1
Mir rann der Schweiß über die Stirn. Ich lag bäuchlings auf dem Boden, während ich mit dem Fernglas meine Umgebung absuchte. Meine Haare hatte ich nur nachlässig zusammengebunden, weswegen sich bereits vereinzelt Strähnen gelöst hatten, die nun feucht auf meiner erhitzten Haut klebten. Mein Äußeres war im Moment jedoch zweitrangig, nicht nur angesichts unserer Aussicht. Der Anblick meiner Heimatstadt Los Angeles faszinierte mich immer wieder aufs Neue. Die Sicht aus den Hollywood Hills war gleichermaßen phänomenal wie angsteinflößend. Phänomenal, weil ich noch nie hier oben gewesen war und die Stadt wie ein Spielzeugdorf vor uns lag, angsteinflößend, weil die Stille geradezu gespenstisch wirkte. Der Straßenlärm, die Fabriken - alles war verstummt. Es schien, als wären alle Menschen verschwunden. Nur ein paar Tiere, die durch die Vegetation streiften, konnte ich aus dieser Entfernung durch das Fernglas ausmachen. Sicherlich waren es noch mehr, jetzt, wo sich die Natur ihre Gebiete zurückgeholt hatte. Wir hatten dieses Schauspiel schon häufig beobachtet, doch ich konnte mich an den Anblick einfach nicht gewöhnen - es war nichts mehr, wie es vorher war. Kaum zwei Jahre nach dem Ausbruch der verhängnisvollen Krankheit dominierte fast überall die Natur wieder den Planeten. Tief in meinem Inneren hatte ich wohl immer gehofft, dass es hier in meiner Heimatstadt anders gekommen war. Der Gedanke daran, dass selbst die einst so pulsierende Metropole Los Angeles von der Seuche nicht verschont geblieben war und nur noch als leere Hülle dalag, stellte mir trotz der tropischen Temperaturen die Nackenhaare auf und hinterließ eine Gänsehaut. Bevor ich mich weiter in Überlegungen verlieren konnte, fiel meine Aufmerksamkeit auf meinen Begleiter, der sich neben mir regte.
»Was meinst du, Sam? Wo sollen wir es zuerst versuchen?«, erklang Davids tiefe Stimme. »Wie wäre es mit einem Spa?«, schlug er vor und ich konnte sein Grinsen wahrnehmen, ohne ihn anzusehen. »Ein ordentliches Entspannungsbad würde uns richtig guttun, findest du nicht?«
David war groß gewachsen, hatte eine sportliche Figur und haselnussbraune Augen mit dem passenden Lächeln eines Filmstars. Divaverhalten inklusive.
»Das Chlor da drin ist seit mindestens anderthalb Jahren abgelaufen. Du würdest also in schimmeligem Wasser baden. Lecker.«
»Ja, ist ja gut. Dann nicht. Also? Wohin dann?«
Ich zuckte mit den Schultern, wandte mich ihm aber zu. Wir wussten, dass unser Auftrag mehrere Tage, wenn nicht sogar Wochen, in Anspruch nehmen würde. Es war also egal, wo wir anfingen, obwohl die Suche nach einem passenden Unterschlupf erstmal Priorität hatte. Um David bei Laune zu halten, sollten wir allerdings beizeiten eine etwas Zahnpasta finden. Er war ein wahrer Fan von jeder Art von Luxus. Hätte er nicht so einen ausgezeichneten Orientierungssinn, wäre es mir lieber gewesen, wenn mich jemand anderes begleitet hätte. Bester Freund hin oder her.
Der junge Mann schob sich zurück zum Fuße des kleinen Hügels. Ich beobachtete ihn dabei, wie er sich seine braunen Haare aus dem Gesicht strich und die Wasserflasche an die rissigen Lippen legte. Er trank hastig ein paar Schlucke, bevor er wieder zu sprechen begann.
»Wenn es dir egal ist, würde ich vorschlagen, dass wir uns einfach Stück für Stück vorarbeiten.«
Ich lächelte. So war es fast immer bei uns. Trotz der Unterschiede wussten wir immer, was in dem jeweils anderen vorging. Ein weiterer Grund, weswegen wir regelmäßig gemeinsam auf Erkundungstouren geschickt wurden - und warum David mein bester Freund geworden war, obwohl ich ihn erst seit etwa einem Jahr kannte.
»Gut, aber vergiss nicht die durchsuchten Gebiete auf der Karte zu markieren. Nicht dass wir irgendwo zweimal langlaufen«, erinnerte ich ihn.
»Das passiert dir vielleicht, trotz Karte, aber nicht mir. Deswegen kann man dich ja auch nicht allein lassen.« Er zwinkerte mir zu.
Der erste Teil unserer Mission lautete, die Stadt nach einem geeigneten, dauerhaften Lager zu durchsuchen. Der zweite Teil bestand darin, nach anderen Gruppen wie der unseren Ausschau zu halten. Ich krabbelte den Hügel hinunter, verstaute das Fernglas in meinem Rucksack, nahm ebenfalls einen Schluck Wasser aus der Flasche und stand auf. Ich klopfte mir den Sand von der Hose und beeilte mich David zu folgen, der sich schon einen Weg durch das Gestrüpp den Berg hinunter bahnte.
Obwohl die Stadt verlassen wirkte, beschlich mich ein ungutes Gefühl. Sie war einfach zu groß und die Wahrscheinlichkeit, dass sie unbewohnt war, ging gegen Null. Durch den Zusammenbruch der Zivilisation gab es keine offiziellen Zahlen, die besagten, wie viele Menschen die Epidemie tatsächlich überlebt hatten. Das wahre Ausmaß der Katastrophe war deswegen nur schwer einzuschätzen, jedoch waren die meisten Städte auf unserem Weg verlassen gewesen. Einige wenige Dörfer wurden von ihren Bewohnern besetzt und bis aufs Blut verteidigt. Dort war man Fremden gegenüber nicht sehr aufgeschlossen. Zu groß war die Angst, dass jemand den Virus in sich trug und alle anderen infizierte. Wenn eine kleine Dorfgemeinschaft schon so aggressiv war, wie würde es dann erst in einer großen Stadt wie L.A. sein, in der es schon früher Gangs und Kriminalität im Überfluss gegeben hatte?
Doch obwohl eines dieser verlassenen Dörfer genug Platz für uns alle bieten würde, konnten wir dort nie für längere Zeit bleiben. Meist gab es nicht genug Ressourcen, die Gebäude waren zu heruntergekommen oder der Ort ließ sich aufgrund seiner geografischen Lage zu schlecht verteidigen. Für die Nahrungsmittelversorgung waren weite Felder sinnvoll, für die Verteidigung eher weniger. Wir hatten es ein paar Mal versucht und uns in einem verlassenen Dorf niedergelassen, aber das war nie gut ausgegangen. Beim letzten Mal wurden wir überfallen und verloren neben den letzten Habseligkeiten auch die Hälfte unserer Gruppe.
Also hatten wir notgedrungen beschlossen, es in einer der größeren Städte zu versuchen.
Dass die anderen meinem Vorschlag zugestimmt hatten, konnte ich immer noch nicht wirklich glauben. Immerhin war L.A. am weitesten von unserem damaligen Standort entfernt gewesen. Aber jetzt waren wir hier.
Und mit etwas Glück würde ich meinen Vater wiederfinden.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro