgegeben, als du mich sitzengelassen hast."
Man konnte förmlich sehen, wie Schatten über das Gesicht meiner Mutter wanderten. "Sólo quería ayudar", entschuldigte sie sich und fuhr mit einer Hand durch ihre Haare. Sie wollte nur helfen. Und irgendwie glaubte ich es ihr. Und das machte es auch schwierig, weiter wütend auf sie zu sein.
"Está bien. Das heisst dann wohl, dass du Abe schon gesagt hast, dass ich am Montag nicht kommen werde?", murmelte ich schliesslich und steckte meine Hände in die Hosentasche. Sie nickte still.
"Okay, ich werde kommen. Aber ich fahre morgen nach. Ich will noch etwas Zeit mit Kevin verbringen", willigte ich schliesslich ein und ging zurück ins Wohnzimmer ohne ihre Reaktion abzuwarten.
So fuhren meine Geschwister an diesem Abend alleine mit unserer Mutter zurück, während ich etwas Zeit mit meinem Freund verbrachte. Kevin und ich lagen noch lange wach, weshalb es auch Sonntagmittag wurde bis ich zurück in der Wohnung war, um meine Sachen zu packen. Daher traf ich auch erst gegen Abend an der Adresse in Centerville ein, die mir meine Mutter genannt hatte. Gerade rechtzeitig, um die Kids beim Zähneputzen zu erwischen. Damit war die Nachtruhe natürlich erst einmal verschoben, da sie mir ihr Zimmer und ihre Spielsachen zeigen wollten, die in der ganzen Wohnung verteilt waren.
Ihr Interesse daran ins Bett zu gehen, war durch meine Ankunft natürlich auch geschwunden und um sie trotzdem noch dazu zu bringen, liess ich mich schliesslich überreden, mich zu ihnen zu legen. So endete ich zwischen Ada und Ricky's Bett am Boden, den Kopf auf einem Teddybären und beobachtete wie meinen Geschwistern die Augen zufielen und sie schliesslich einschliefen.
Erst als ich mir hundert Prozent sicher war, dass die beiden tief und fest schliefen, wagte ich es mich wieder zu bewege und leise aus dem Zimmer zu gehen. Etwas unsicher, was ich nun tun sollte, lief ich durch die Wohnung und fand meine Mutter schliesslich am Esstisch. Sie war über einen Stapel Blätter gebeugt, den sie jedoch schnell weglegte als sie mich kommen sah.
"¿Tienes hambre?", erkundigte sie sich, ob ich hungrig sei und ich schüttelte meinen Kopf.
"Ich habe auf dem Weg etwas gegessen."
Etwas unsicher, ob ich mich zu ihr setzen sollte, fuhr ich mir durch die Haare. Es war so ungewohnt mit ihr zu interagieren. Wir hatten nicht mehr wirklich gesprochen, seit ich weggegangen war. Und schon gar nicht, seit die Sache mit Mark nicht mehr einfach ein Tabu-Thema war. Ich wusste einfach nicht, was ich ihr sagen sollte. So war ich schon beinahe froh, als sie ihre Aufmerksamkeit auf meine Haare richtete.
"¿Qué le ha pasado a tu pelo?", erkundigte sie sich, was damit geschehen war und ich lächelte, während ich nochmals durch die schwarzen Strähnen fuhr.
"Ich hab' Ada machen lassen."
Nun lachte auch meine Mutter leicht und legte ihren Stift nieder. "Darf ich das Ausgleichen?"
Überrascht über ihr Angebot, zuckte ich mit meinen Schultern. "Klar, wenn du willst."
Da das Licht im Wohnzimmer nicht optimal war, stellte meine Mutter einen Stuhl in die Küche und holte dann ihre Scheren, während ich meinen Pulli gegen ein T-Shirt tauschte, damit die Kapuze nicht in die Quere kam. Dann ging ich noch schnell ins Bad, wo ich meinen Kopf unter den Wasserhahn steckte um die Haare, wie es meine Mutter angewiesen hatte, nass zu machen. Sie hatte mir ein Handtuch hingelegt, mit dem ich die Strähnen dann auch so gut wie möglich antrocknete, ehe ich mich wieder in die Küche begab und mich dort auf den Stuhl setzte.
Während meine Mutter still begann meiner Haare zu kämmen und dann einen Teil mit Klemmen hoch zu stecken, zog ich mein Handy hervor und schrieb Kevin noch eine kurze Nachricht, dass ich gut angekommen war. Der Braunhaarige antwortete beinahe sofort und fragte, wie es bisher sei. Ich lächelte leicht und schrieb ihm zurück, dass meine Mutter gerade Adas Werk richtigstellte. Dann sperrte ich das Handy wieder und betrachtete einen Moment lächelnd meinen Sperrbildschirm - ein Bild vom Samstag, dass Ada, Ricky und Kevin auf der Treppe der Riverdale High zeigte - bevor ich das Gerät wieder zurück in die Hosentasche steckte.
