18 - Von Ängsten und Zärtlichkeiten
Am nächsten Morgen fällt es mir unheimlich schwer, mich auf die Inhalte der Vorlesungen und Seminare zu konzentrieren. Ständig wandern meine Gedanken von Heather zu Len, bis sie letztendlich bei meinen Erzeugern stoppen.
Ob es wirklich eine gute Idee ist, ihnen einen Besuch abzustatten?
Je mehr Zeit verstreicht, umso nervöser werde ich. Mein Herz rast, mein Körper zittert und meine Emotionen fahren Achterbahn.
Sechs Jahre lang habe ich meine Erzeuger nicht gesehen. Um ehrlich zu sein habe ich große Angst davor, von meinen Gefühlen überrumpelt zu werden, wenn ich wieder an den Ort zurückkehre, an dem ich meine Kindheit verbracht habe.
Am liebsten würde ich Len eine Nachricht schreiben, um unser Vorhaben abzusagen, doch meine Finger beben so sehr, dass ich es nicht schaffe, sinnvolle Sätze in mein Handy zu tippen.
Wie es scheint, ist heute der Tag gekommen, an dem ich mich meinen dunkelsten Dämonen stellen werde.
Gegen 16 Uhr am Nachmittag verlasse ich das Unigebäude und werde draußen sofort von wärmenden Sonnenstrahlen in Empfang genommen. Vögel zwitschern leise um die Wette, die Baumkronen tanzen im Wind und der Geruch von Meerwasser liegt in der Luft.
Irgendwie ist es ironisch, dass meine Regenwolkengedanken diesen schönen Frühlingstag in eine pechschwarze Gruselgeschichte verwandeln.
Ich schüttele einmal den Kopf, bevor ich mit schnellen Schritten über den Campus eile und wenig später den Skatepark erreiche. Anders als sonst hocken die Shadows nicht auf ihren Boards, sondern haben sich in einem Stehkreis versammelt.
Obwohl ich nicht hören kann, worüber sie sich unterhalten, spüre ich sofort, dass es sich um ein ernstes Thema handelt. Die angespannten Körper, die leeren Blicke und die gefurchten Stirnen sprechen für sich.
Ob sie wohl über Devin reden? Er ist schließlich der Einzige, der fehlt.
Da ich die Shadows nicht stören möchte und ihre Privatsphäre respektiere, bleibe ich am Eingang des Skateparks stehen. Dass sich das als ein Fehler erweist, wird mir nur zwei Minuten später vor Augen geführt, als eine bekannte Männerstimme hinter mir ertönt.
„Piper", murmelt Alex meinen Namen. „Was machst du hier? Du solltest dich lieber von diesen Freaks fernhalten."
Ich atme einmal tief durch, ehe ich mich zu Alex umdrehe. In seinen mintgrünen Augen, die sich wie spitze Wurfgeschosse in meine Pupillen bohren, lodert ein Feuer der Besorgnis.
„Was hältst du davon, wenn wir jetzt ganz spontan auf unser Date gehen? In dem Autohaus meines Cousins dritten Grades wird heute der neue Porsche 911 GT3 992 vorgestellt. Er braucht nur 3,4 Sekunden, um von Null auf 100 zu beschleunigen. Wahnsinn, oder? Wenn ich meinen Cousin ganz lieb frage, dürfen wir bestimmt mal eine kleine Runde mit dem Schätzchen drehen."
Mit jedem Wort, das Alex' Lippen verlässt, fällt meine Kinnlade weiter in Richtung Boden hinab.
Ich glaube Alex, dass er mich mag und dass er gerne mit mir ausgehen würde, aber leider hat er überhaupt keine Ahnung, wer ich bin. Würde er mich wirklich kennen, dann wüsste er, dass mir Autos total egal sind und ich nicht mal einen Führerschein habe.
Abgesehen davon kann ich mich nicht daran erinnern, einem Date zugestimmt zu haben.
„Der Wagen hat 510 PS. Echt abgefahren, oder?"
Mal wieder bin ich ratlos, was ich auf diese Aussage entgegnen soll. Vermutlich wäre es das Beste, Alex endlich zu sagen, dass ich kein Interesse an ihm habe, doch das traue ich mich nicht.
