
Erstes Türchen🕯
Das alte, dreckige Buch mit dem kaputten Buchrücken lag aufgeschlagen auf Kuchels Schoß. Die Illustration auf der aufgeschlagenen Seite zeigte eine Winterlandschaft. Der Boden war weiß, das Bild wirkte recht hell und dennoch wirkte es dem Mädchen so fremd. „Kenny? Sieht Schnee wirklich so aus?“, fragte sie ihren älteren Bruder, der neben ihr saß und dem alten Buch bis jetzt noch keine Beachtung geschenkt hatte. „Kann sein? Hab Schnee noch nie gesehen, aber wenn der da so abgebildet ist, wird es schon stimmen“, meinte er schulterzuckend. Die Schwarzhaarige sah ihren Bruder verblüfft an. Er war doch schon 12 und hatte trotzdem noch nie Schnee gesehen? „Ich möchte wissen wie Schnee wirklich aussieht. Ich möchte ihn fühlen und ganz sicher gehen, dass er auch wirklich so aussieht, wie er hier abgebildet wurde. Können wir nicht mal an die Oberfläche gehen, wenn es schneit?“, fragte sie mit großen Augen, doch ihr Bruder zog sich einfach nur seinen großen Hut ins Gesicht und schüttelte den Kopf. „Untergrund Ratten wie wir sind da oben nicht erwünscht. Gib dich mit dem Buch zufrieden.“, murmelte er noch und gähnte laut. „Nicht schlafen, Kenny! Ich will den Schnee sehen!“, protestierte die Schwarzhaarige, doch da hörte sie schon lautes Schnarchen aus der Richtung des Älteren. „Kein Mensch schläft so schnell ein. Du tust nur so“, murmelte sie, legte das Buch weg und stand auf. Wenn Kenny ihr nicht helfen würde, würde sie sich halt selbst ihren Wunsch erfüllen.
Mit eiserner entschlossenheit ging Kuchel durch den Untergrund, ihr Ziel klar vor Augen. Ja, ihr war etwas mulmig zumute bei dem Gedanken zum ersten mal und dann auch noch alleine die Welt am Tageslicht zu erkunden, aber aufhalten konnte sie nun niemand mehr. Schließlich stand sie am Fuße der Treppe. Die Treppe die nach oben in die Freiheit führte. Nur ein paar Schritte und sie wäre oben. Vorsichtig setzte das Mädchen einen Fuß vor dem anderen. Sie schirmte ihre Augen mit der Hand ab, als ihr die Sonne schließlich auf die blasse Haut strahlte. „Das ist also das Tageslicht“, murmelte sie. Kaum hatte Kuchel den Untergrund mit beiden Füßen verlassen, merte sie, dass die Natur auch ihre Schattenseiten hatte. Obwohl es hell war, wehte ein kalter Wind durch die Straßen und ließ die Schwarzhaarige erschaudern. Ein kurzärmliges Oberteil und ein Knielanger Rock aus dünnen Stoff war alles was sie an hatte. Sie überlegte kurz wieder umzukehren, weigerte sich dann aber. Sie hatte sich nicht so weit vorgewagt, nur um gleich wieder zu gehen. „Guck mal. Eine von den Ratten ist aus ihrem Loch gekrochen!“, hörte sie plötzlich jemanden sagen. Zwei Männer in komischen Uniformen und Lederriemen am ganzen Körper standen nicht weit von ihr entfernt und lachten. „Hey, Kleine! Sieh zu, dass du wieder nach unten kommst!“, rief ihr einer der beiden zu, doch Kuchel dachte gar nicht daran und blieb einfach stur an Ort und Stelle stehen. „Bist du taub?! Ab nach unten hab ich gesagt!“, schrie der Mann sie an. „Ich will nicht wieder nach unten“, protestierte sie, „zuerst will ich den Schnee sehen!“ Die beiden Männer sahen sich ratlos an. Einer räusperte sich und meinte schon wesentlich ruhiger: „Wir haben mitte März. Die Wahrscheinlichkeit, dass es schneien wird, ist sehr gering, Kleine.“ „Oh, na wenn das so ist“, meinte Kuchel und ging einen Schritt auf die Treppe zu. Die Männer, davon überzeugt, dass das Kind die Treppe hinunter steigen würden, wandten sich wieder ab, doch da nutze Kuchel die Gelegenheit und rannte weg. So schnell wie es ihr überhaupt möglich war rannte sie über den Asphalt. Erst als sie relativ weit von der Treppe und den beiden Männern entfernt war, blieb sie völlig außer Atem stehen und sah sich um. Sie war umgeben von wunderschönen und großen Häusern. Nicht die Heruntergekommenen Bruchbuden die sie aus dem Untergrund kannte, sondern richtig schöne Häusern mit traumhaften Fassaden. So würde Kuchel es jedenfalls beschreiben.