"Kevin ist wirklich nett."
Ich sah überrascht auf als meine Mutter die Stille durchbrach. "Kopf bitte gesenkt lassen", wies sie sofort an und ich richtete meinen Blick wieder auf den Boden, während ich antwortete.
"Ja das ist er."
Wieder war ein Moment lang nur das Klicken der Schere zu hören.
"Seid ihr schon lange zusammen?"
Irgendwie fühlte es sich komisch an, dass sich meine Mutter plötzlich für meine Beziehung interessierte. Aber andererseits, war das doch auch ein gutes Zeichen, oder?
"Wir haben uns im Sommer vor zwei Jahren kennengelernt und waren ein paar Monate zusammen. Aber damals war alles sehr... kompliziert. Ich dachte die Sache mit uns sei vorbei als ich nach San Junipero gekommen bin. Offensichtlich nicht", erzählte ich und musste leicht lachen. "Aber 'richtig' zusammen sind wir seit letztem Oktober."
Ich spürte wie meine Mutter ihre Bewegungen in meinem Hinterkopf kurz pausierte, dann jedoch erklang das Schneiden der Schere wieder. Doch reden taten wir nicht mehr, bis meine Mutter mir schliesslich einen Handspiegel hinhielt. "Fertig."
Ich blickte hinein und nickte. Sah schon einiges besser aus, wenn die Kanten gerade waren. Kevin würde sich darüber bestimmt auch freuen.
"Gracias", bedankte ich mich und gab ihr den Spiegel zurück. Sie löste die schwarze Schürze, die sie mir umgelegt hatte in meinem Nacken und ich beugte mich schnell nach vorne, um die Haarreste auszuschütteln, die sich in meinen Strähnen verfangen hatten. Als ich mich dann wieder nach hinten setzte, bürstete meine Mutter noch schnell die restlichen Haare von meinem Nacken und Rücken. Doch dann spürte ich plötzlich einen warmen Finger auf meiner Haut. An einer Stelle die mich direkt zusammenzucken liess. Ich wusste nur genau, was sie gerade berührte. Es war der Ort, an dem Mark mir an Silvester vor einem Jahr seine Zigarette in den Nacken gebohrt hatte. Sofort erstarrte ich komplett und schluckte einmal schwer.
Wieder war es meine Mutter, die die Stille durchbrach. Doch dieses Mal war ihre Stimme einiges leiser und zittrig. Ich konnte hören, dass sie wohl gerade mit ziemlich vielen Emotionen kämpfte.
"Lo siento... Es tut mir so leid, Joaquin. Ich hätte ihn aufhalten sollen... Was für eine Mutter lässt zu, dass jemand ihr Kind verletzt... Ich"
Ich blieb still. Was sollte ich auch sagen? Sie hatte Recht.
"Ich weiss, dass ich sehr viele Fehler gemacht habe mit dir", fuhr sie leise fort und ich konnte spüren, wie ihre Finger sanft durch meine inzwischen beinahe trockenen Haare fuhren. "Abe hat mir gezeigt, was du für ihn machst. Ich konnte kaum glauben, was du alles kannst... Dein Vater wäre -"
Das war der Punkt, an dem ich es nicht länger aushalten konnte. "Hör auf!" Ich hechtete schon beinahe weg von ihr und ihrer Berührung ans andere Ende der Küche, wo ich mich mit verschränkten Armen hinstellte und sie musterte. "Du kannst das nicht einfach machen! Hör auf dich wie jemanden zu verhalten, den du ganz offensichtlich vierzehn Jahre lang nicht sein wolltest."
Meine Mutter umfasste die Lehne des Stuhls mit beiden Händen und sah mich verzweifelt an. "Ich weiss, dass du dich im Stich gelassen fühlst und ich verstehe, dass es hart für dich gewesen sein muss. Aber glaube nicht für einen Moment, dass ich diese Entscheidung leichtfertig getroffen habe. Ich wollte nur, was das Beste für dich ist."
Die Absurdität ihrer Aussage liess mich herzlos auflachen. "Du verstehst überhaupt nichts, wenn du denkst, dass es das Beste für mich war. In deinen Augen mag ich noch ein kleines Kind gewesen sein damals, aber ich war sieben, Mum. In Adas Alter. Ich erinnere mich jetzt vielleicht nicht mehr an alles, aber damals...", ich atmete tief durch und richtete meinen Blick auf die Decke, weil sich die Tränen einen Weg in meine Augen kämpfen wollten.
"Du hast dir vielleicht eingeredet, dass ich mich nicht an euch erinnern würde und dadurch ein besseres Leben hätte. Aber ich war alt genug, um mich an dich und Dad zu erinnern. Ich war alt genug, um euch zu vermissen. Alt genug, um mich zu fragen, was ich falsch gemacht hatte, dass du weggegangen bist.
Du denkst, es war das Beste für mich? Sag das dem Kind, dass wochenlang nicht geschlafen hat, weil es dachte du würdest nach Hause kommen und dich nicht verpassen wollte. Oder dem Achtjährigen, der sich manchmal am Abend Frühstück auf den Tisch gestellt hat, um sich am nächsten Morgen einzubilden, dass seine Eltern noch da waren.
Sag's dem Teenie, der seine Decke über den Heizkörper gelegt hat, um sich vorzustellen, dass er an deiner Seite sitzt und eine warme Umarmung bekommen könnte. Sag das den Serpents, die mich ins Krankenhaus fahren mussten, weil die Decke Feuer gefangen und mir den Arm verbrannt hat."
Ich wischte mir mit meiner Hand einmal über das Gesicht um die Tränen zu entfernen, die ich jetzt nicht mehr zurück halten konnte. Dann schluckte ich einmal schwer und versuchte mich wieder etwas zu beruhigen, um weiter sprechen zu können.
"Ich hab' keine einzige Klasse wiederholt. Aber nicht, weil mir jemand gesagt hätte, dass es wichtig war gut in der Schule zu sein. Sondern weil ich panische Angst hatte, dass wenn ich fehlte oder in einer Prüfung versagte, der Lehrer mit meinen Eltern sprechen wollen würde.
Du denkst es wäre beeindruckend, was ich alles reparieren kann? Ist auch kein Wunder, wenn man als Kind alleine herausfinden muss, wie man einen Backofen, einen Herd oder einen Toaster bedient, um etwas essen zu können. Oder wenn die Heizung im Winter kaputt geht und man entweder friert oder halt selbst irgendwie einen Weg findet, um das alte Ding wieder zum Laufen zu bringen.
Alles was ich bin, alles was ich kann, das sind nicht Dad und du. Dass war ich, ganz alleine. Weil niemand da war, der sich um mich gekümmert hat. Ich hab' Jahre gebraucht, um zu realisieren, dass es nicht mein Fehler war. Und trotzdem habe ich immer noch Albträume davon, wieder alleine gelassen zu werden.
Mark ist ein kranker Mensch und er hat mir weh getan. Aber er ist in drei Monaten nicht annähernd an das heran gekommen, was du mir angetan hast in der einen Minute, in der du gegangen bist."
Ich atmete einmal tief durch und löste meinen Blick von meinem linken Unterarm, wo die verschlungenen Rosenranken die Brandnarben verbargen. Das Tattoo hatte höllisch geschmerzt, aber ich hatte es einfach machen müssen, um nicht ständig an die Nacht erinnert zu werden. Meine Mutter musste sich irgendwann auf den Stuhl gesetzt haben, denn da sass sie nun und sah mindestens genauso leer und emotional fertig aus, wie ich mich fühlte. Auch ihre Augen waren rot, sie hatte wohl auch geweint.
Ich wusste nicht wirklich, was ich von ihr erwartete. Ich hatte ja selbst nicht damit gerechnet, dass das alles einfach so aus mir rausströmen würde. Genauso wenig, wie ich vorgehabt hatte, vor meiner Mutter zu weinen. Und dennoch konnte ich die Tränen, die immer noch meine Wange hinunter strömten, einfach nicht aufhalten. An die unzähligen Stunden zu denken, in denen ich komplett verzweifelt versucht hatte mir zu erklären, weshalb sie mich alleine gelassen, tat einfach unglaublich weh.
Es stellte sich heraus, dass ich gar keine Erwartungen haben musste. Obwohl sie bloss für ein Drittel meines Lebens da gewesen war, schien die Spanierin genau zu wissen, was sie zu tun hatte. Still erhob sie sich von ihrem Platz, schloss die Distanz zwischen uns und nahm mich in ihre Arme. Und für einen kurzen Moment fühlte ich mich wieder wie der elfjährige Junge, der sich mit geschlossenen Augen verzweifelt an den Heizofen geklammert hatte. Nur dass heute, seine Fantasie wahr wurde und er tatsächlich seine Mutter in den Armen hielt.
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