Auch wenn er mich mit seinen Monologen über teure Wertgegenstände regelmäßig in den Wahnsinn treibt, möchte ich ihn nicht verletzen.
Während ich fieberhaft überlege, wie ich Alex möglichst schonend erklären kann, dass ich heute keine Zeit für ihn habe, schwärmt mein Gegenüber weiterhin über das neue Modell von Porsche. Dass ich ihm nicht zuhöre, scheint Alex wie immer egal zu sein.
Da mir auch nach mehreren Minuten keine Lösung für mein Alex-Date-Problem einfällt, bin ich erleichtert, als Len plötzlich neben mir auftaucht und beschützend seinen Arm um meine Taille legt. Statt seine Aufmerksamkeit auf Alex zu richten, der mittlerweile verstummt ist, schauen Lens funkelnde Augen geradewegs in die meinen.
Sofort macht mein Herz einen aufgeregten Hüpfer.
Ich kann nicht leugnen, dass mich Lens Gegenwart glücklich macht. Ich bin gerne bei ihm und genieße jede einzelne Sekunde, die ich in seiner Nähe verbringen kann und darf.
„Bist du bereit für unseren kleinen Ausflug, Piper?", möchte Len nun mit einem sanften Lächeln von mir wissen. Er wartet, bis ich nicke, ehe er seinen Blick auf Alex richtet und sagt: „Tut mir echt leid, aber ich muss dir diese wunderschöne Dame für die nächsten Stunden entführen."
Ganz der Gentleman bietet mir Len seinen Arm an, damit ich mich bei ihm einhaken kann.
„Piper ...", lässt mich Alex' verzweifelte Stimme ein letztes Mal innehalten. „Was ist mit dem neuen Porsche und den 510 PS?"
„Ich glaube, Piper bevorzugt meinen alten Golf und bescheidene 86 PS", übernimmt Len begleitet von einem frechen Zwinkern das Antworten für mich.
Obwohl es mir unfassbar leidtut, Alex wie einen begossenen Pudel im Eingang des Skateparks zurückzulassen, folge ich Len zu der Hauptstraße, wo Jeff bereits auf uns wartet. „Du solltest diesem Clown endlich mal sagen, dass er dich in Ruhe lassen soll", murmelt Len, nachdem wir in sein Auto gestiegen sind und uns angeschnallt haben. „Sein Gelaber kann man sich ja echt nicht antun ..."
Len verzieht sein Gesicht - ungefähr so, als hätte er gerade in eine Zitrone gebissen.
Es ist keine Neuigkeit, dass Len Alex nicht mag. Auch wenn es unfair klingt, kann ich das Len nicht verübeln, denn Alex hat einen sehr speziellen Charakter.
„Ich weiß", seufze ich nach einer Weile leise. „Ich möchte ihn aber nicht verletzen."
Es ist das erste Mal, dass ich laut ausspreche, wovor ich mich fürchte. Meine Erzeuger haben mir damals so viel Kummer zugefügt, dass ich mir geschworen habe, diesen Schmerz keinem anderen Menschen zuzufügen.
Niemand soll so leiden müssen, wie ich es jahrelang getan habe und teilweise immer noch tue.
Kein Alex und auch sonst niemand!
„Darf ich ehrlich zu dir sein, Piper?" Ein Ausdruck der Unsicherheit legt sich über Lens Iriden. Sobald ich nicke, verdichtet sich der Schleier zu einem Nebel aus Angst. „Du musst damit aufhören, es immer allen Leuten rechtmachen zu wollen. Sag das, was du denkst und tu das, worauf du Lust hast. Du kannst nur glücklich werden, wenn du für dich selbst lebst!"
Ich schlucke schwer. Tränen bilden sich in meinen Augen und versuchen sich einen Weg an die Freiheit zu erkämpfen.
Lens Worte schlagen dort wie eine Bombe ein, wo es am meisten wehtut: Mitten in meinem Herzen.
Er hat Recht, das weiß ich. Jedes einzelne Wort entspricht der Wahrheit. Leider bin ich aktuell aber nicht stark genug, um mir seine Worte als Vorbild zu nehmen.