Das Mädchen war so in Gedanken vertieft, dass sie die Rufe zu spät hörte: „Vorsichtig! Geh zur Seite!“ Bevor sie überhaupt reagieren konnte, traf sie ein harter Gegenstand am Hinterkopf. Sie taumelte leicht nach vorne, konnte sich aber gerade noch halten. „Das tut mir so leid! Bist du verletzt?“, hörte sie jemanden sagen. Die Schwarzhaarige drehte sich um und sah eine Bündel aus zusammengeschnürten Lumpen vor ihren Füßen liegen. Das Bündel hatte irgendwie die Form einer Kugel. Ein Mädchen, das vielleicht etwas jünger war als sie, kam auf sie zugelaufen und nahm das Bündel an sich. „Sorry noch mal“, sagte das andere Mädchen und strich sich durch ihre braunen Haare. „Ach, alles gut, aber warum wirfst du mit Lumpen um dich“, erkundigte Kuchel sie. Ihr Gegenüber kicherte. „Das ist ein Ball, du Dummerchen.“ Kuchel wurde etwas rot vor Scharm bei dem Spitznamen. Kenny nannte sie öfters so, auch wenn sie versuchte es zu ignorieren. „Ich bin Liv. Und du?“, erkundigte die Brünette sich und ein einfaches und leises „Kuchel“ war, was sie als Antwort bekam. „Das ist ja ein merkwürdiger Name. Wo kommst du her, Kuchel?“ Die Schwarzhaarige schwieg, das sie nicht wusste, wie sie darauf antworten sollte. Die Wahrheit kam gar nicht in Frage. Kenny hatte ihr bereits gesagt, dass an der Oberfläche nicht erwünscht waren und die beiden Männer von vorhin haben das nur bestätigt. „Ich will den Schnee sehen“, war also alles was sie sagte. Liv legte verwirrt den Kopf schief und musterte Kuchel von oben nach unten. „Erstens habe ich dich das nicht gefragt und zweitens hat mein Papa gesagt, dass es zu dieser Jahreszeit nur selten schneit. Aber wenn du willst, kann ich dir was anderes zeigen“, sagte Liv mit einen verschwörerischen Unterton. Die Schwarzhaarige nickte neugierig und lief kurz darauf hinter Liv her. Sie ließen die großen Häuser mit den schönen Fassaden hinter sich und waren schon bald nur noch von der Natur umgeben. In der Ferne konnte Kuchel eine große Mauer sehen, die das gesamte Land zu umschließen schien. Sie hätte ihre neue Freundin gerne gefragt was es damit auf sich hat, doch Liv war zielstrebig auf einen großen Baum zugegangen. Die Blätter an den Ästen waren komischerweise weiß. So weiß wie der Schnee in Kuchels Buch. „Was ist das für ein Baum?“, fragte sie neugierig. „Sag bloß du hast noch nie einen Kirschbaum gesehen“, entgegnete Liv verwirrt. Kuchel Kopfschütteln quittierte sie mit einen Stirnrunzeln. „Du bist echt merkwürdig. Man könnte meinen, dass du das erste mal an der frischen Luft bist. Na ja, komm her und hilf mir!“ Kaum hatte die Brünette das letzte Wort ausgesprochen, legte sie die Arme um den Baumstamm und fing an ihn zu schütteln. Das andere Mädchen war leicht verwirrt, half ihrer Freundin aber dabei und innerhalb von kürzester Zeit fielen die weißen Blüten vom Baum auf sie herab. Einige verfingen sich in den Haaren und der Kleidung der Mädchen. „Wow“, war alles was Kuchel sagen konnte. Die herabfallenden Blüten sahen aus wie die Schneeflocken auf der Illustration. „Schön, nicht? Ich nenne das den Frühlingsschnee“, erklärte Liv stolz. Kuchel lächelte zufrieden. Sie hatte zwar keinen echten Schnee gesehen, aber das war mindestens genauso schön.
Mit überraschend guter Laune stieg Kuchel die Treppe in den Untergrund hinab und mit überraschent guter Laune setzte sie sich auch wieder, Zuhause angekommen, neben ihren Bruder, der von der Abwesenheit seiner Schwester gar nichts bemerkt hatte, weil er noch am schlafen war. Die Schwarzhaarige kicherte vergnügt, bevor sie Kenny mit einer alten Decke zudeckte und sich selbst schlafen legte.
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