Da ich Angst habe, dass Len alle Mauern, die mein Herz wie ein Schutzschild umgeben, einreißen könnte, wechsele ich schnell das Thema, indem ich von ihm wissen möchte: „Worüber hast du eben mit den Shadows gesprochen? Ihr saht so ernst aus."
Len seufzt, während er die Adresse meines Elternhauses in das Navi eintippt.
Kurz befürchte ich, dass er sich nicht auf diesen Themenwechsel einlässt, aber schließlich antwortet er mir: „Wir haben über Devin und die Dead Devils gesprochen."
Eine eisige Gänsehaut fegt wie ein Wirbelsturm über mein Rückgrat.
„Sie alle werden früher oder später von der Polizei gesucht und verhaftet werden", spricht Len emotionslos weiter. „Wir haben uns darauf geeinigt, nicht auszusagen, falls es dazu kommen sollte. Ich weiß, dass du das nicht verstehst, aber Devin ist unser Bruder und seinen Bruder verrät man nun mal nicht."
Es bedarf nur wenigen Worten und schon schlägt die Stimmung im Auto um. Ich spüre, wie ich wütend werde und Len am liebsten einer Hirnwäsche unterziehen würde.
Wann zum Teufel begreift er endlich, dass Devin ein schlechter Mensch ist? Wenn das so weitergeht, wird er sich nie von ihm loslösen können.
Eigentlich möchte ich Len erneut meine Meinung zum Thema Devin mitteilen, aber letztendlich schlucke ich all meine hasstriefenden Worte hinunter. Gerade ist nicht der richtige Zeitpunkt zum Diskutieren oder schlimmstenfalls zum Streiten.
Ich muss mich mental auf das Wiedersehen mit meinen Erzeugern vorbereiten. Das ist schon nervenzerreißend genug.
Auf der restlichen Autofahrt hören wir Musik. Zwischenzeitlich versucht Len die Stimmung etwas anzuheben, indem er sich über die Radiomoderatoren lustig macht, doch meine Nervosität bleibt weiterhin auf ihrem höchsten Punkt.
Jetzt, wo ich genauer darüber nachdenke, wäre das Date mit Alex im Gegensatz zu dem Wiedersehen mit meinen Erzeugern vermutlich das kleinere Übel gewesen. Schade, dass ich mich nicht mehr für den neuen Porsche mit den 510 PS umentscheiden kann ...
Je näher wir meinem Elternhaus kommen, umso kräftiger schlägt mein Herz. Übelkeit macht sich in meinem Körper breit und vermischt sich mit dem Schwindel zu einer Einheit des Grauens.
Ich möchte wieder nach Black County umkehren. Möglichst weit weg von dem Ort, der tiefe Einschnitte auf meiner Seele hinterlassen hat.
„Ist alles okay, Piper?", erkundigt sich Len besorgt bei mir, als wir an dem Spielplatz vorbeifahren, auf dem ich viel Zeit mit Dove und später auch mit Heather verbracht habe. „Du bist so ruhig."
Mehr als ein schwaches Kopfschütteln bringe ich nicht zustande.
Bei jedem anderen Menschen hätte ich bezüglich meines Wohlbefindens gelogen, doch bei Len bin ich mir sicher, dass er mich und mein Gefühlschaos auffangen kann.
Len ist halt besonders für mich.
„Es ist okay, Angst zu haben", wispert der Shadow nach einer kurzen Weile des Schweigens. „Ich kann verstehen, dass du deine Erzeuger nicht wiedersehen möchtest. Sie haben dir und Heather viele schlimme Dinge angetan. Es zeugt von Mut und Stärke, dass du dich trotzdem traust, dich deiner Angst zu stellen."
Im Einklang mit seinen Worten bringt Len das Auto zum Stehen. Direkt gegenüber von meinem Elternhaus.
Ohne es kontrollieren zu können, flammen lodernde Tränen in meinen Augen auf.
Nichts hat sich hier verändert. Absolut gar nichts.
Im Vorgarten blühen bunte Blumen, Solarleuchten erhellen den Einbruch der Dunkelheit und der Springbrunnen, an dem ich als Kind stundenlang die Vögel beim Trinken beobachtet habe, plätschert leise vor sich hin.
Ein Weg aus hellen Steinplatten führt zwischen zwei Blumenbeeten zu der Haustür. Auch die beiden Löwenskulpturen, vor denen Heather damals Angst hatte, flankieren unverändert den Eingang.
Das Haus, in dem ich als Kind gelebt habe, ist recht klein. Die Fassade ist weiß und wird an der rechten Seite von Efeuranken geschmückt. Die schwarzen Fensterrahmen bilden einen starken Kontrast zu der hellen Putzverkleidung.
Als kleines Mädchen habe ich mein Zuhause geliebt, doch jetzt gerade ruft der Anblick dieses Hauses bloß eine einzige Emotion in meinem Inneren hervor: Wut.
Ich sehe Bilder von meinen Erzeugern. Bilder von einem kalten Winterabend. Bilder von Heather und mir. Bilder von einer Parkbank.
Bilder von meinem persönlichen Untergang.
Ich spüre, wie die Tränen des Zorns unaufhaltsam über meine Wangen strömen. Mein Körper bebt währenddessen und mein Herz schreit vor Verzweiflung.
Wieder hier zu sein, fühlt sich tausendmal schlimmer an, als erwartet. Es ist, als würde man mich in einen Benzinkanister werfen und danach anzünden.
Ganz langsam schaffe ich es, meinen Blick von dem Haus zu lösen und auf Len zu richten. Mit gefurchter Stirn sitzt er neben mir und schaut mich besorgt an.
„Ich bin für dich da, okay?", haucht er so leise, dass sich seine Worte nach wenigen Sekunden im Auto verlieren. „Du bist der stärkste Mensch, der mir jemals begegnet ist, Piper. Ich bewundere dich! Deine Stärke, deinen Mut, deine Loyalität ... Vor allem aber bewundere ich dich dafür, dass du nicht aufgibst. Du kämpfst! Jeden einzelnen Tag! Und genau deshalb wirst du auch am Ende für deine Anstrengungen belohnt werden."
Len kommt mir näher. Sein heißer Atem kriecht schauernd über meine Lippen, während er mir die Tränen von den Wangen wischt.
„Du bist ein sehr besonderer Mensch für mich. Ich hätte nicht gedacht, jemals darum flehen zu müssen, aber bitte bleib für immer bei mir, ja?"
Tränen funkeln wie winzige Kristalle in Lens verschiedenfarbigen Augen. Da toben gerade so viele verschiedene Emotionen in seinem Blick, dass mir schwindelig wird.
Alles, woran ich noch denken kann, sind die Schmetterlinge in meinem Bauch, die Salti schlagen und aufgeregt hin und her flattern.
Len ist aktuell der einzige Mensch, der mich versteht. Ihm habe ich zu verdanken, dass ich Heather noch nicht aufgegeben habe.
So jemanden wie Len werde ich nie wieder finden. Besser also, ich lasse ihn nicht mehr los.
Ohne großartig darüber nachzudenken, was ich hier gerade tue, überbrücke ich den letzten Abstand zwischen Len und mir und verbinde unsere Lippen zu einem gefühlvollen Kuss.
In dem Moment, in dem ich Lens weiche Lippen zum ersten Mal spüre, explodiert ein Feuerwerk aus Glücksschmetterlingen in meinem Magen. Mein ganzer Körper beginnt zu kribbeln und fühlt sich auf einmal schwerelos an.
Während ich meine Hände in Lens Nacken verknote, streichelt er zärtlich über meine Wangen.
Wie zwei Magnete, die sich gegenseitig anziehen, liebkosen sich unsere Lippen.
Der Kuss ist langsam und sanft. Keine Hektik, kein Drängen und keine Forderungen. Nur Zärtlichkeit und Dankbarkeit.
Vielleicht ist es noch ein bisschen zu früh und zu überstürzt, doch mein Kopf versteht endlich das, was mein Herz schon seit ein paar Tagen weiß: Ich bin in Len Forster verliebt.
In einen Mann, der zerbrochen ist. Genauso wie ich.
Was das Gute daran ist? Wir können uns gegenseitig ergänzen und uns somit am Leben erhalten.
Begleitet von einem glücklichen Strahlen lasse ich von Lens Lippen ab. Ich schaue ihm tief in die Augen, ehe ich ehrlich sage: „Danke. Für alles!"
Dann steige ich aus dem Auto und stelle mich endlich meiner größten Angst.
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